Premierenkritik

Ödipus und das Böse

Von Natascha Pflaumbaum  · 08.12.2013
In Hans Neuenfels' Inszenierung der Oper "Oedipe" von George Enescu sticht Ödipus sich die Augen aus, weil er erkennt, dass er keinen freien Willen hat. Auch sonst trägt die Aufführung eine radikale Handschrift.
Die Geschichte des Ödipus ist für uns heute immer noch eine der faszinierendsten Erzählungen des klassischen Mythos, nicht zuletzt auch deshalb, weil Sigmund Freud sie mit der Entfaltung seines Ödipuskomplexes auf die psychologische Spitze getrieben hat. Ödipus ist der Mann, dem geweissagt wurde, seinen Vater zu töten und sein Mutter zu lieben, und der dies, unwissentlich, auch tut.
Der junge rumänische Komponist George Enescu war von dem sophokleischen Plot so gefangen, dass er als junger Mann eine Oper zu Ödipus zu schreiben begann, ohne überhaupt ein Libretto zu haben. Die Arbeit an dieser Oper "Oedipe" sollte Enescu über Jahrzehnte hinweg beschäftigen, bis sie 1936 uraufgeführt werden konnte. Das Werk gehört heute zu den zu Unrecht vergessenen Pretiosen des Opernrepertoires. Die Oper Frankfurt hat "Oedipe" nun in einer speziellen Frankfurter Fassung auf Deutsch aufgeführt.
Dass Ödipus ein Archäologe ist, der, umwoben von einem Wirrwarr von Formeln, mathematischen, chemischen, physikalischen, wie ein Forscher durch das formalisierte Dickicht seines Lebens streift, spricht eigentlich nur für ihn. Immerhin ist er einer, der versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Schicht für Schicht gräbt sich dieser Ödipus-Archäologe durch sein Leben, ohne dass er je auch nur ein Quäntchen Wahrheit frei legen könnte. Das weiß er, der Ödipus-Archäologe, aber nicht, und so gräbt er zwar guten Willens weiter und weiter und folgt dabei doch nur diesem höheren Programm, das er allenfalls mit Hilfe von Formeln abbilden kann, aber nie wirklich verstehen oder gar entschlüsseln wird.
Wenn also der Regisseur Hans Neuenfels in seiner Frankfurter Aufführung diesen Ödipus als Archäologen auf eine riesige Bühne stellt, die ausgeschlagen ist mit überdimensionalen Schultafeln, auf denen die kryptischen Nomenklaturen der Wissenschaftsformeln milchig-schmierig in kreidigen Wolken ineinander schwimmen, dann zeichnet Neuenfels Ödipus als Gelehrten, der wirklich wissen will, der nicht verblendet ist, dem man weder Ignoranz noch Dummheit oder Unachtsamkeit vorwerfen kann.
Dieser Ödipus will das Beste: er will dem Bösen, das ihm geweissagt wurde, entgehen und kann es nicht. Weil er immer das Gute wählt, um das Böse zu vermeiden, glaubt sich Ödipus auf der sicheren Seite. Weil das Gute aber nur vermeintlich gut ist und ihn eigentlich nur in immer schlimmere Situationen bringt, bleibt Ödipus im grauenvollen Dilemma seines Lebens gefangen!
Hans Neuenfels hat für Frankfurt eine neue Fassung von Enescus Oper „Oedipe“ entwickelt. Seine interpretatorischen Eingriffe sind massiv: er dampft das Werk ein, komprimiert die Szenen, übersetzt sie auf Deutsch, streicht gar den ganzen vierten Akt, weil ihm die darin aufgeworfene Schuld- und Erlösungsfrage als christliches Motiv "nicht gemäß" erscheint. Neuenfels‘ Statement ist klar: diese Frankfurter Oedipe-Fassung endet offen und drastisch, aber irgendwie versöhnlich: mit einem Ödipus, der sich die Augen aussticht, weil er erkennt, dass er keinen freien Willen hat, und der blind von seiner Tochter Antigone in ein Wo-auch-immer hingeführt wird.
100 spannungsvolle Minuten
Der deutsche Text dieser Frankfurter Fassung buchstabiert den sophokleischen Mythos präzise aus, nie verliert man den Faden, alles ist so auf Stringenz und Auserzählen der Geschichte gebügelt, dass diese knapp 100 Minuten dauernde Archäologen-Lehrstunde fast ein bisschen zu kompakt erscheint.
Eindrucksvoll ist dieses Lehrstück allemal. Wegen der tableauhaften Bilder, die Neuenfels zusammen mit seinem Bühnenbildner Rifael Ajdarpasic entwirft, den geradezu emblematisch wirkenden Einzelszenen, aus denen Neuenfels die Geschichte wie ein Puzzle zusammensetzt und wegen der großartigen Kostüme (Elina Schnizler): Hirten als Punker im Marylin Manson-Stil, Ödipus im stahlgrauen Anzug eines Autoverkäufers, die Sphinx in der plissierten Silberrobe einer antiken Diva, der geschundene blinde Seher Theresias im Laufgitterkäfig, ganzkörperbandagiert wie ein Allergiker, der seine nässenden Wunden vor dem Zuviel an Realität schützen muss.
Neuenfels malt hier Szenen wie Gemälde, er drapiert das Personal so symbolisch akkurat, eine Augenweide! Vor allem in den Massenszenen der Chöre, in denen er den Verlust des Individuums durch die mechanistische Gleichförmigkeit der Masse präzise auschoreographiert.
Eindrucksvoll ist diese Aufführung aber vor allem wegen Enescus Musik, die suggestiv und voller einnehmender Atmosphären ist: Die Musik vom Grundton spätromantisch ist mal illustrativ, wenn Windmaschinen Blitz und Donner liefern im Gewittersturm, in dem Ödipus Laios ermordet. Wenn eine Solo-Flöte Hirtenmusik spielt, ohne auch nur im entferntesten pastorale Motive anzudeuten.
Große Chöre, wie gleich zu Beginn der Frauen-Jubelchor zu Ödipus' Geburt, zementieren einen sehr gewaltigen, panoramahaften Klang, Die Musik ist aber auch deshalb so stark, weil Enescu seine Figuren klar musikalisch charakterisiert. Es braucht kräftige Stimmen für alle Partien, wahre Stimmschauspieler wie Simon Neal in der Titelpartie des Ödipus oder Kihwan Sim in der kleineren Rolle des Phorbas. Wegen der extravanten Klänge braucht es auch flexible Stimmen, wie die von Katharina Magiera, die die Sphinx singt, die in glissandierenden Vierteltönen hin- und herlamentiert, halb sexy, halb verwegen, und dabei so fremd klingt wie einem nur die Sphinx fremd sein kann.
Magiera legt das ganze brüchige Doppelwesen der Sphinx-Figur in ihre Stimme: dunkel und kräftig, aber von zweifelhafter Melodie. Enescus "Oedipe" ist durchkomponiert, braucht also viel Energie und jemanden wie Alexander Liebreich, der es über 100 Minuten spannungsvoll vorantreibt, denn es gibt keine Wiederholungen, sondern immer nur Varianten des schön Gehörten.
Diese Frankfurter Aufführung ist pur, klar und analytisch, eindeutig in Handschrift und Aussage und darum sehr stringent. Vielleicht zu stringent, denn warum der Mensch keinen freien Willen hat, diese Frage hätte Neuenfels nicht nur aufwerfen müssen, eine Antwort, zumindest ansatzweise, bleibt er schuldig.
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