René Aguigah ist Literaturredakteur im Deutschlandfunk Kultur.
Der deutschsprachige Literaturbetrieb ist weiß
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Ein offener Brief kritisiert, dass kein Buch einer nicht-weißen Person für den Leipziger Buchmessenpreis nominiert ist. Dieses Plädoyer für mehr Diversität trifft einen wunden Punkt des Literaturbetriebs, kommentiert René Aguigah.
Es ist ein paar Jahre her: ein Empfang in der Mitte Berlins und in der Mitte des deutschen Literaturbetriebs. Häppchen und Weißwein. Irgendwann schlenderte ich zu einer Gruppe, in deren Zentrum eine der großen Damen dieses Literaturbetriebs stand. Sie stellte mich mit den Worten vor: Es gebe im Literaturbetrieb zwei Schwarze, einer stehe politisch rechts und einer links. Was ich darauf gesagt habe, weiß ich nicht mehr.
Dass ich mich mit dieser Vorstellung unwohl fühlte, weiß ich, als wäre sie gestern gewesen. Vermutlich habe ich gedacht: Immerhin, sie hat mich nicht mit dem Kollegen verwechselt. Denn die Verwechslung von uns beiden – von zwei Kulturjournalisten, denen man ansieht, dass sie jeweils ein Elternteil aus Westafrika haben – war bei solchen Empfängen viele Jahre lang die Regel.
Eine neue Diskussion in Deutschland
Die kleine Erinnerung bezeugt jedenfalls eins: Der deutschsprachige Literaturbetrieb ist weiß. Die zwei Literaturredakteure – und sicher noch einige andere – sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Insofern geht der offene Brief, der seit einigen Tagen in der literaturinteressierten Öffentlichkeit kursiert, von einer unbestreitbaren Tatsache aus.
Anlass für den Brief ist die Liste von Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse: fünfzehn Romane, Sachbücher und Übersetzungen, denen in diesem Frühjahr besondere Aufmerksamkeit zuteil wird; fünfzehn Autorinnen und Autoren, von denen niemand nicht-weiß ist. Neu ist das nicht. Es ist mehr oder weniger wie immer.
Neu ist die Diskussion darüber, zumindest in Deutschland.
Auch dem offenen Brief kann man widersprechen
Der Brief bezeichnet es als "problematisch", dass keine "Schwarzen Autor:innen und Autor:innen Of Colour" auf der Liste vertreten sind. Auch im Literaturbetrieb gebe es "institutionelle Strukturen", die "nicht immer für alle wahrnehmbar sind, aber dennoch immer wirken". Strukturen, die nicht-weiße Schriftstellerinnen und Schriftsteller ausschlössen. Es folgen konkrete Vorschläge, die auf gezielte Förderung hinauslaufen: Stipendien etwa oder weniger homogen zusammengesetzte Literaturjurys.
Der Brief enthält ein paar Formulierungen, die zum Widerspruch reizen. Zum Beispiel müsste man darüber streiten, ob ausgerechnet literarische Lektüren "eine reale Welt abbilden" können, wie es an einer Stelle heißt. Aber insgesamt – wer wollte sich gegen den Grundimpuls dieses Schreibens ernsthaft wehren: den Befund vom Ausschluss nicht-weißer Stimmen, die Forderung, den Literaturbetrieb inklusiver zu gestalten?
Der Literaturbetrieb ist vergleichsweise homogen
Mehr literarische Stimmen von Nicht-Weißen garantieren nicht automatisch völlig andere Texte. Und erst recht garantieren sie nicht eine an sich bessere Literatur. Aber sie machen es wahrscheinlich, dass das literarische Angebot vielfältiger wird, dass es insofern besser in eine vielfältige Gegenwart passt.
Es ist ein paar Jahre her, da diskutierte der Betrieb darüber, ob es unter jungen Autorinnen und Autoren nicht zu viele Arztkinder gebe. Die Debatte war verwandt mit der von heute. Auch im Hinblick auf soziale Herkunft lässt sich der Literaturbetrieb als vergleichsweise homogen beschreiben.
Die Frage nach der Qualität - ein Trugbild
"Aber sollte die Identitätszuschreibung der Autoren eine Rolle spielen, wenn man über Literatur entscheidet", fragte die Berliner Zeitung, und weiter: Sollte es nicht um eine "rein professionelle, literaturkritische Entscheidung für die Bücher" gehen?
Als wären Diversität und Qualität Gegensätze! Sie sind es nicht.
Ohnehin, die reine Qualität mag es im Edelsteingewerbe geben – bei der Tätigkeit von Literaturjurys ist sie ein Trugbild. Das bedeutet nicht, dass Jurys unlauter arbeiten würden, sondern einfach, dass sie mitten in einem gesellschaftlichen Umfeld handeln.
Einflüsse auf die Jurys
Preisjurys hängen ab vom Angebot der Verlage, das seinerseits blinde Flecken hat. Und ihre Entscheidungen sind einer öffentlichen Diskussion ausgesetzt: Ist die Liste aktuell? Was für ein Spektrum an Themen und Erzählweisen bietet sie? Sind wie durch Zauberhand nur männliche Autoren dabei? Fehlen kleinere Verlage? Und inzwischen eben auch: Wie lässt sich eine weitere rein weiße Liste vermeiden?
Fragen wie diese wirken sich mittelbar, mittelfristig auch auf die Arbeit von Jurys aus. Vor zehn Jahren war in Leipzig unter den fünf nominierten Autoren in der Kategorie Belletristik eine Frau. Heute hat sich das Geschlechterverhältnis umgekehrt.
Anerkennung ist nicht selbstverständlich
Zum Schluss kurz eine zweite Geschichte aus meinem Arbeitsleben , ebenfalls ein paar Jahre her. Ich war damals Teil jener Jury, die über den Preis der Leipziger Buchmesse entscheidet. Die Erinnerung, die ich teilen möchte, handelt von der Preisverleihung.
Da hielt jedes Jurymitglied eine Lobrede auf die Ausgezeichneten, auch ich. Aber ich wette, ich war der Einzige, der nach der Verleihung eine Begegnung wie diese hatte: Ein Ehepaar aus dem Publikum kam auf mich zu und wunderte sich ausführlich darüber, wie flüssig und akzentfrei meine kleine Rede gewesen sei.
Ob das nett gemeint war, anerkennend? - Bestimmt.
Zugleich war es entlarvend: Man hätte mir, wie den anderen Jurymitgliedern, in dieser Rolle zumindest Grundkenntnisse in deutscher Sprache unterstellen können. Aber die Anerkennung von Menschen, die nicht so aussehen, wie die meisten Deutschen sich Deutsche vorstellen, ist offenbar nicht selbstverständlich – im Literaturbetrieb und anderswo.