Keine Helden im Hinterland
Sieben Stunden verbringen die Zuschauer in Wiener Neustadt mit dem Antikriegsstück "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus. Alle bekommen ihr Fett weg: Ärzte, Militärs, Journalisten, Burschenschaftler. Zu hören ist auch ein antisemitisches Lied, das einen FPÖ-Politiker alle Ämter kostete.
"Meine Herren! Gut, dass Sie da sind!"
Zerklüftet, unmöglich, heldenlos: So beschrieb Karl Kraus "Die letzten Tage der Menschheit". Seine komplexe Tragödie in fünf Akten ohne geschlossene Handlung oder Hauptfiguren hielt er selbst für nicht aufführbar. Für das verzweigte Antikriegsstück hat Kraus echte Dokumente verwendet: Bücher, Armeebefehle, Verordnungen, Briefe, Plakate und Zeitungsartikel.
"Die Presse ist eine Macht!"
Der österreichische Regisseur Paulus Manker hat "Die letzten Tage der Menschheit" neu inszeniert, und die Zuschauer können diese Mammut-Collage hautnah miterleben. Hin und her geht es in der Serbenhalle in Wiener Neustadt; diese ist 150 Meter lang, hat mehrere Stockwerke und Nebentrakte mit 20 Zimmern, in denen bis zu sieben Szenen gleichzeitig gespielt werden können. Die Serbenhalle ist eine ehemalige Waffenfabrik aus dem Zweiten Weltkrieg, in der KZ-Häftlinge zur Arbeit gezwungen wurden und auch starben.
Paulus Manker: "Es ist eine durchaus belastete und sehr sinistre Umgebung. Für ein Antikriegsstück ideal."
Ein Bier an der Front
Das Publikum ist also mittendrin in der Geschichte, und ein echter Zug fährt die Zuschauer sogar hinaus ins Freie zum künstlichen Schützengraben am Wiener Würstelprater.
"Herzlich willkommen noch mal hier bei uns im Schützengraben des Wiener Praters!"
Paulus Manker: "Dort hat man während des Krieges die Front nachgebaut, damit die Leute bei Würschteln und einem G'spritzten und einem Bier sich das anschauen können, wie es dort zugeht, wo der Tod herrscht."
"Attacke!"
Die meisten der insgesamt 220 Szenen spielen nicht an der blutigen Front, sondern im Hinterland. Auf der Straße, im Kaffeehaus, in Büros oder in Redaktionen, und alle bekommen ihr Fett weg: Korrupte Ärzte, feige Militärs, opportunistische Politiker, angepasste skrupellose Journalisten oder schneidige Burschenschaftler.
Ein Nazilied auf der Bühne
Und hier kommt auch Österreichs Gegenwart ins Spiel. Schauspieler singen ein antisemitisches Nazilied der Burschenschaft "Germania" aus Wiener Neustadt, das Paulus Manker eingebaut hat:
"Ich lag im Bett frühmorgens wach und hab mit Karl Kraus telefoniert, und er hat gesagt, es ist in Ordnung. Ich hab' einen Draht noch nicht zu Gott, aber das kommt noch, aber zu Karl Kraus, zu toten Literaten schon."
Nazilied: "Auch wir sind Indogermanen und wollen zur Waffen-SS..."
Diese echten Nazilied-Strophen sorgten in Österreich Anfang des Jahres für einen handfesten Skandal, der den "Germania"-Chef und FPÖ-Spitzenpolitiker Udo Landbauer alle Ämter kostete.
Paulus Manker: "Und ich sag' Ihnen was: In der Zeitung zu lesen diese Zeilen und so, ist unangenehm genug, aber das ist halt vielleicht eine Fußnote. Wenn Sie das hören, und die das wirklich ausstoßen und ein sechs-, siebenköpfiger Chor das herausrülpst, da wird einem angst und bang."
Nazilied: "Da trat in ihre Mitte der Jude Ben Gurion. Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million!"
Eine Expedition, keine Pauschalreise
Stefan Kolosko: "Die Freiheit, die einem die Kunst gibt, muss man radikal ausnutzen. In der Realität dürfte man das natürlich überhaupt nicht singen, ist ja klar. Aber hier im Theater muss man Sachen machen, die man in der Realität nicht machen darf."
Der deutsche Schauspieler Stefan Kolosko spielt wie alle gleich mehrere Rollen. "Die letzten Tage der Menschheit" sind für ihn ein Abenteuer:
"Es ist wie eine Expedition. Es ist halt nicht die Pauschalreise, die man gebucht hat, sondern mit dem Publikum ist es immer wie eine neue Premiere."
"Es rieselt im Gemäuer!"
Die schockierend entlarvende Kriegseuphorie zu Beginn endet in abgründigen Qualen der Menschen im untergehenden Habsburgerreich. Fast sieben Stunden lang dauert der monumentale Theaterabend, ein Dinner mit Kerzenlicht inklusive. Regisseur Paulus Manker will weiter machen:
"Das Fernziel wäre, erstmals das ganze Stück ... Das ist ein bisschen hypertroph, aber man kann ja davon träumen."
Im Gespräch drückt sich der herrisch wirkende Regisseur Manker gerne drastisch, zeitweise ordinär aus, nicht nur, wenn es um die schwarz-blaue Regierung und die Rechtspopulisten geht.
Für seine "Letzten Tage der Menschheit" hat Karl Kraus auch eine Vorrede geschrieben. "Phrasen stehen auf zwei Beinen", schreibt er darin, "Menschen behielten nur eins".