Hiromi Itō: "Dornauszieher. Der fabelhafte Jizō von Sugamo"
Aus dem Japanischen von Irmela Hijiya-Kirschnereit
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2021
336 Seiten, 22 Euro
Preis der Leipziger Buchmesse 2022
Die in diesem Jahr nominierten Übersetzungen zeichnen sich durch Sprachbeherrschung und Formwillen aus. © Getty Images /iStockphoto / TarikVision
Bühne frei für die nominierten Übersetzer!
Die Frühjahrsbuchmesse ist abgesagt, ihre Preise aber werden verliehen – auch der angesehene „Preis der Leipziger Buchmesse“ für Bücher aus den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Wir stellen die nominierten Übersetzer vor.
Aus nicht weniger als 441 Büchern, erschienen in 169 Verlagen, hat die Jury des "Preises der Leipziger Buchmesse" fünfzehn Finalisten ausgewählt, je fünf aus Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung.
Außergewöhnliche Sprachkunst
"Die nominierten literarischen Werke zeichnen sich durch ihre außergewöhnliche Sprachkunst aus, die überhaupt erst eine Auseinandersetzung mit ihren Themen ermöglicht", begründete die Sprecherin Insa Wilke die Auswahl.
„Auch im Sachbuch hat uns die mitreißende Intensität überzeugt, mit der die Autor:innen sich mit völlig unterschiedlichen rhetorischen Ansätzen ihren Fragestellungen widmen." Für die Übersetzer muss man hinzufügen: Auch ihre Bücher zeigen ein ungewöhnliches Maß an Sprachbeherrschung und Formwillen.
Maike Albath und Jörg Plath stellten am 8. März im Literarischen Colloquium Berlin am Wannsee die fünf Übersetzerinnen und Übersetzer mit den von ihnen übertragenen Büchern in Gespräch und Lesung vor.
Die Nominierten
Eine Japanerin namens Hiromi Itō wird von gegensätzlichen Ansprüchen beinahe zerrissen. In Kalifornien lebt der kränkelnde, dreißig Jahre ältere Ehemann, ein britisch-jüdischer Künstler, und die drei Töchter mit Essstörungen und Pubertätssorgen, während die Eltern alt werden und ernsthaft erkranken. Weil die Protagonistin, eine berühmte Dichterin, mit ihrer Familie in Kalifornien lebt, die Eltern aber in Japan geblieben sind, reist sie zudem hin und her.
Energisch, mitreißend, wenn es nottut auch drastisch und ohne jede Scheu erzählt Hiromi Itō in „Dornauszieher“ vom Alltag einer Frau, die sich müht, ihre Rollen als Tochter, Ehefrau, Mutter und Intellektuelle zwischen den Kulturen und Generationen, zwischen dem vertrauten Gestern und dem lebendigen Heute auszubalancieren – was ihr dank eines erheblichen Stil- und Formwillens und der Kenntnis unterschiedlichster kultureller Traditionen und Literaturen auch gelingt.
Irmela Hijiya-Kirschnereit, 1948 geborene Japanologin, publiziert über die Literatur und Kultur Japans auf Deutsch, Englisch und Japanisch. Sie gab die 34-bändige „Japanische Bibliothek“ im Insel Verlag heraus und übersetzte unter anderem Enchi Fumiko, Nosaka Akiyuki, Ōba Minako, Ōe Kenzaburō. Bereits 1993 übertrug sie Hiromi Itōs Gedichtband „Mutter töten“.
Als Marcel Proust „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und James Joyce „Ulysses“ schrieb, entstand auch in Finnland ein epochales Werk: Volter Kilpis Prosa-Epos „Im Saal von Alastalo“. Gutsherr Alastalo lädt die wichtigsten Männer der Schärengemeinde ein, um sie vom gemeinsamen Bau einer Dreimastbark zu überzeugen.
Während mit Hingabe Pfeife geraucht und Grog getrunken wird, umkreisen die verschiedenen Lager einander listig, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Kilpis Opus magnum spielt an einem einzigen Nachmittag und ist eine großartige Charakterstudie der Menschen, die den Kosmos der finnischen Schären im 19. Jahrhundert bevölkerten.
Stefan Moster, geboren 1964, ist Autor und Übersetzer. Er unterrichtete an den Universitäten München und Helsinki. 2001 erhielt er den Staatlichen finnischen Übersetzerpreis. Er übertrug unter anderem Werke von Petri Tamminen, Rosa Liksom, Selja Ahava und Daniel Katz aus dem Finnischen ins Deutsche. Im mareverlag erschienen bisher fünf Romane von ihm, zuletzt „Alleingang“ (2019), ausgezeichnet mit dem Martha-Saalfeld-Preis.
Volter Kilpi: "Im Saal von Alastalo. Eine Schilderung aus den Schären"
Aus dem Finnischen von Stefan Moster
mareverlag, Hamburg 2021
1136 Seiten, 68 Euro
Auf einer Eisenbahnfahrt durch die weite Steppe Kasachstans begegnet ein Reisender Erjan, dem Wunderkind. Der Knabe spielt so virtuos auf seiner Violine, dass nicht nur dem Erzähler Hören und Sagen vergeht.
Die Musik bleibt nicht das einzige Wunder. Denn der Junge, der aussieht wie zehn oder zwölf, ist ein Mann von 27 Jahren. Er wuchs nicht mehr, seit er als Kind allen Warnungen zum Trotz in einen nuklear verseuchten See tauchte.
Erjan erzählt die Geschichte seines Lebens und seiner Liebe zu Aysuli, der Nachbarstochter, die bald unerreichbar groß wird. Beide leben in der kasachischen Steppe, die immer wieder von rätselhaften Explosionen erschüttert wird. In unmittelbarer Nähe befindet sich das riesige atomare Versuchsgelände der Sowjetunion, über das sie nichts wissen. Liebe und Tod, eine sehr kleine, anachronistische bäuerliche Welt in der Steppe und eine sehr große Welt, die des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und den USA, Archaik und Spätmoder – „Wunderkind Erjan“ ist eine trocken und mit Witz erzählte Parabel.
Andreas Tretner, 1959 in Gera geboren, übersetzt aus dem Russischen, Bulgarischen und Tschechischen, unter anderem die Bücher von Michail Schischkin, Vladimir Sorokin und Viktor Pelewin. Er wurde mit dem Paul-Celan-Preis und dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet. „Wunderkind Erjan“ ist die erste Übersetzung Ismailovs ins Deutsche.
Hamid Ismailov: "Wunderkind Erjan"
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
Friedenauer Presse, Berlin 2022
152 Seiten, 20 Euro
„Mein kleines Prachttier“ ist die Geschichte eines fast 50-jährigen Tiermediziners und seiner "Auserwählten" – der jungen Tochter eines Bauern, auf dessen Hof der Arzt die Kühe behandelt. Eines Sommers finden die beiden zueinander.
Er will sich von einem Trauma und seiner Einsamkeit befreien, indem er einer fatalen Obsession folgt; sie will der Enge der Provinz entkommen und sucht Geborgenheit und ihren Platz im Leben. Unter seiner Regie erschaffen sie sich eine aufregende Fantasiewelt, in der sie sein kann, wer und was sie will, einen gemeinsamen Kosmos mit eigenen Ritualen und Gesetzen, der streng geheim gehalten werden muss.
Helga van Beuningen, geboren 1945 in Obergünzburg, studierte Englische und Niederländische Sprache in Heidelberg, wo sie anschließend 15 Jahre lang Niederländisch lehrte. Seit 1984 übersetzt sie unter anderem Bücher von Cees Nooteboom. Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW 2021.
Marieke Lucas Rijneveld: "Mein kleines Prachttier"
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
364 Seiten, 24 Euro
Nach dem Tod einer Freundin zieht sich eine Übersetzerin nach Dresden zurück, um dort an der Übertragung von Virginia Woolfs "To the lighthouse" ins Französische zu arbeiten. Aus der tastenden Annäherung an die fremde Sprache entsteht eine betörende Musik, und bei ihren nächtlichen Spaziergängen glaubt sie, der toten Freundin zu begegnen.
Ihre Einsamkeit weitet sich zu einem gewaltigen Echoraum, der von dem verfallenen Haus in Virginia Woolfs Roman über das einstmals zerstörte Dresden bis nach Tschernobyl und zur High Line reicht, einer ehemaligen New Yorker Industrieruine – Orte, die dem Verfall anheimgegeben sind und wieder aufleben. Anne Weber hat die dritte im Buch benutzte Sprache, das Deutsche, benutzt, um die Probleme und die Chancen des Übersetzens aus dem Englischen ins Französische zu zeigen.
Die Autorin und Übersetzerin Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, lebt in Paris. Sie übersetzt ins Deutsche (u.a. Pierre Michon, Marguerite Duras) und Französische (z. B. Sibylle Lewitscharoff und Wilhelm Genazino). Ihr Roman "Kirio" (S. Fischer) stand auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2017, für „Annette, ein Heldinnenepos“ (Matthes & Seitz Berlin) erhielt sie 2020 den Deutschen Buchpreis.
Cécile Wajsbrot: "Nevermore"
Aus dem Französischen von Anne Weber
Wallstein Verlag, Göttingen 2021
229 Seiten, 22 Euro
(pla)