Die Inseln in der Nordsee werden unsere Zuflucht sein
In Form eines dystopischen Szenarios blickt Andres Veiel von 2028 auf unsere Gegenwart zurück. Die Uraufführung von "Let Them Eat Money – Welche Zukunft?!" am Deutschen Theater in Berlin zeigt äußerst komplexes Kopftheater.
Im Nachgang zur globalen Finanzkrise hatte der Dokumentarfilmer und Theatermacher Andres Veiel 2012 aus vielen Banker-Interviews sein Stück "Himbeerreich" entworfen und gefragt: Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Diesmal, so sagt er, will er nicht erst im Nachhinein auf die Scherben blicken, sondern schon jetzt fragen: Was müssen wir heute verändern, damit es nicht zu großen Weltkrisen aufgrund von Klimawandel, Migration und Ökonomie kommt?
Der Text wurde in einem mehrstufigen Prozess mit Wissenschaftlern und Zuschauern entwickelt – ein langwieriges Vorgehen, das zeigt, wie ernst es Veiel bei seiner Ursachenforschung ist. Vor einem Jahr fand in Kooperation mit dem Berliner Humboldt Forum ein Workshop mit renommierten Wissenschaftlern und interessierten Zuschauern statt. Darauf folgte ein partizipatorisches Symposium, aus dessen Material heraus das Stück entstanden ist. 2020 soll eine Abschlusskonferenz beleuchten, was aus dem gewonnenen Wissen entstehen könnte – Theater als Puzzleteil der Zukunftsforschung.
Die Follower an den Rechnern fällen das Urteil
Ein enorm abstrakter und theoretischer Angang für das sinnliche Medium. Veiel stellt dafür ein Schreckensszenario in Form eines Tribunals auf die Bühne. Wir befinden uns im Jahr 2028, Europa steht vor dem Untergang: Menschen hungern, Krankenhäuser sind geschlossen, Notstandsverordnungen treten in Kraft. Bei ihrem "Untersuchungsausschuss" befragen die Aktivisten der "Let them Eat Money"-Widerstandsbewegung diejenigen, die sie für die Krise verantwortlich machen: einen EZB-Präsidenten, eine EU-Kommissarin, einen Hightech-Investor à la Zuckerberg. Die Millionen Follower an ihren Rechnern sollen am Ende entscheiden, ob die Schuldigen freigesprochen oder erschossen werden.
Die Welt hat sich seit 2018 dem Abgrund zugewandt. Italien ist wegen seiner Finanzkrise aus der EU ausgetreten, es folgte eine neue Bankenkrise. Um die restliche EU zu beruhigen, führte man das bedingungslose Grundeinkommen ein. Allerdings eines, das auf einem neoliberalen Modell aufbaut, gestützt vom Geld eines großen Pharmakonzerns: Die Bürger bekommen 600 Euro, müssen davon aber sämtliche Sozialleistungen zahlen. Die Krankenkasse versichert nur Menschen, die sich einen Gesundheits-Chip inklusive Datenkontrolle implantieren lassen. Alten und Kranken wird gekündigt. Der Staat zieht sich komplett zurück und verliert die Kontrolle über die Märkte.
Hungersnot treibt Deutsche auf die Inseln
Das Gegenmodell des Hightech-Pioniers Stefan Tarp ist ausgefuchst: Er legt künstliche Inseln in der Nordsee an und verwaltet sie wie eine Firma: Wer Aktien erwirbt, darf dort leben. Finanziert werden die Inseln zudem über eine Art Flüchtlingsdeal: Der Klimawandel hat eine Million Iraner zu Flüchtlingen gemacht – Tarp beherbergt sie. So baut er eine Parallelwelt ohne staatliche Regulierung auf, die nur den Gesetzen des Marktes gehorcht. Eine Hungersnot in der übrig gebliebenen "Nord-EU" veranlasst immer mehr Bürger, auf diese Inseln zu fliehen – nun gehören sie selbst zu denjenigen, die mit Booten kommen und gewaltsam abgewiesen werden.
Veiel hat zahllos viele Themen in seinen nicht einmal zweistündigen Abend gepackt. Die Bühne folgt der Idee einer Science-Fiction-High-Tech-Welt. Die Wände bestehen aus Monitoren, auf denen mal die Gesichter der Angeklagten eingeblendet werden, mal die User-Kommentare, die den Anklage-Prozess verfolgen. Davor ein Gerüst aus Metall und Neonröhren, das von fern ans Brandenburger Tor erinnert. Ein weißer Boden aus Salz – darüber hängen an Gurten in der Luft die Angeklagten und schwingen artistisch hin und her.
Hirnlose Ansagen der Roboter
Vor allem dem Bühnenbild merkt man den Versuch an, die Inszenierung sinnlich aufzuladen. Kathleen Morgeneyer, eine durchlässige, emotionale Schauspielerin, gibt dem Abend als verbitterte Head-Aktivistin Blut. Ebenso wie Jörg Pose als selbstironischer EZB-Chef, der sich immer wieder über die hirnlosen Ansagen der neuesten Roboter lustig macht, die ihn befragen. Mit der Figur des ehemaligen Paketlieferanten Jürgen Bandowski (er wurde von Drohnen ersetzt) versucht Veiel, Bodenhaftung zu bekommen – Jürgen Huth gibt ihn als komischen, patenten Berliner, der die Welt nicht mehr versteht.
Veiel setzt hier mit seiner Co-Autorin Jutta Doberstein ein hoch spannendes Gedankenexperiment an, eine klug durchdachte Dystopie, die sich nie mit einfachen Fragen oder simplen Lösungen begnügt und sich oft nah an den Problemen der Wirklichkeit bewegt. Auch die Figurenzeichnung ist komplex. Jeder möchte das Beste für die Welt, ist auf der Suche nach der brillanten Zukunft. Stefan Tarp hat mit einer smarten Idee Flüchtlinge gerettet und das Grundeinkommen eingeführt. Die redliche EU-Kommissarin wurde schlicht von den Märkten überrannt. Hier gibt es keine schlechten Menschen – nur schlechte Ideen. Und selbst die kommen zunächst noch vernünftig daher.
Doch es ist und bleibt ein Gedankenkonstrukt, eine Kopfgeburt. Aus der zerschmetterten Zukunft heraus wird die krisenhafte Gegenwart rekapituliert – das führt zu wortreichen Erklärungen in Höchstgeschwindigkeit, lässt das Spiel jedoch Beiwerk werden. Die Zusammenhänge sind so komplex und weit verzweigt, dass der Abend höchste Konzentration erfordert, um nicht sofort den Anschluss zu verlieren.
Ein tiefschürfendes Theaterlabor, ein überbordendes Kopftheater, gedanklich ein gelungenes Forschungsexperiment. Um tatsächlich aufzurütteln, müsste das Science-Fiction-Szenario jedoch in Mark und Bein gehen, statt in den Hirnwindungen steckenzubleiben. Für die Bühne kann das noch nicht der Weisheit letzter Schluss sein.