"Praktische Dekolonisierung"

Ein Befreiungsakt für die Erinnerung

04:11 Minuten
Ein Mann arbeitet mit einem Heißwasser-Hochdruckreinigungsgerät am Kopf des Bismarck-Denkmals.
Einmal kräftig durchpusten bitte: Noch wird das große Bismarck-Denkmal in Hamburg gereinigt und saniert. Was aber, wenn Monika Grütters dessen Demontage fordern würde? © picture alliance/dpa/Christian Charisius/
Ein satirisches Gedankenspiel von Tillmann Bendikowski · 12.08.2020
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Die Forderungen, Relikte der Kolonialzeit aus der Öffentlichkeit zu entfernen, häufen sich. Mit ihnen verschwänden allerdings auch unbequeme Fragen nach der Verantwortung aus der Geschichte, sagt der Historiker Tillmann Bendikowski.
Endlich mal wieder eine gute Idee aus dem Kulturstaatsministerium: Um den sozialen Druck einer durch Corona-Beschränkungen zur Hysterie neigenden Protestbewegung zu kanalisieren, hat Monika Grütters ein Programm mit dem Titel "Praktische Dekolonisierung des öffentlichen Raums in Deutschland" aufgelegt. Ein hoher Millionenbetrag wird noch 2020 für die erste Phase freigegeben, in der zunächst exemplarisch alle Bismarck-Denkmäler im Land registriert und anschließend abgebaut werden.
Das wäre fraglos Vergangenheitsbewältigung auf Weltniveau.

Hoffnung für Künstler und Kulturverwalter

Das Vorhaben der "Praktischen Dekolonisierung" dient aber nicht nur der Hygiene der kollektiven Erinnerung. Vielmehr gehen von dem Programm zwei wichtige Impulse zur Vitalisierung des Kulturlebens aus: Zum einen werden bei der Katalogisierung und dem geordneten Rückbau der Denkmäler bevorzugt Soloselbständige aus Kunst und Kultur beschäftigt, die aktuell finanzielle Not leiden. Die alte volkspädagogische Vision von den "Kulturschaffenden in der Produktion" erführe hier endlich ihre von vielen nur noch verschämt geforderte Realisierung.
Zum anderen dient dieses Programm in hohem Maße der in die Sinnkrise geratenen Kulturstiftung Preußischer Kulturbesitz: Denn sie wird zentrale Anlaufstelle für alle Bismarck-Denkmäler. Ganz im Sinne der jüngst vorgelegten Strukturempfehlungen des Wissenschaftsrates beschert die "praktische Dekolonisierung" der Kulturstiftung nicht nur eine sinnvolle Fortsetzung ihrer Arbeit am preußischen Erbe, sondern erschließt ihr ein neues und womöglich finanziell lukratives Arbeitsfeld.
Bis zum Jahr 2022 rechnet das Kulturstaatsministerium immerhin mit bis zu 150 Bismarck-Denkmälern und ersten demontierten Bismarck-Türmen, zu denen sich im Laufe der Jahre schließlich Bismarck-Büsten und -Bilder aus stattlichen wie privaten Sammlungen gesellen sollen. Nur Kleingeister schreckten während der Planungen vor der Dimension dieses Vorhabens zurück – das Haus Hohenzollern scheint in diesem Zusammenhang vorsichtshalber niemand angesprochen zu haben.

Endlager kontaminierter Geschichte

Anfang der Woche hat die Kulturstiftung Preußischer Kulturbesitz ein bisher nicht näher bezeichnetes ehemaliges Rittergut in Ostelbien erworben. In der beruhigenden Weite Vorpommerns soll aber keineswegs ein Endlager kontaminierter Geschichte entstehen, sondern langfristig wohl ein nationaler Erinnerungspark für die ganze Familie. Damit, und das überzeugte auch den zunächst wohl zögerlichen SPD-Koalitionspartner in Berlin, wäre mittelfristig eine Refinanzierung des Programms möglich.
Zugleich prüfen einige Landeszentralen für politische Bildung, inwieweit ehemalige und aktive AfD-Mitglieder mittels einer behutsamen, museumpädagogisch begleiteten Begegnung mit dem historischen Machtmenschen politisch resozialisiert werden können.

Opa war kein Bismarck

Dieses Dekolonisierungsprojekt hat zudem den Vorteil, dass an den bisherigen Bismarck-Standorten lästige Diskussionen fortan entfallen.
Wie eben in Hamburg, wo das größte seiner Art steht. Wenn der 34 Meter hohe Koloss endlich weg ist, braucht sich niemand mehr fragen, weshalb so viele vornehme Hamburger Kaufleute so glühende Anhänger der Kolonialbewegung waren, während ausgerechnet Bismarck noch zögerte. Niemand wird dann mit der Frage belästigt, warum das unterm Strich finanziell defizitäre Projekt der deutschen Kolonien zumindest einigen ehrwürdigen Hanseaten satte Gewinne einbrachte – dreckiges Geld, das das vornehme Hamburg gerne nahm. Und niemand wird fragen, warum die übergroße Mehrheit der Deutschen bis 1914 – und viele darüber hinaus – total begeistert war von ihrer Herrschaft über alles Mögliche in der Welt.
Das ist das Schöne an dem Programm der "Praktischen Dekolonisierung": Mit den Denkmälern verschwinden die Fragen, das Wissen und glücklicherweise auch die Schuld. "Wir sind’s nicht gewesen", "Opa war kein Nazi" – und selbstverständlich: "Opa war kein Bismarck".

Tillmann Bendikowski, geboren 1965, ist Historiker und Journalist. Er leitet die Medienagentur Geschichte in Hamburg und verfasst Beiträge für Printmedien und Hörfunk und betreut die wissenschaftliche Realisierung von Forschungsprojekten und historischen Ausstellungen. 2016 veröffentlichte er ein Buch über "Helfen. Warum wir für andere da sind".

© picture alliance/dpa/Jens Kalaene
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