"Die nennen das nicht Völkermord"
Der Völkermord an den Armeniern ist der Ausgangspunkt für Fatih Akins Film "The Cut", der nun in Venedig erstmals gezeigt wurde. In der Türkei wollen Hardliner die Aufführung verhindern. Denn dort ist die Leugnung des Genozids Staatsdoktrin.
Der neue Film von Fatih Akin beginnt mit einem Idyll. In Mardin, ganz im Südosten der heutigen Türkei, lebt der junge armenische Schmied Nazareth mit seiner Familie. Dort, im Osmanischen Reich, konnten die Armenier lange Zeit recht unbehelligt ihren christlichen Glauben leben. Nazareth, gespielt von Tahar Rahim, ist seinen zwei Töchtern ein rührender Vater:
Seht mal, ein Kranich. Wer einen Kranich sieht, begibt sich auf eine lange Reise
Also wir drei?
Da wir drei ihn gesehen haben, reisen auch wir drei.
Aber diese Reise ist dann gar nicht mehr idyllisch: Die erste Dreiviertelstunde des Films ist eine schönungslose, erschütternde Darstellung des Völkermordes an den Armeniern. An Frauen, Männern und Kindern, an Nazareth und seiner Familie.
Fatih Akin, der in Hamburg lebt, hat dieses Filmprojekt schon lange mit sich herumgetragen. Herausgekommen ist mit rund 15 Millionen Euro der teuerste Film, den er je gemacht hat.
"Für mich gab es mit dem Thema immer eine Magnetismus, mich hat das Thema nie losgelassen, das hat mich all die Jahre, seit ich Teenie bin, immer verfolgt und neugierig gemacht und ich will noch mehr darüber wissen und lesen. Es war unabdingbar, dass ich irgendwann mal einen Film darüber mache – das war so klar wie Kloßbrühe."
"Jede armenische Familie hat eine eigene Geschichte"
Und weil Fatih Akin viel gelesen hat und vor Ort geforscht, ist das auch kein eindimensionaler Film. Es gibt die Grausamkeiten, die Nazareth erlebt: Verschleppung, Folter, Mord. Aber es gibt auch Hilfe: zum Beispiel durch den Muslim Omar Nasreddin, der in Aleppo Seife herstellt. Er hilft, obwohl Nazareth Armenier ist und Christ:
"Jede armenische Familie, die in diesen Genozid involviert war, hat eine eigene Geschichte, und die haben es geschafft, viel zu Papier zu bringen. Es sollte eigentlich ein Film mit einem viel begrenzteren Rahmen sein. Und dann hat man das entdeckt und das gehört doch auch zum Genozid dazu. Es ist nicht nur das Umbringen, es ist auch das Überleben. Und es ist nicht nur das Überleben, sondern es ist auch das irgendwo sich eine neue Existenz aufbauen. Das gehört zusammen. Man muss das zusammen erzählen, man muss die Dinge zu Ende denken."
So wird der Rest des Films zu einer Suche: Nazareths Frau ist umgebracht worden, aber seine Kinder leben noch. Und weil er selbst durch einen Messerstich in den Hals seine Stimme verloren hat, müssen andere für Ihn sprechen.
Ein Film über das Überleben, über das Suchen, über das Finden ist "The Cut". Dabei werden die Orte immer absurder: Von Aleppo zieht Nazareth in den Libanon, reist nach Kuba und endet schließlich in der öden Steppe von North Dakota in den USA.
Kritik kam schon vor der Premiere aus der Türkei
Fatih Akin hat sich viel helfen lassen: Am Drehbuch hat Mardik Martin mitgeschrieben – unter Filmkennern ist er seit seiner Zeit mit Martin Scorsese eine Legende. Von Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten kommt die Musik.
Am Lido von Venedig wurde der Film dennoch verhalten aufgenommen, vielleicht weil er in Teilen schwere Kost ist, vielleicht, weil er auf die großen Stars verzichtet.
Und: Am Lido ist der große Skandal ausgeblieben. Aber die Kritik kam schon vor der Premiere aus der Türkei. Dort ist die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern Staatsdoktrin, dort wollen rechtsextreme Gruppierungen die Aufführung verhindern.
Fatih Akin ist trotzdem optimistisch, dass der Film auch dort in die Kinos kommt, am besten zeitgleich mit dem Filmstart in Deutschland. Er glaubt, auch dort kann "The Cut" funktionieren, auch, weil er seine eigenen türkischen Eltern überzeugt hat:
"Meine Eltern haben den Film gesehen – was mich total erleichtert hat. Meine Eltern teilen ja die offizielle Darstellung der Türkei zu den Ereignissen, die nennen das nicht Völkermord. Der Film trifft eine Schnittmenge: Natürlich habe ich auch an die Filmkritiker gedacht, natürlich habe ich auch an die Festival-Zirkel gedacht. Aber ich habe immer an meine Eltern gedacht: Wie muss ich den Film machen, damit die sich identifizieren mit einem Armenier."
Ob der Film auch die Jury in Venedig überzeugt, werden wir Samstagabend wissen, wenn bei den 71. Internationalen Filmfestspielen die begehrten Löwen verliehen werden.