Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol
Rowohlt, 368 Seiten, 19,95 Euro
"Wollte nichts mehr von meinen Eltern wissen"
Auf der Leipziger Buchmesse ist Natascha Wodin für ihren Roman "Sie kam aus Mariupol" ausgezeichnet worden, der von ihrer Mutter handelt. Diese überlebte die Zwangsarbeit im Deutschen Reich, nahm sich später aber das Leben. Erst spät begann die Autorin, sich damit zu befassen.
In dem autobiografischen Roman "Sie kam aus Mariupol" geht es um das Ausmaß der Zwangsarbeit im Deutschen Reich. Wodin erzählt darin die Geschichte ihrer Mutter, die vor dem Krieg in der östlichen Ukraine in der Hafenstadt Mariupol geboren wurde. Sie erlebte den Untergang ihrer Adelsfamilie im stalinistischen Terror und wurde 1944 von den Nazis als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt. Zwar überlebt sie diese, zerbrach aber später daran und brachte sich um, als Natascha Wodin noch ein junges Mädchen war. Erst nach ihrem 70. Geburtstag begann Natascha Wodin damit, sich intensiv mit dieser Familiengeschichte zu beschäftigen.
Kaum Informationen im Kalten Krieg
Schon vorher habe sie immer wieder versucht, Spuren über diese Geschichte zu finden. In der Zeit des Kalten Krieges war es aber schwer, Informationen zu erhalten, sagte Natascha Wodin im Deutschlandradio Kultur.
"Man kam in der Sowjetunion nirgends rein: in keine Behörde, in keine Archive, beim Deutschen Roten Kreuz fand ich auch nichts. Zuerst mal ist es überhaupt so gewesen, dass ich gar nichts von meinen Eltern wissen wollte. Ich war weg, und ich war heilfroh darüber. Ich wollte nicht mehr zu diesen Displaced Persons gehören. Ich war froh, dass dieses Kapitel in meinem Leben abgeschlossen war. Und irgendwann fing ich doch an, mich dafür zu interessieren, aber leider eben vergeblich. Ich habe nichts gefunden."
Suche begann auf russischer Internetseite
Die Recherche von Natascha Wodin begann damit, dass sie den Namen ihrer Mutter in eine Suchmaschine des russischen Internets eintippte. Sie hatte aber nicht daran geglaubt, dass sie dort Informationen über ihre Mutter finden würde. Selbst als sie das Geburtsjahr und den Geburtsort las, konnte sie nicht glauben, dass es sich um ihre Mutter handeln würde.
"Also, man muss sich mal vorstellen: eine junge bedeutungslose Frau, die vor 60 Jahren in Deutschland gestorben ist. Wie kommt die ins russische Internet? Das kann eigentlich nicht sein. Das Rätsel war, meine Mutter hatte einen sehr berühmten Onkel. Das war der erste russische Experimentalpsychologe und ein Philosoph. Und als seine Nichte fungierte sie in seiner Familie."
So konnte sie den ersten Faden aufnehmen und es sei "wundermäßig" weitergegangen, sagte Natascha Wodin.
Das Interview im Wortlaut:
Susanne Burkhardt: Seit heute Nachmittag wissen wir, wer die Buchpreisträger*innen der Leipziger Buchmesse in diesem Jahr sind. Drei Kategorien sind es immer, Belletristik, Sachbuch und Übersetzerpreis, zuletzt standen jeweils fünf Titel pro Kategorie zur Auswahl. Ich habe vor der Sendung nur kurz nach Bekanntgabe mit der Preisträgerin in der Kategorie Belletristik gesprochen und das ist Natascha Wodin. Der Leipziger Buchpreis geht an sie für ihren autobiografischen Roman "Sie kam aus Mariupol", erschienen bei Rowohlt, und das waren ihre Worte direkt nach Bekanntgabe der Preisträger:
O-Ton Natascha Wodin: Ja, ich bin sehr glücklich über diesen Preis, weil ich glaube, dass er einem Buch gut dazu verhelfen kann, unter die Leser zu kommen. Und ich wünsche mir, dass möglichst viele von den Ausmaßen der Zwangsarbeit im Deutschen Reich erfahren, von dem Schicksal der Millionen in der Kriegsindustrie verschlissenen Arbeiter, die auch danach in der Regel kein Leben mehr gefunden haben. Meine Mutter war eine von ihnen und sie hat gerade hier in Leipzig bei einem Rüstungsbetrieb des Flick-Konzerns gearbeitet.
Burkhardt: Und kurz nach diesen Dankesworten konnte ich mit ihr sprechen, mit Natascha Wodin, erst mal auch von mir ganz herzlichen Glückwunsch, Frau Wodin!
Wodin: Danke schön!
An der Zwangsarbeit zerbrochen
Burkhardt: Wir haben es in Ihren Dankesworten gerade schon gehört, in Ihrem Buch geht es um das Ausmaß der Zwangsarbeit im Deutschen Reich. Sie erzählen in diesem Buch eine Geschichte, die Sie ja offenbar sehr lange vor sich hergeschoben haben, nämlich die Geschichte Ihrer Mutter.
Sie wurde vor dem Krieg in der östlichen Ukraine geboren, in der Hafenstadt Mariupol, sie erlebt den Untergang ihrer Adelsfamilie im stalinistischen Terror und wird später, 1944, von den Nazis als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt. Sie überlebt die Zwangsarbeit zwar, aber sie zerbricht daran. Sie bringt sich um, als Sie noch ein junges Mädchen sind. Frau Wodin, Sie waren Anfang 70 und wussten kaum etwas über die Vorgeschichte Ihrer Eltern, insbesondere nichts über Ihre Mutter. Warum haben Sie sich so spät erst an diese Recherche gemacht?
Wodin: Na ja, ich habe ja schon vorher immer wieder versucht, irgendwelche Spuren zu finden. Lange Zeit war es die Zeit des Kalten Krieges, man kam in der Sowjetunion nirgends rein, in keine Behörde, in keine Archive, beim Deutschen Roten Kreuz fand ich auch nichts. Und zuerst mal ist es überhaupt so gewesen, dass ich gar nichts von meinen Eltern wissen wollte. Ich war weg und ich war heilfroh darüber, ich wollte nicht mehr zu diesen Displaced Persons gehören. Ich war froh, dass das Kapitel in meinem Leben abgeschlossen war. Und irgendwann dann fing ich doch an, mich zu interessieren, aber leider eben vergeblich. Ich habe nichts gefunden.
Im Internet findet sie den Namen der Mutter
Burkhardt: Und Ihre Recherche beginnt dann auch im Buch damit, dass Sie den Namen Ihrer Mutter in eine Suchmaschine des russischen Internets eintippen. War da Ihnen schon klar, dass da wirklich sich was entwickeln könnte, was mehr ist als eine Spielerei, wie Sie es ja am Anfang nennen?
Wodin: Nein, überhaupt nicht. Also, daran habe ich kein Gramm geglaubt, dass ich da irgendwelche Informationen über meine Mutter finde. Selbst als ich las, 1920 in Mariupol geboren – das war meine Mutter, in diesem Jahr ist sie in Mariupol geboren –, habe ich gedacht, na, das ist irgendeine zufällige Gleichheit, das kann eigentlich nicht sein. Also, man muss sich mal vorstellen, eine junge, bedeutungslose Frau, die vor 60 Jahren in Deutschland gestorben ist, wie kommt die ins russische Internet? Das kann eigentlich nicht sein.
Und das Rätsel war: Meine Mutter hatte einen sehr berühmten Onkel, das war der erste russische Experimentalpsychologe und ein Philosoph. Und als eine Nichte fungierte sie in seiner Familie. So konnte ich den ersten Faden aufnehmen. Von da aus ging es dann also wundermäßig weiter.
Die Reichen und Adligen waren Freiwild
Burkhardt: Können Sie ein bisschen zusammenfassen, was dann die wichtigsten Stationen dieser Geschichte des Lebens Ihrer Mutter waren, wie Sie die dann weiter recherchiert haben?
Wodin: Also, meine Mutter ist, wie gesagt, 1920 geboren, nach der Revolution. Sie hat das schöne Leben, das Wohlleben ihrer Familie nicht mehr erlebt, als sie geboren wurde, war alles schon zerstört, man hat ihnen schon alles weggenommen. Sie ist in ein Haus hineingeboren, in dem schon, ich weiß nicht, wie viele Leute wohnten, Fremde, die alle die Gegenstände der Familie benutzten, also, alles gehörte allen. Und die Reichen und Adligen hatten da einen ganz schlechten Stand, also, sie waren das Letzte sozusagen. Wahrscheinlich hätte sie jeder straflos umbringen können.
In diese Zeit ist meine Mutter hineingeboren. Dann kam der große Hunger in der Ukraine durch die Zwangskollektivierung, da wäre sie fast gestorben, da hatte die ganze Familie gar nichts mehr zu essen. Und dann kam der Stalinsche Terror, unter dem ihre Schwester verhaftet und in ein Lager gebracht wurde, und dann kam der Krieg. Und in diesem Krieg ist sie, ich weiß nicht genau, ist sie vor Stalin geflohen oder hat man sie verschleppt, das konnte ich nicht klären.
"Ich hatte keine Herkunft"
Burkhardt: Sie haben fast zehn Jahre recherchiert und diese Geschichte versucht nachzuvollziehen, die Geschichte Ihrer Mutter. Wie war das denn für Sie als Mädchen, als junge Frau, wie haben Sie denn diese Lücke erlebt, wo Sie gerade gesagt haben, Sie wollten damit erst mal gar nichts mehr zu tun haben. Wie war das dann für Sie, als Sie sich dann immer mehr damit auseinandergesetzt haben?
Wodin: Na ja, wissen Sie, das ging sehr, sehr langsam. Ich fand ja keine Spuren eigentlich, mal irgendwie ein Fädchen da, ein Fädchen dort, aber das half mir eigentlich alles nicht weiter. Also, das hat eigentlich alles nicht viel bedeutet. Und ich hatte mich daran gewöhnt, dass ich keine Herkunft habe. Ich kannte nichts anderes, ich hatte keine Herkunft.
Und manchmal habe ich dem auch was ganz Positives abgewinnen können, wenn ich so manche Familien mit ihrem ganzen Anhang gesehen habe. Ach, habe ich gedacht, ja, da gibt es auch so viel Ärger und so viel Unfrieden, da bin ich ganz froh, dass ich diesen ganzen Ballast nicht habe!
Die Papiere der Mutter "mit Wonne" weggeworfen
Burkhardt: Jetzt sagen Sie, Sie hatten keine Herkunft. Sie selbst wurden Ende 1945 in Fürth geboren, in einem Lager für sogenannte Displaced Persons, das erzählen Sie auch in Ihrem Buch. Und es spielen auch bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte Ihrer Familie Schuldgefühle mit rein. Sie beschreiben selbst, wie Sie als Mädchen Teile der Papiere Ihrer Mutter vernichtet haben. Hat denn die Recherche am Ende Ihren Umgang mit der eigenen Biografie verändert?
Wodin: Also, Schuldgefühle, muss ich wirklich dazu sagen, habe ich als Kind nicht gehabt. Ich habe mit Wonne diese Papiere weggeworfen. Ich wollte sie einfach nicht mehr haben. Und jetzt, 60 Jahre später, ist Schuldgefühl vorbei. Sie fragten nach dem Umgang mit meiner Familie.
Ich finde es schon ganz schön, dass ich jetzt um alle weiß, ich habe die Fotos, die ich gefunden habe, bei mir an die Wand gehängt zu Hause, und sie beschützen mich von da aus so ein bisschen. Aber richtige Menschen sind sie nicht, weil, ich habe sie nie kennengelernt.
Ich weiß nicht, wie sie sind, wie sie lachen, wie sie sich bewegen, ich kenne ihre Lebensgeschichten nur sehr fragmentarisch. Also, insofern ist das alles irgendwie so eine schöne Zugabe zu meinem Leben, aber ich kann nicht sagen, dass das wesentlich was verändert hat.
Burkhardt: Ihr schwieriges Aufwachsen im Nachkriegsdeutschland, das haben Sie auch schon in einem vorhergehenden Buch beschrieben oder gestreift, in "Nachtgeschwister", ein Buch über Sie und den ostdeutschen Autor Wolfgang Hilbig, mit dem Sie acht Jahre verheiratet waren. War es ein schmerzhafter Prozess? Weil Sie sich ja immer wieder mit biografischen Momenten auseinandersetzen, war das ein schmerzhafter Prozess für Sie, sich mit Ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen jetzt?
Wodin: Nein, das war es nicht. Weil, die schmerzhaften Prozesse, die Katharsis, die findet auf einer ganz anderen Ebene statt. Wenn ich arbeite, habe ich mit ganz anderen Dingen zu kämpfen. Ich muss eine Sprache finden, ich muss eine Form finden. Und das ist eine Heidenarbeit. Und diese ganze psychologische Arbeit kann ich da nicht machen, die findet gesondert statt.
Die Shoah und das Leiden der Zwangsarbeiter
Burkhardt: Das können Sie absolut trennen von Ihrem persönlichen Befinden?
Wodin: Ja, absolut, absolut. Das trenne ich absolut. Es würde auch nichts werden. Wenn ich meine Katharsis in das Buch einfließen lassen würde, das würde keiner lesen wollen.
Burkhardt: Interessanterweise gab es ja nach dem Krieg zwar so eine Art Holocaust-Literatur, aber offenbar fehlt bis heute eine Zwangsarbeiter-Literatur. Das schreiben Sie auch in Ihrem Buch und das haben Sie ja auch in Ihren Dankesworten betont, dass nämlich Millionen Arbeiter in der Kriegsindustrie verschlissen wurden. Haben Sie eine Erklärung, warum darüber so wenig geschrieben wurde? Hat das vielleicht mit dem Schweigen der Eltern zu tun?
Wodin: Ganz sicher hat es mit dem Schweigen der Eltern zu tun. Also, ich glaube, dass… In erster Linie hat eben die Schoah, die hat alles verdrängt, dieses Grauen, hat alles in den Hintergrund gerückt, alle anderen Verbrechen, die noch außerdem im Krieg begangen wurden, das ist das eine. Das andere ist, die Zwangsarbeiter hatten nie eine Lobby, sie hatten nie Geld.
In der Sowjetunion zwangsrepatriiert
Das Dritte ist, wir wurden zwangsrepatriiert in der Sowjetunion, dort waren sie Vaterlandsverräter, Kollaborateure, die nie mehr in die Gesellschaft aufgenommen wurden. Wie hätten die ein Buch schreiben sollen? Für die war das gefährlich, sich zu zeigen. Die waren froh, wenn man sie am Leben ließ. Und diejenigen, die in Deutschland geblieben sind, die Zwangsarbeiter, die konnten kein Deutsch, die lebten weiterhin in Lagern, in Displaced-Persons-Lagern, und da schreibt man nicht.
Burkhardt: Frau Wodin, Sie sprechen jetzt über ein Buch, was auf dem Markt ist. Gibt es schon etwas Neues, an dem Sie arbeiten?
Wodin: Nein, so schnell schießen die Preußen nicht.
Burkhardt: Dann ganz herzlichen Dank, und ich wünsche Ihnen viel Freude an diesem Buchpreis der Leipziger Buchmesse.
Wodin: Danke schön, vielen Dank!
Burkhardt: Und natürlich viele verkaufte Bücher, da wünsche ich Ihnen auch. Und ich empfehle Ihnen, liebe Hörer, kaufen Sie dieses Buch, "Sie kam aus Mariupol", erschienen im Rowohlt Verlag, 366 Seiten, es lohnt sich wirklich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.