Preußens Aufstieg und Niedergang
Preußen steht im Mittelpunkt der Lesart spezial von der Frankfurter Buchmesse. Zu Gast sind die Historiker Christopher Clark und Andreas Kossert. Mit klassischen deutschen Themen zu Preußen und Wilhelm II. feiert Clark, Historiker an der Universität Cambridge, hierzulande große Bucherfolge. Kosserts Buch über die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945 stand lange in den Bestsellerlisten. Gerade ist sein neustes Werk "Damals in Ostpreußen" erschienen.
Deutschlandradio Kultur: Die Lesartsendung kommt heute von der Frankfurter Buchmesse. Ich bin Michael Gerwarth. Schönen guten Tag. Bei mir sind zwei äußerst interessante Gäste mit, na klar, ganz tollen Büchern. Christopher Clark ist da, Historiker im englischen Cambridge. Er ist gebürtiger Australier und hat hierzulande große Bucherfolge mit klassischen deutschen Themen. "Preußen, Aufstieg und Niedergang" sowie "Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers", herzlich willkommen, Herr Clark.
Und ich begrüße Andreas Kossert. Sein Buch "Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945" stand lange in den Bestsellerlisten. Und gerade erschienen ist sein Buch "Damals in Ostpreußen. Der Untergang einer deutschen Provinz". Hallo, Herr Kossert.
Preußen, Herr Clark, das, so schien es, war doch wirklich von vorgestern. Und wenn, dann wurde es überfrachtet mit höchst negativen Urteilen wie: Hort des Militarismus, Kadavergehorsam oder bodenlose Rückständigkeit. Aufgelöst von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs schien es dazu verurteilt, dem dicken Staub der Geschichte anheim zu fallen. Dann haben Sie fast 1000 Seiten über Preußen geschrieben. Was ist aus Ihrer Sicht positiv an Preußen?
Christopher Clark: Ja, das Positive an Preußen ist: Natürlich kann man die üblichen Tugenden Preußens auflisten. Das gabs schon längst, einen positiven Diskurs zu Preußen: die Pünktlichkeit, die Ordentlichkeit, ein Staat, der sich nicht bestechen lässt, das Rechtsstaatliche und so weiter, und so fort. Diese Tugenden hatte man längst betont, aber immer im Zusammenhang mit dem Versuch, eine Bilanz über Preußen zu ziehen. Man hat gemeint, das sind zwar die Lichtseiten, die schönen Seiten der preußischen Tradition, dazu müssen wir uns auch bekennen.
Aber es gibt auch die Laster. Es gibt auch die Autoritätshörigkeit, Kadavergehorsam, Militarismus und so weiter. Ich wollte in meinem Buch eigentlich von diesem binären Gegensatz zwischen Gutem und Bösen wegkommen, wo es immer um Schatten und Licht geht. Ich wollte Preußen als einen europäischen Staat darstellen mit all den Differenzierungen, mit den Schattierungen und Nuancierungen, die dazu auch gehören.
Michael Gerwarth: Herr Kossert, das Gegensätzliche an Preußen - einerseits das Untertanentum, andererseits die aufgeklärte Toleranz, das hat Herr Clark ja auch schon ein bisschen beschrieben -, fast könnte man sagen, Preußen mit seinen Irrtümern, mit seinen Vorzügen war so was wie ein Vorbereiter Deutschlands auf dem Weg in die Moderne. Oder ist das letztlich zu glatt, weil wir ja wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist?
Andreas Kossert: Durchaus. Gerade, wenn wir zum Beispiel auch die preußische Geschichte durch das Prisma der ostpreußischen Geschichte betrachten: Dort wurde eine vornationale Welt lange Zeit noch im Nationalismus gelebt und war eine Selbstverständlichkeit, die eigentlich das alte Preußen repräsentiert hat. Diese Fragen vom multiethnischem Zusammenleben zum Beispiel, wie es in Ostpreußen über Jahrhunderte gelebt wurde und noch bis in die Zeit des Nationalismus, hat ja durchaus heute auch eine gewisse Relevanz.
Michael Gerwarth: Also, ein paar Jahrhunderte Irrtümer, Tragödien, aber auch geistige, wissenschaftliche, auch ökonomische Triumphe bei Preußen. Das würde ich auch gern von Ihnen wissen, Herr Clark, ist Preußen so was wie ein Vorbereiter Deutschlands in die Moderne?
Christopher Clark: So habe ich Preußen eigentlich gar nicht gesehen. Ich finde, Preußen ist eigentlich unter den europäischen Mächten einzureihen, unter den europäischen Staaten. Dieser Blick, Preußen als Vorreiter des deutschen Nationalstaates zu sehen, führt meines Erachtens in die Irre. Denn Preußen war schon längst ein europäischer Staat, bevor er sozusagen ein deutscher Staat wurde. Preußen hat gar keine nationale Sendung gehabt.
Man denke zum Beispiel an diesen großen genialen, brillanten König Friedrich den Großen. Er konnte zwar ein bisschen Deutsch, aber er hat viel lieber Französisch gesprochen. Er nahm sich der französischen Kultur an. Er spielte die Flöte. Das war damals ein französisches Instrument.
Also, Preußen war, weder was die Hofkultur betraf, noch was die Zusammensetzung seiner Bevölkerung betraf, ein deutscher Staat. Es waren Polen in diesem Preußen. Es waren Litauer, es waren das, was wir heute Flamen nennen würden, also flämisch Sprechende. Holländisch, also Niederländisch wurde auch im Westen gesprochen. Es war eigentlich ein Vielsprachenstaat, ein Staat mit vielen Kulturen, ein Multikulti-Staat sozusagen, kein deutscher Staat im engen Sinne.
Michael Gerwarth: Nun hat ja gerade der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt noch mal gesagt: "Eine multikulturelle Gesellschaft ist eine Illusion, eine Erfindung von Intellektuellen." Aber in Preußen trifft das Multikulturelle zu?
Christopher Clark: In Preußen wurde das gelebt und praktiziert.
Michael Gerwarth: Wann, Herr Clark, war denn die große Zäsur? Mit dem Aufgehen Preußens in das Wilhelminische Kaiserreich?
Christopher Clark: Ja, so sehe ich das. Ich finde, Friedrich Wilhelm IV., der damals König war, als die Revolution 1848 ausbrach, hatte gesagt: Preußen geht fortan in Deutschland auf. Das war sozusagen ein Versprechen. Aber da hat er natürlich auch das Problem angesprochen, dass es ein richtiges Preußen nicht mehr geben würde, wenn es ein Deutschland geben sollte, dass Preußen sich selbst aufgeben würde. Und das ist in der Tat so gekommen.
Michael Gerwarth: Vorher musste man natürlich erst noch mal den Kontrahenten in Wien besiegen.
Christopher Clark: Das musste man, allerdings. Die Österreicher wollten auch sozusagen diesen Prozess der Nationwerdung Deutschlands kontrollieren. Die mussten erst ausgeschaltet werden.
Michael Gerwarth: Herr Kossert, wie hat sich denn Bismarcks kleindeutsche Lösung mit der Reichsgründung von 1871 auf das ethnisch vielfältige Ostpreußen ausgewirkt?
Andreas Kossert: Im Grunde begann dann der Niedergang dieser multiethnischen Vielfalt, dass man in der Tat einen ethnischen homogenen Nationalismus definiert hat, der auf einmal das, was wirklich noch bis in diese Zeit Konsens war, hinterfragt hat. Das heißt, dass ab 1872 dann per Kabinettsorder die litauische und polnische Sprache in den preußischen Elementarschulen von einem Tag zum anderen verboten wurde.
Aber wir sehen trotz allem, selbst bis in die wilhelminische Zeit hinein, ja, sogar bis in die Weimarer Republik gibt es noch diese späten Reflexe des vornationalen Preußen, die wir gerade in der Geschichte Ostpreußens sehen, dass zum Beispiel in Königsberg noch in der Nazizeit polnisch- und litauischsprachige evangelische Pastoren ausgebildet wurden.
Michael Gerwarth: Lassen Sie uns noch mal bei Wilhelm II. bleiben. Schnell sei gesagt: In diesen Tagen erscheinen drei Bücher über den Kaiser. Hatte der denn ein Herz für die Ostpreußen? Oder war ihm das relativ gleichgültig?
Andreas Kossert: Also, Wilhelm II. hatte keine besondere Beziehung zu Ostpreußen, es sei denn, es ging um die Jagd. Das war natürlich seine große Leidenschaft. Der frönte er in der Rominter Heide. Das war sein kaiserliches Jagdrevier. Deshalb ist er sehr oft dort gewesen. Aber politisch, gesellschaftlich hat er sich für Ostpreußen eigentlich relativ wenig interessiert, es sei denn, in dieser Tradition auch des "Ostlandreiters", dieses Ritters in Anknüpfung an die Schlacht von Tannenberg. Das hat er natürlich auch sehr für seine Zwecke instrumentalisiert.
Michael Gerwarth: Ist das denn nicht erstaunlich? Denn die Wiege Preußens stand ja in Königsberg.
Andreas Kossert: Das ist sehr erstaunlich. Es lässt sich durchaus fragen: War er dann in der Tat ein deutscher Monarch oder noch ein preußischer König? Was ist er mehr gewesen? Auf keinen Fall hat man eine besondere Hinwendung zu alten ostpreußischen Traditionen bei ihm sehen können.
Michael Gerwarth: Herr Clark, Wilhelm II., ein liberaler und weltoffener Herrscher sollte er eigentlich werden. Aber dazu musste er erst mal selber reformiert werden, und zwar im Sinne seiner Eltern. Er kam mit einem verkrüppelten Arm auf die Welt. Dann hatte er so was - heute würden man sagen - wie eine verfrühte Apparatemedizin zu durchlaufen. Er kam in einen Streckkasten. Das hörte sich alles ganz gruselig an. Wurde er dadurch, was er wurde?
Christopher Clark: Diese Frage nach den frühen Kindheitserfahrungen beziehungsweise nach der möglichen Geisteskrankheit oder womöglich auch nach Hirnschaden bei der Geburt - das sind meines Erachtens Fragen, die die Problematik Wilhelm II. zu sehr auf innere Mängel, auf persönliche individualistische Faktoren reduzieren.
Das mit dem gelähmten Arm war für ihn natürlich schwer, aber das hielt sich alles innerhalb des Rahmens der Normalität, so, wie ich das sehe. Die Beziehung zu den Eltern war normal. Das war sogar eine sehr liebreiche Familie. Da waren eigentlich gar keine so gravierenden Probleme, dass man sozusagen eine ganze Karriere aus dieser frühen Kindheit heraus erklären könnte.
Michael Gerwarth: Nun ist in Deutschland ja sehr beliebt, darüber psychologische Gedanken anzustellen. Das geht bis hin zu Hitler mit seinem Hausarzt und was das für Auswirkungen hatte. Sie finden das völlig abwegig?
Christopher Clark: Ich finde die Psychoanalyse toter Personen ein abenteuerliches Unternehmen. Es ist höchst spekulativ. Der Mensch kann keine Antworten geben. Die Psychoanalyse lebt vom Gespräch, vom Dialog und ist an sich eine sehr wertvolle Disziplin, keine Frage, aber als historische Methode ist sie problematisch, wenn sie bei toten Menschen angewandt wird.
Michael Gerwarth: Dann bleiben wir noch mal bei einer - salopp gesagt - seltsamen Methode. In den angelsächsischen Ländern ist es eine gute Tradition unter Historikern, zu fragen: Was wäre gewesen, wenn? Das gilt in Deutschland als ein wenig "anrüchig". Wir wagen es aber trotzdem. Deswegen frage ich Sie: Hätte Deutschland einen anderen Weg eingeschlagen, wenn ein anderer Herrscher als Wilhelm II. die Geschicke des Landes, also das Land ins 20. Jahrhundert geführt hätte?
Christopher Clark: Sehr interessant ist die Frage, was passiert wäre, wenn sein Vater nicht frühzeitig an Kehlkopfkrebs gestorben wäre, der Vater, der in der Forschung als liberal gesinnt gilt, mit einer liberalen britischen Frau, die Tochter Queen Victorias, ob es da zu einem anderen Lauf der Dinge gekommen wäre.
Ich finde, da darf man nicht übertreiben. Zum Beispiel zum Flottenbau wäre es auf jeden Fall sowieso gekommen. Der Vater war auch dran interessiert. Zu Spannungen zwischen Deutschland und Großbritannien und womöglich auch mit den anderen europäischen Staaten wäre es auch gekommen - aus strukturellen Gründen, wegen des Staatensystems bei der damaligen Entwicklung. Also, so viel Unterschied hätte das wahrscheinlich nicht gemacht.
Sehr wichtig ist wohl das völlige Scheitern Wilhelm II. als Führungskraft, also die Tatsache, dass er für dieses noch offene Verfassungsgerüst keine Lösungen gefunden hat, für die Fragen, die nach der Reichsgründung ungelöst blieben, so wie zum Beispiel den Status des Militärs gegenüber der zivilen Verwaltung.
Michael Gerwarth: Andererseits, Herr Kossert, die Jahre von 1888 bis 1913 gehörten ja zu den - ich sage mal ein wenig übertreibend - zu den "großartigsten" Epochen in der deutschen Geschichte. Dort fand enorm viel statt, Bewegung ökonomischer, wissenschaftlicher, technischer Art. Das ist gewiss nicht allein das Verdienst des Kaisers, aber es gibt auch viele Dokumente, wo so was ein bisschen durchschimmert, er ließ etwas zu. Er regte sogar etwas an. Werden insofern diese glänzenden Jahre zu Recht auch unter seinem Namen subsumiert?
Andreas Kossert: Ich denke, gerade in der Kulturpolitik durchaus. Aber ich denke, das Problem ist, dass die deutsche Geschichtswissenschaft wahrscheinlich diese Frage von ausländischen, insbesondere angelsächsischen Forschern beantworten lassen wird, weil wir immer noch im Umgang mit dieser Epoche Probleme haben und gerade auch die Aspekte der Modernisierung dieser Epoche immer noch gerne ausblenden und in den Zusammenhang mit Militarismus, also wilhelminischen Staat stellen. Da gibt es ein großes Problem, wo die angelsächsische Forschung uns um Meilen voraus ist.
Michael Gerwarth: Herr Clark, dann helfen Sie uns doch. Verdienen diese Jahre von 1888 bis 1913 zu Recht wilhelminische Jahre genannt zu werden?
Christopher Clark: Ich denke, ja, und - das ist wichtig - nicht, weil Wilhelm sozusagen von sich aus die grundsätzlichen Initiativen, nicht, weil er die große Politik gesteuert hat oder die wichtigsten Impulse gegeben hat, keineswegs. Er war nicht so ein Herrscher und hatte auch nicht die Vollmachten, die es ihm ermöglicht hätten, sondern er wurde sozusagen zur Symbolfigur - für das Gute und für das Schlechte an dem damaligen deutschen Reich: Für einerseits die Nervosität, auch die Energie, die ungeheure Dynamik dieser Gesellschaft, die damals in einem Zustand des raschen Wachstums und der Modernisierung war, das ist keine Frage, anderseits natürlich für die missliche Lage Deutschlands auf dem internationalen Parkett - also, die sich langsam verschlechternde Beziehung zu den anderen europäischen Staaten. Für alles, was die Deutschen damals beschäftigte, stand Wilhelm II. als Symbol da.
Michael Gerwarth: Kommen wir mal zur Kriegsschuldfrage. Bei dem deutsch-englischen Historiker John Röhl liest sich das etwa so, dass Wilhelm II. völlig allein am Ersten Weltkrieg schuldig ist. Er gilt ihm auch als Vorbereiter des Nationalsozialismus, zugespitzt sogar bis hin zu dem Weg nach Auschwitz.
Christopher Clark: Ich kann mit der Behauptung, Wilhelm II. sei ein Vorbote Adolf Hitlers, keinen sinnvollen Inhalt verbinden. Wenn man die Akten liest, etwa Wilhelms Eingriff in die deutsche Diplomatie im Vorfeld des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, dann liest man immer wieder: Wilhelm schlägt den Österreichern vor, sie sollten freundlicher auf Belgrad, freundlicher auf Serbien eingehen. Sie sollten Industriekredite anbieten. Sie sollten nicht provozieren, wie er in einem Brief schreibt, "nicht nur ihre Größe zeigen, sondern auch ihre Freundschaft" und damit die Serben sozusagen gewinnen für eine Friedenspolitik auf dem Balkan.
Es ist meines Erachtens ganz klar: Dieser Kaiser hatte sehr wenig mit dem Ausbruch dieses Krieges zu tun. Er wurde auch absichtlich durch Bethmann Hollweg und seine Kollegen von Berlin entfernt. Er wurde auf die Nordlandreise geschickt, war gar nicht in Berlin, als die maßgeblichen Entscheidungen fielen.
Michael Gerwarth: Aber es gibt ja auch enorm unverständliche - um es ganz vorsichtig zu sagen - Reden von ihm. Denken Sie an die Hunnen-Rede. War er eigentlich am Ende verwirrt? Oder wie lässt sich sein Schreiben aus dem holländischen Exil an Hitler deuten, wo er ja dem Führer - in Anführungszeichen - zu seinem großartigen Sieg über den "Erbfeind Frankreich" gratuliert?
Christopher Clark: Sie haben einen sehr wichtigen Punkt angesprochen. Dieser Kaiser, dessen Ruf ist viel mehr durch das, was er gesagt hat, durch seine Äußerungen geschädigt worden, als durch seine Handlungen. Das schlechte Urteil über Wilhelm II. hat mit seinen Äußerungen zu tun. Seine Reden, seine Marginalien sind alles taktlose Sachen. Das ist absolut keine Frage.
Das, was sein Verhältnis zum Nationalsozialismus angeht, was die Frage im Exil betrifft, da war Wilhelm ganz eigennützig, wie fast immer eigentlich in seinem Leben. Er dachte an sich selbst und an seine Stellung, seine sehr verschlechterte Stellung natürlich nach Kriegsende und meinte, es wäre vielleicht möglich, weil man es ihm auch angedeutet hatte von der Naziseite her, dass es durch die Nazis vielleicht zu einer Restaurierung der Monarchie kommen könnte. Das war natürlich ein Don-Quichotte-hafter Traum, der natürlich nie eine Verwirklichungschance hatte. Als er das eingesehen hatte, hat er die Bewegung pauschal abgelehnt.
Michael Gerwarth: Den Masuren, Herr Kossert, habe ich in Ihren Büchern gelesen, ging es unter den Nationalsozialisten - so krass das klingen mag - besonders gut. Sie fühlten sich beachtet und respektiert nach langen Jahren. Später, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war immer wieder der Vorwurf zu hören, die Nazis hätten in Ostpreußen besondere Zustimmung erfahren. Stimmt das überhaupt?
Andreas Kossert: Im Reichsdurchschnitt nicht wirklich. Das ist natürlich ein altes Vorurteil auch überhaupt gegenüber dem preußischen Osten, dass er besonders nationalsozialistisch infiziert gewesen sei. Aber wenn Sie sich viele Regionen auch in Westdeutschland anschauen, in Oberhessen, im Braunschweiger Land, in Oldenburg, da haben Sie also wirklich ähnliche Wahlergebnisse.
Aber ich glaube, diese ländlichen Regionen hatten natürlich aufgrund dieser Strukturschwäche der späten Weimarer Republik eine Empfänglichkeit für den Nationalsozialismus, weil die Agrarpolitik der Weimarer Republik wirklich gescheitert ist, weil sich nur der adlige Großgrundbesitz letztendlich wieder irgendwie entschulden konnte und der mittlere Bauernstand leer ausging. Da setzte im Grunde genommen die nationalsozialistische Propaganda ein und hat das auch ganz deutlich erkannt. Goebbels hat erkannt, dass es dort durch die Strukturschwäche diese Empfänglichkeit gibt. Deshalb ist Hitler 1932 zweimal nach Ostpreußen gefahren und insbesondere nach Masuren und hat dann auch diese fulminanten Wahlergebnisse eingefahren.
Michael Gerwarth: Waren es bestimmte Schichten, die die Nationalsozialisten gewählt haben, oder zieht sich das unisono durch?
Andreas Kossert: Es war vor allen Dingen der mittlere Bauernstand, der von dieser Agrarkrise am meisten betroffen war. Der hat im südlichen Ostpreußen dominiert - dort gab es wenig adligen Großgrundbesitz - und war besonders empfänglich, weil ein Drittel aller Höfe in Ostpreußen im Jahr 1933 verschuldet waren.
Michael Gerwarth: Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihrer ostpreußischen Heimat, ein Thema, Herr Kossert, das im westlichen Deutschland, ich will nicht sagen "tabuisiert", das wäre nicht richtig, aber doch eher stiefmütterlich behandelt wurde. Hatten die Deutschen nicht den Krieg angefangen, so war immer wieder auch zu hören. Waren sie nicht begeisterte Hitleranhänger gewesen? Und überhaupt, angesichts der deutschen Verbrechen in Osteuropa, wer wollte denn da überhaupt noch von einem deutschen Leid was hören?
Andreas Kossert: Ja, es wurde verdrängt auf mehrfache Art und Weise. Letztendlich hat ja die deutsche Nachkriegsgesellschaft auch nicht über die deutsche Schuld gesprochen. Jahrzehntelang wurde überhaupt nicht über die Vergangenheit gesprochen, sondern man hat einen Materialismus des Wiederaufbaus quasi zur Ideologie gegossen. Dann stellten sich drängendere Fragen der deutschen Schuld, der Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg in den Vordergrund.
Da ist dann dieses Thema Flucht und Vertreibung, auch Deutsche als Opfer irgendwie ins Hintertreffen gekommen. Es war sicherlich kein Tabu. Wenn man etwas darüber wissen wollte, konnte man sich auch darüber informieren. Aber es ist dann seit den späten 60er Jahren in der Tat aus der öffentlichen Meinung irgendwie herausgefallen und wird jetzt allmählich wieder ein Thema, was ich sehr begrüße.
Michael Gerwarth: Wahrnehmen musste man es ja, denn es gab ja einen enormen Bevölkerungszuwachs. Sie haben in Ihrem Buch geschrieben, allein in Schleswig-Holstein war über ein Drittel der Bevölkerung aus dem Osten gekommen. Wie ist man denn damit umgegangen?
Andreas Kossert: Sie waren erst einmal unwillkommene Gäste. Die Mehrheitsgesellschaft hat gehofft, dass sie alle eine Rückfahrkarte in der Tasche hätten, um zurück nach Ostpreußen oder Pommern zu fahren.
Michael Gerwarth: Das haben die ja auch selbst geglaubt.
Andreas Kossert: Ja, das haben sie lange Zeit selbst geglaubt, auch aufgrund der feindlichen Aufnahme. Das war eben das Gefühl, dann lieber sogar unter Polen oder Russen zu leben, als bei Schleswig-Hosteinern oder Niedersachsen. Dann stellte sich aber relativ rasch heraus, dass diese Rückkehr nicht möglich war und dass die unwillkommenen Gäste auf Dauer bleiben würden. Dann begannen letztendlich die Friktionen, das Entstehen von Parallelgesellschaften, die eine Welt der Vertriebenen, die um den Verlust ihrer alten Heimat getrauert haben, und der Mehrheitsgesellschaft, die sie eigentlich als lästige Kostgänger betrachtet hat.
Michael Gerwarth: Andererseits, das weisen Sie in Ihrem Buch auch nachdrücklich nach, ist es ja so, dass die Vertriebenen mit Tatkraft sehr zum wirtschaftlichen Aufschwung beigetragen haben. Das ist ja im Grunde auch relativ untergegangen in den letzten Jahrzehnten. Wie kommt das? Wollte man das nicht wahrhaben oder nicht darüber reden?
Andreas Kossert: Dieser Aspekt, Vertriebene quasi als Agenten der Modernisierung, ist in der Tat etwas, was auch verdrängt wurde, wie das ganze Thema weg definiert wurde. Wir haben einen Gründungsmythos der alten Bundesrepublik, im nächsten Jahr feiern wir 60 Jahre Bundesrepublik, wo das Wort der "erfolgreichen Integration" letztendlich alle Brüche, alle Probleme, aber auch die positiven Seiten der Ankunft, weg definiert hat. Ich glaube, wir müssen einfach ein großes Fragezeichen hinter diesen Terminus "erfolgreiche Integration" setzen. Dann kommen diese Fragen alle von alleine.
Michael Gerwarth: Herr Clark, lassen Sie uns doch noch mal ein bisschen ideologisch vermintes Gebiet betreten. Die Deutschen verloren nach dem Zweiten Weltkrieg fast ein Drittel ihres Reichsgebietes. Vertreibung, Kollektivschuld, Annexion fremden Territoriums sind ja auch Verstöße gegen das Völkerrecht, Menschenrechtsverletzungen. Wird das noch mal so thematisiert? Was denken Sie?
Christopher Clark: Das wird natürlich auf absehbare Zeit ein zentrales Thema bleiben, keine Frage. Aber, was ich mir sehr wünsche, wäre, dass man dieser Fragestellung in der preußischen Geschichte nicht eine zu dominante Stellung zuweist. Die Fragestellung, wie es zur nationalsozialistischen Machtübernahme kam und wie es zu den Verbrechen des Nationalsozialismus kam, sind extrem wichtige Fragen und werden es auch bleiben. Das ist keine Frage.
Aber man darf nicht die gesamte deutsche Moderne, die Geschichte der deutschen Kleinstaaten und auch Preußens und anderer, nur aus dieser Perspektive heraus deuten und sehen. Es sind schon - wie ich das sehe - in den letzten drei Jahrzehnten viele Arbeiten erschienen, viele faszinierende Bücher, unter anderem natürlich Andreas Kosserts Bücher, die dann die Perspektive ein bisschen verringert haben, die uns ein bisschen aus dem Schatten dieser Fragestellung gebracht haben. Das ist meines Erachtens eine sehr positive Entwicklung.
Michael Gerwarth: Ihre Meinung dazu, Herr Kossert?
Andreas Kossert: Ich denke, dass wir - wie oftmals - ideologische Vorwände einfach nur vorgeschoben haben, um uns nicht damit beschäftigen zu müssen. Aber es ist und bleibt ein deutsches Thema. 14 Millionen Deutsche sind vertrieben worden. Das heißt, das Thema hat ja auch über 60 Jahre in den Familien weiter gelebt. Die Familienerinnerungen haben sich einfach nur nicht in der öffentlichen Erinnerung widergespiegelt. Ich glaube, was wir jetzt erleben, ist einfach ein ganz natürlicher Prozess, dass die Familienerinnerungen und das öffentliche Gedächtnis wieder zusammenkommen. Ich glaube, dann kann man auch tatsächlich dieses Thema völlig unideologisch sehen, was es eben auch eigentlich ist. Das merken wir jetzt ganz deutlich, dass das Nachfragen, das Bedürfnis der Deutschen, darüber zu sprechen, immens ist.
Michael Gerwarth: Herr Kossert, viele Ostpreußen, aber auch Schlesier, Pommern und Sudetendeutsche und ihre Nachkommen haben sich ja, das muss man auch mal sagen, mit dem Verlust ihrer alten Heimat immer noch nicht abgefunden, sondern sie träumen mitunter noch davon, irgendwann mal da hin zu reisen. Viele aus der Enkelgeneration haben sich inzwischen auch aufgemacht, um die Wurzeln ihrer Vorfahren zu entdecken. Es geht ja auch nicht zuletzt darum, das Wissen, den kulturellen Reichtum dieser Regionen wiederzuentdecken. Denken Sie, dass es irgendwann auch einen Platz für Deutsche in Masuren, in einem größer gewordenen Europa geben wird? Oder bleibt es bei der Illusion?
Andreas Kossert: Nein, das muss es sogar. Wenn wir wirklich von einem freien geeinten Europa reden und es nicht nur eine Phrase ist, dann muss dort auch ein Platz für Deutsche sein, die dort leben wollen. Das ist etwas, was kommen wird und kommen muss. Ich halte es auch für völlig ahistorisch, so zu tun, als ob wir keine Verbindung in diese Region hätten. Die Millionen Kontakte von Vertriebenen und ihren Nachfahren in diese Region hinein belegen es. Wenn ich heute nach Masuren fahre, finde ich schon viele Deutsche, die dort leben. Und es werden sicherlich in den nächsten Jahren noch mehr.
Michael Gerwarth: Wir könnten natürlich jetzt, Herr Clark, den großen Königsberger Kant in den Zeugenstand rufen und "Zum ewigen Frieden" zitieren, wo er von einem Weltbürger gesprochen hat. Da sagt er nämlich sinngemäß, dass ursprünglich niemand mehr Recht hat, an einem Ort der Erde zu sein, als die anderen. Ist das etwas, was irgendwann mal wieder Zukunft haben muss oder klingt zu pastoral in Ihren Ohren?
Christopher Clark: Nein. Das ist vielleicht pastoral, aber daran ist nichts Schlechtes. Ich finde, das hat durchaus Zukunft, immer mehr Zukunft - Gott sei Dank. Ich finde, das Interessante gerade an dieser Thematik Ostpreußen, Preußen ist, das waren ja vornationale Staatsgebilde. Und wir sind jetzt im Zeitalter des Nachnationalen. Wir sind aus dem Nationalen heraus oder bewegen uns in diese Richtung. Insofern nähern wir uns wieder den verlorenen Traditionen des Vornationalen. Insofern werden diese Traditionen immer wieder gegenwärtiger.
Michael Gerwarth: Das wäre ja eine rasante steile These, sozusagen das multiethnische Ostpreußen oder Preußen generell als Vorbild für die europäische Union.
Christopher Clark: Nicht schlecht. Ich habe da nichts dagegen einzuwenden. Ich weiß nicht, ob Andreas Kossert da was sagen möchte.
Andreas Kossert: Ich stimme auch zu. Am Anfang war Ostpreußen.
Michael Gerwarth: Wie reagieren eigentlich die Polen auf diese Entwicklung?
Andreas Kossert: Wir erleben ja in Polen eine Zweiteilung des Landes, dass die Gebiete, die früher deutsch waren, mit antideutschen Stimmungen auch im Wahlkampf nicht zu erreichen waren. Das ist eigentlich ein erstaunliches Phänomen, dass wir Prozesse kultureller Aneignung erleben, dass die polnischen Schlesier heute stolz sind auf die deutsche Vergangenheit und ihre Breslauer Nobelpreisträger im Rathaus aufhängen in einer Ehrenhalle. Das ist natürlich etwas, was in Warschau durchaus mit Befremden gesehen wird.
Aber das ist eine gute Entwicklung, dass sich auch in Polen wieder regionale Identitäten herausbilden, die im Kommunismus unterdrückt wurden und die das deutsche Erbe als Bereicherung annehmen. Deshalb denke ich, wenn wir auch diese Fragen nach dem kulturellen Erbe im Osten nicht stellen, dann werden sie die Polen stellen. Und sie werden uns fragen und wir werden vielleicht keine Antworten haben. Das wäre sehr peinlich.
Michael Gerwarth: Zu dieser Sendung gehört auch immer eine persönliche Buchempfehlung. Herr Kossert, was schlagen Sie vor? Was würden Sie unseren Hörern empfehlen?
Andreas Kossert: Ich würde Gustav Seibts Buch "Napoleon und Goethe" vorschlagen. Für mich als Historiker, der sich mit dem östlichen Europa beschäftigt, war das in den letzten Wochen eine fantastische Lektüre. Denn ich glaube, ich brauche immer wieder auch eine Rückkopplung in andere historische Räume und auch in andere historische Epochen, um Kraft für neue Themen zu finden.
Michael Gerwarth: Das Buch von Gustav Seibt ist im Beck Verlag München erschienen. Herr Clark, haben Sie sich was überlegt?
Christopher Clark: Ich hätte vielleicht zwei Empfehlungen. Erstens einen Roman, den ich sehr spannend gefunden habe und jetzt eben gelesen hatte von Amitav Gosh "The Sea of Poppies". Das erscheint demnächst auf Deutsch, ein fabelhaftes Buch über die Opiumkriege im 19. Jahrhundert. Die Literatur von Historikern ist überhaupt, finde ich, eine sehr interessante Lektüre und sehr bereichernd für das, was wir machen. Und außerdem, auch bei Beck neulich erschienen: Monika Wienforts "Kleine Geschichte Preußens", ein ausgezeichnetes Buch.
Michael Gerwarth: Meine Damen und Herren, das war Lesart Spezial von der Frankfurter Buchmesse mit Christopher Clark, Autor der Wilhelm-II.-Biografie, und Andreas Kossert, der hier seine Bücher "Kalte Heimat" und "Damals in Ostpreußen. Der Untergang einer deutschen Provinz" vorstellte. Ich bin Michael Gerwarth, danke Ihnen für Ihre engagierten Wortbeiträge und unseren Hörerinnen und Hörern für ihr Interesse an dieser Sendung.
Und ich begrüße Andreas Kossert. Sein Buch "Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945" stand lange in den Bestsellerlisten. Und gerade erschienen ist sein Buch "Damals in Ostpreußen. Der Untergang einer deutschen Provinz". Hallo, Herr Kossert.
Preußen, Herr Clark, das, so schien es, war doch wirklich von vorgestern. Und wenn, dann wurde es überfrachtet mit höchst negativen Urteilen wie: Hort des Militarismus, Kadavergehorsam oder bodenlose Rückständigkeit. Aufgelöst von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs schien es dazu verurteilt, dem dicken Staub der Geschichte anheim zu fallen. Dann haben Sie fast 1000 Seiten über Preußen geschrieben. Was ist aus Ihrer Sicht positiv an Preußen?
Christopher Clark: Ja, das Positive an Preußen ist: Natürlich kann man die üblichen Tugenden Preußens auflisten. Das gabs schon längst, einen positiven Diskurs zu Preußen: die Pünktlichkeit, die Ordentlichkeit, ein Staat, der sich nicht bestechen lässt, das Rechtsstaatliche und so weiter, und so fort. Diese Tugenden hatte man längst betont, aber immer im Zusammenhang mit dem Versuch, eine Bilanz über Preußen zu ziehen. Man hat gemeint, das sind zwar die Lichtseiten, die schönen Seiten der preußischen Tradition, dazu müssen wir uns auch bekennen.
Aber es gibt auch die Laster. Es gibt auch die Autoritätshörigkeit, Kadavergehorsam, Militarismus und so weiter. Ich wollte in meinem Buch eigentlich von diesem binären Gegensatz zwischen Gutem und Bösen wegkommen, wo es immer um Schatten und Licht geht. Ich wollte Preußen als einen europäischen Staat darstellen mit all den Differenzierungen, mit den Schattierungen und Nuancierungen, die dazu auch gehören.
Michael Gerwarth: Herr Kossert, das Gegensätzliche an Preußen - einerseits das Untertanentum, andererseits die aufgeklärte Toleranz, das hat Herr Clark ja auch schon ein bisschen beschrieben -, fast könnte man sagen, Preußen mit seinen Irrtümern, mit seinen Vorzügen war so was wie ein Vorbereiter Deutschlands auf dem Weg in die Moderne. Oder ist das letztlich zu glatt, weil wir ja wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist?
Andreas Kossert: Durchaus. Gerade, wenn wir zum Beispiel auch die preußische Geschichte durch das Prisma der ostpreußischen Geschichte betrachten: Dort wurde eine vornationale Welt lange Zeit noch im Nationalismus gelebt und war eine Selbstverständlichkeit, die eigentlich das alte Preußen repräsentiert hat. Diese Fragen vom multiethnischem Zusammenleben zum Beispiel, wie es in Ostpreußen über Jahrhunderte gelebt wurde und noch bis in die Zeit des Nationalismus, hat ja durchaus heute auch eine gewisse Relevanz.
Michael Gerwarth: Also, ein paar Jahrhunderte Irrtümer, Tragödien, aber auch geistige, wissenschaftliche, auch ökonomische Triumphe bei Preußen. Das würde ich auch gern von Ihnen wissen, Herr Clark, ist Preußen so was wie ein Vorbereiter Deutschlands in die Moderne?
Christopher Clark: So habe ich Preußen eigentlich gar nicht gesehen. Ich finde, Preußen ist eigentlich unter den europäischen Mächten einzureihen, unter den europäischen Staaten. Dieser Blick, Preußen als Vorreiter des deutschen Nationalstaates zu sehen, führt meines Erachtens in die Irre. Denn Preußen war schon längst ein europäischer Staat, bevor er sozusagen ein deutscher Staat wurde. Preußen hat gar keine nationale Sendung gehabt.
Man denke zum Beispiel an diesen großen genialen, brillanten König Friedrich den Großen. Er konnte zwar ein bisschen Deutsch, aber er hat viel lieber Französisch gesprochen. Er nahm sich der französischen Kultur an. Er spielte die Flöte. Das war damals ein französisches Instrument.
Also, Preußen war, weder was die Hofkultur betraf, noch was die Zusammensetzung seiner Bevölkerung betraf, ein deutscher Staat. Es waren Polen in diesem Preußen. Es waren Litauer, es waren das, was wir heute Flamen nennen würden, also flämisch Sprechende. Holländisch, also Niederländisch wurde auch im Westen gesprochen. Es war eigentlich ein Vielsprachenstaat, ein Staat mit vielen Kulturen, ein Multikulti-Staat sozusagen, kein deutscher Staat im engen Sinne.
Michael Gerwarth: Nun hat ja gerade der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt noch mal gesagt: "Eine multikulturelle Gesellschaft ist eine Illusion, eine Erfindung von Intellektuellen." Aber in Preußen trifft das Multikulturelle zu?
Christopher Clark: In Preußen wurde das gelebt und praktiziert.
Michael Gerwarth: Wann, Herr Clark, war denn die große Zäsur? Mit dem Aufgehen Preußens in das Wilhelminische Kaiserreich?
Christopher Clark: Ja, so sehe ich das. Ich finde, Friedrich Wilhelm IV., der damals König war, als die Revolution 1848 ausbrach, hatte gesagt: Preußen geht fortan in Deutschland auf. Das war sozusagen ein Versprechen. Aber da hat er natürlich auch das Problem angesprochen, dass es ein richtiges Preußen nicht mehr geben würde, wenn es ein Deutschland geben sollte, dass Preußen sich selbst aufgeben würde. Und das ist in der Tat so gekommen.
Michael Gerwarth: Vorher musste man natürlich erst noch mal den Kontrahenten in Wien besiegen.
Christopher Clark: Das musste man, allerdings. Die Österreicher wollten auch sozusagen diesen Prozess der Nationwerdung Deutschlands kontrollieren. Die mussten erst ausgeschaltet werden.
Michael Gerwarth: Herr Kossert, wie hat sich denn Bismarcks kleindeutsche Lösung mit der Reichsgründung von 1871 auf das ethnisch vielfältige Ostpreußen ausgewirkt?
Andreas Kossert: Im Grunde begann dann der Niedergang dieser multiethnischen Vielfalt, dass man in der Tat einen ethnischen homogenen Nationalismus definiert hat, der auf einmal das, was wirklich noch bis in diese Zeit Konsens war, hinterfragt hat. Das heißt, dass ab 1872 dann per Kabinettsorder die litauische und polnische Sprache in den preußischen Elementarschulen von einem Tag zum anderen verboten wurde.
Aber wir sehen trotz allem, selbst bis in die wilhelminische Zeit hinein, ja, sogar bis in die Weimarer Republik gibt es noch diese späten Reflexe des vornationalen Preußen, die wir gerade in der Geschichte Ostpreußens sehen, dass zum Beispiel in Königsberg noch in der Nazizeit polnisch- und litauischsprachige evangelische Pastoren ausgebildet wurden.
Michael Gerwarth: Lassen Sie uns noch mal bei Wilhelm II. bleiben. Schnell sei gesagt: In diesen Tagen erscheinen drei Bücher über den Kaiser. Hatte der denn ein Herz für die Ostpreußen? Oder war ihm das relativ gleichgültig?
Andreas Kossert: Also, Wilhelm II. hatte keine besondere Beziehung zu Ostpreußen, es sei denn, es ging um die Jagd. Das war natürlich seine große Leidenschaft. Der frönte er in der Rominter Heide. Das war sein kaiserliches Jagdrevier. Deshalb ist er sehr oft dort gewesen. Aber politisch, gesellschaftlich hat er sich für Ostpreußen eigentlich relativ wenig interessiert, es sei denn, in dieser Tradition auch des "Ostlandreiters", dieses Ritters in Anknüpfung an die Schlacht von Tannenberg. Das hat er natürlich auch sehr für seine Zwecke instrumentalisiert.
Michael Gerwarth: Ist das denn nicht erstaunlich? Denn die Wiege Preußens stand ja in Königsberg.
Andreas Kossert: Das ist sehr erstaunlich. Es lässt sich durchaus fragen: War er dann in der Tat ein deutscher Monarch oder noch ein preußischer König? Was ist er mehr gewesen? Auf keinen Fall hat man eine besondere Hinwendung zu alten ostpreußischen Traditionen bei ihm sehen können.
Michael Gerwarth: Herr Clark, Wilhelm II., ein liberaler und weltoffener Herrscher sollte er eigentlich werden. Aber dazu musste er erst mal selber reformiert werden, und zwar im Sinne seiner Eltern. Er kam mit einem verkrüppelten Arm auf die Welt. Dann hatte er so was - heute würden man sagen - wie eine verfrühte Apparatemedizin zu durchlaufen. Er kam in einen Streckkasten. Das hörte sich alles ganz gruselig an. Wurde er dadurch, was er wurde?
Christopher Clark: Diese Frage nach den frühen Kindheitserfahrungen beziehungsweise nach der möglichen Geisteskrankheit oder womöglich auch nach Hirnschaden bei der Geburt - das sind meines Erachtens Fragen, die die Problematik Wilhelm II. zu sehr auf innere Mängel, auf persönliche individualistische Faktoren reduzieren.
Das mit dem gelähmten Arm war für ihn natürlich schwer, aber das hielt sich alles innerhalb des Rahmens der Normalität, so, wie ich das sehe. Die Beziehung zu den Eltern war normal. Das war sogar eine sehr liebreiche Familie. Da waren eigentlich gar keine so gravierenden Probleme, dass man sozusagen eine ganze Karriere aus dieser frühen Kindheit heraus erklären könnte.
Michael Gerwarth: Nun ist in Deutschland ja sehr beliebt, darüber psychologische Gedanken anzustellen. Das geht bis hin zu Hitler mit seinem Hausarzt und was das für Auswirkungen hatte. Sie finden das völlig abwegig?
Christopher Clark: Ich finde die Psychoanalyse toter Personen ein abenteuerliches Unternehmen. Es ist höchst spekulativ. Der Mensch kann keine Antworten geben. Die Psychoanalyse lebt vom Gespräch, vom Dialog und ist an sich eine sehr wertvolle Disziplin, keine Frage, aber als historische Methode ist sie problematisch, wenn sie bei toten Menschen angewandt wird.
Michael Gerwarth: Dann bleiben wir noch mal bei einer - salopp gesagt - seltsamen Methode. In den angelsächsischen Ländern ist es eine gute Tradition unter Historikern, zu fragen: Was wäre gewesen, wenn? Das gilt in Deutschland als ein wenig "anrüchig". Wir wagen es aber trotzdem. Deswegen frage ich Sie: Hätte Deutschland einen anderen Weg eingeschlagen, wenn ein anderer Herrscher als Wilhelm II. die Geschicke des Landes, also das Land ins 20. Jahrhundert geführt hätte?
Christopher Clark: Sehr interessant ist die Frage, was passiert wäre, wenn sein Vater nicht frühzeitig an Kehlkopfkrebs gestorben wäre, der Vater, der in der Forschung als liberal gesinnt gilt, mit einer liberalen britischen Frau, die Tochter Queen Victorias, ob es da zu einem anderen Lauf der Dinge gekommen wäre.
Ich finde, da darf man nicht übertreiben. Zum Beispiel zum Flottenbau wäre es auf jeden Fall sowieso gekommen. Der Vater war auch dran interessiert. Zu Spannungen zwischen Deutschland und Großbritannien und womöglich auch mit den anderen europäischen Staaten wäre es auch gekommen - aus strukturellen Gründen, wegen des Staatensystems bei der damaligen Entwicklung. Also, so viel Unterschied hätte das wahrscheinlich nicht gemacht.
Sehr wichtig ist wohl das völlige Scheitern Wilhelm II. als Führungskraft, also die Tatsache, dass er für dieses noch offene Verfassungsgerüst keine Lösungen gefunden hat, für die Fragen, die nach der Reichsgründung ungelöst blieben, so wie zum Beispiel den Status des Militärs gegenüber der zivilen Verwaltung.
Michael Gerwarth: Andererseits, Herr Kossert, die Jahre von 1888 bis 1913 gehörten ja zu den - ich sage mal ein wenig übertreibend - zu den "großartigsten" Epochen in der deutschen Geschichte. Dort fand enorm viel statt, Bewegung ökonomischer, wissenschaftlicher, technischer Art. Das ist gewiss nicht allein das Verdienst des Kaisers, aber es gibt auch viele Dokumente, wo so was ein bisschen durchschimmert, er ließ etwas zu. Er regte sogar etwas an. Werden insofern diese glänzenden Jahre zu Recht auch unter seinem Namen subsumiert?
Andreas Kossert: Ich denke, gerade in der Kulturpolitik durchaus. Aber ich denke, das Problem ist, dass die deutsche Geschichtswissenschaft wahrscheinlich diese Frage von ausländischen, insbesondere angelsächsischen Forschern beantworten lassen wird, weil wir immer noch im Umgang mit dieser Epoche Probleme haben und gerade auch die Aspekte der Modernisierung dieser Epoche immer noch gerne ausblenden und in den Zusammenhang mit Militarismus, also wilhelminischen Staat stellen. Da gibt es ein großes Problem, wo die angelsächsische Forschung uns um Meilen voraus ist.
Michael Gerwarth: Herr Clark, dann helfen Sie uns doch. Verdienen diese Jahre von 1888 bis 1913 zu Recht wilhelminische Jahre genannt zu werden?
Christopher Clark: Ich denke, ja, und - das ist wichtig - nicht, weil Wilhelm sozusagen von sich aus die grundsätzlichen Initiativen, nicht, weil er die große Politik gesteuert hat oder die wichtigsten Impulse gegeben hat, keineswegs. Er war nicht so ein Herrscher und hatte auch nicht die Vollmachten, die es ihm ermöglicht hätten, sondern er wurde sozusagen zur Symbolfigur - für das Gute und für das Schlechte an dem damaligen deutschen Reich: Für einerseits die Nervosität, auch die Energie, die ungeheure Dynamik dieser Gesellschaft, die damals in einem Zustand des raschen Wachstums und der Modernisierung war, das ist keine Frage, anderseits natürlich für die missliche Lage Deutschlands auf dem internationalen Parkett - also, die sich langsam verschlechternde Beziehung zu den anderen europäischen Staaten. Für alles, was die Deutschen damals beschäftigte, stand Wilhelm II. als Symbol da.
Michael Gerwarth: Kommen wir mal zur Kriegsschuldfrage. Bei dem deutsch-englischen Historiker John Röhl liest sich das etwa so, dass Wilhelm II. völlig allein am Ersten Weltkrieg schuldig ist. Er gilt ihm auch als Vorbereiter des Nationalsozialismus, zugespitzt sogar bis hin zu dem Weg nach Auschwitz.
Christopher Clark: Ich kann mit der Behauptung, Wilhelm II. sei ein Vorbote Adolf Hitlers, keinen sinnvollen Inhalt verbinden. Wenn man die Akten liest, etwa Wilhelms Eingriff in die deutsche Diplomatie im Vorfeld des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges, dann liest man immer wieder: Wilhelm schlägt den Österreichern vor, sie sollten freundlicher auf Belgrad, freundlicher auf Serbien eingehen. Sie sollten Industriekredite anbieten. Sie sollten nicht provozieren, wie er in einem Brief schreibt, "nicht nur ihre Größe zeigen, sondern auch ihre Freundschaft" und damit die Serben sozusagen gewinnen für eine Friedenspolitik auf dem Balkan.
Es ist meines Erachtens ganz klar: Dieser Kaiser hatte sehr wenig mit dem Ausbruch dieses Krieges zu tun. Er wurde auch absichtlich durch Bethmann Hollweg und seine Kollegen von Berlin entfernt. Er wurde auf die Nordlandreise geschickt, war gar nicht in Berlin, als die maßgeblichen Entscheidungen fielen.
Michael Gerwarth: Aber es gibt ja auch enorm unverständliche - um es ganz vorsichtig zu sagen - Reden von ihm. Denken Sie an die Hunnen-Rede. War er eigentlich am Ende verwirrt? Oder wie lässt sich sein Schreiben aus dem holländischen Exil an Hitler deuten, wo er ja dem Führer - in Anführungszeichen - zu seinem großartigen Sieg über den "Erbfeind Frankreich" gratuliert?
Christopher Clark: Sie haben einen sehr wichtigen Punkt angesprochen. Dieser Kaiser, dessen Ruf ist viel mehr durch das, was er gesagt hat, durch seine Äußerungen geschädigt worden, als durch seine Handlungen. Das schlechte Urteil über Wilhelm II. hat mit seinen Äußerungen zu tun. Seine Reden, seine Marginalien sind alles taktlose Sachen. Das ist absolut keine Frage.
Das, was sein Verhältnis zum Nationalsozialismus angeht, was die Frage im Exil betrifft, da war Wilhelm ganz eigennützig, wie fast immer eigentlich in seinem Leben. Er dachte an sich selbst und an seine Stellung, seine sehr verschlechterte Stellung natürlich nach Kriegsende und meinte, es wäre vielleicht möglich, weil man es ihm auch angedeutet hatte von der Naziseite her, dass es durch die Nazis vielleicht zu einer Restaurierung der Monarchie kommen könnte. Das war natürlich ein Don-Quichotte-hafter Traum, der natürlich nie eine Verwirklichungschance hatte. Als er das eingesehen hatte, hat er die Bewegung pauschal abgelehnt.
Michael Gerwarth: Den Masuren, Herr Kossert, habe ich in Ihren Büchern gelesen, ging es unter den Nationalsozialisten - so krass das klingen mag - besonders gut. Sie fühlten sich beachtet und respektiert nach langen Jahren. Später, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war immer wieder der Vorwurf zu hören, die Nazis hätten in Ostpreußen besondere Zustimmung erfahren. Stimmt das überhaupt?
Andreas Kossert: Im Reichsdurchschnitt nicht wirklich. Das ist natürlich ein altes Vorurteil auch überhaupt gegenüber dem preußischen Osten, dass er besonders nationalsozialistisch infiziert gewesen sei. Aber wenn Sie sich viele Regionen auch in Westdeutschland anschauen, in Oberhessen, im Braunschweiger Land, in Oldenburg, da haben Sie also wirklich ähnliche Wahlergebnisse.
Aber ich glaube, diese ländlichen Regionen hatten natürlich aufgrund dieser Strukturschwäche der späten Weimarer Republik eine Empfänglichkeit für den Nationalsozialismus, weil die Agrarpolitik der Weimarer Republik wirklich gescheitert ist, weil sich nur der adlige Großgrundbesitz letztendlich wieder irgendwie entschulden konnte und der mittlere Bauernstand leer ausging. Da setzte im Grunde genommen die nationalsozialistische Propaganda ein und hat das auch ganz deutlich erkannt. Goebbels hat erkannt, dass es dort durch die Strukturschwäche diese Empfänglichkeit gibt. Deshalb ist Hitler 1932 zweimal nach Ostpreußen gefahren und insbesondere nach Masuren und hat dann auch diese fulminanten Wahlergebnisse eingefahren.
Michael Gerwarth: Waren es bestimmte Schichten, die die Nationalsozialisten gewählt haben, oder zieht sich das unisono durch?
Andreas Kossert: Es war vor allen Dingen der mittlere Bauernstand, der von dieser Agrarkrise am meisten betroffen war. Der hat im südlichen Ostpreußen dominiert - dort gab es wenig adligen Großgrundbesitz - und war besonders empfänglich, weil ein Drittel aller Höfe in Ostpreußen im Jahr 1933 verschuldet waren.
Michael Gerwarth: Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihrer ostpreußischen Heimat, ein Thema, Herr Kossert, das im westlichen Deutschland, ich will nicht sagen "tabuisiert", das wäre nicht richtig, aber doch eher stiefmütterlich behandelt wurde. Hatten die Deutschen nicht den Krieg angefangen, so war immer wieder auch zu hören. Waren sie nicht begeisterte Hitleranhänger gewesen? Und überhaupt, angesichts der deutschen Verbrechen in Osteuropa, wer wollte denn da überhaupt noch von einem deutschen Leid was hören?
Andreas Kossert: Ja, es wurde verdrängt auf mehrfache Art und Weise. Letztendlich hat ja die deutsche Nachkriegsgesellschaft auch nicht über die deutsche Schuld gesprochen. Jahrzehntelang wurde überhaupt nicht über die Vergangenheit gesprochen, sondern man hat einen Materialismus des Wiederaufbaus quasi zur Ideologie gegossen. Dann stellten sich drängendere Fragen der deutschen Schuld, der Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg in den Vordergrund.
Da ist dann dieses Thema Flucht und Vertreibung, auch Deutsche als Opfer irgendwie ins Hintertreffen gekommen. Es war sicherlich kein Tabu. Wenn man etwas darüber wissen wollte, konnte man sich auch darüber informieren. Aber es ist dann seit den späten 60er Jahren in der Tat aus der öffentlichen Meinung irgendwie herausgefallen und wird jetzt allmählich wieder ein Thema, was ich sehr begrüße.
Michael Gerwarth: Wahrnehmen musste man es ja, denn es gab ja einen enormen Bevölkerungszuwachs. Sie haben in Ihrem Buch geschrieben, allein in Schleswig-Holstein war über ein Drittel der Bevölkerung aus dem Osten gekommen. Wie ist man denn damit umgegangen?
Andreas Kossert: Sie waren erst einmal unwillkommene Gäste. Die Mehrheitsgesellschaft hat gehofft, dass sie alle eine Rückfahrkarte in der Tasche hätten, um zurück nach Ostpreußen oder Pommern zu fahren.
Michael Gerwarth: Das haben die ja auch selbst geglaubt.
Andreas Kossert: Ja, das haben sie lange Zeit selbst geglaubt, auch aufgrund der feindlichen Aufnahme. Das war eben das Gefühl, dann lieber sogar unter Polen oder Russen zu leben, als bei Schleswig-Hosteinern oder Niedersachsen. Dann stellte sich aber relativ rasch heraus, dass diese Rückkehr nicht möglich war und dass die unwillkommenen Gäste auf Dauer bleiben würden. Dann begannen letztendlich die Friktionen, das Entstehen von Parallelgesellschaften, die eine Welt der Vertriebenen, die um den Verlust ihrer alten Heimat getrauert haben, und der Mehrheitsgesellschaft, die sie eigentlich als lästige Kostgänger betrachtet hat.
Michael Gerwarth: Andererseits, das weisen Sie in Ihrem Buch auch nachdrücklich nach, ist es ja so, dass die Vertriebenen mit Tatkraft sehr zum wirtschaftlichen Aufschwung beigetragen haben. Das ist ja im Grunde auch relativ untergegangen in den letzten Jahrzehnten. Wie kommt das? Wollte man das nicht wahrhaben oder nicht darüber reden?
Andreas Kossert: Dieser Aspekt, Vertriebene quasi als Agenten der Modernisierung, ist in der Tat etwas, was auch verdrängt wurde, wie das ganze Thema weg definiert wurde. Wir haben einen Gründungsmythos der alten Bundesrepublik, im nächsten Jahr feiern wir 60 Jahre Bundesrepublik, wo das Wort der "erfolgreichen Integration" letztendlich alle Brüche, alle Probleme, aber auch die positiven Seiten der Ankunft, weg definiert hat. Ich glaube, wir müssen einfach ein großes Fragezeichen hinter diesen Terminus "erfolgreiche Integration" setzen. Dann kommen diese Fragen alle von alleine.
Michael Gerwarth: Herr Clark, lassen Sie uns doch noch mal ein bisschen ideologisch vermintes Gebiet betreten. Die Deutschen verloren nach dem Zweiten Weltkrieg fast ein Drittel ihres Reichsgebietes. Vertreibung, Kollektivschuld, Annexion fremden Territoriums sind ja auch Verstöße gegen das Völkerrecht, Menschenrechtsverletzungen. Wird das noch mal so thematisiert? Was denken Sie?
Christopher Clark: Das wird natürlich auf absehbare Zeit ein zentrales Thema bleiben, keine Frage. Aber, was ich mir sehr wünsche, wäre, dass man dieser Fragestellung in der preußischen Geschichte nicht eine zu dominante Stellung zuweist. Die Fragestellung, wie es zur nationalsozialistischen Machtübernahme kam und wie es zu den Verbrechen des Nationalsozialismus kam, sind extrem wichtige Fragen und werden es auch bleiben. Das ist keine Frage.
Aber man darf nicht die gesamte deutsche Moderne, die Geschichte der deutschen Kleinstaaten und auch Preußens und anderer, nur aus dieser Perspektive heraus deuten und sehen. Es sind schon - wie ich das sehe - in den letzten drei Jahrzehnten viele Arbeiten erschienen, viele faszinierende Bücher, unter anderem natürlich Andreas Kosserts Bücher, die dann die Perspektive ein bisschen verringert haben, die uns ein bisschen aus dem Schatten dieser Fragestellung gebracht haben. Das ist meines Erachtens eine sehr positive Entwicklung.
Michael Gerwarth: Ihre Meinung dazu, Herr Kossert?
Andreas Kossert: Ich denke, dass wir - wie oftmals - ideologische Vorwände einfach nur vorgeschoben haben, um uns nicht damit beschäftigen zu müssen. Aber es ist und bleibt ein deutsches Thema. 14 Millionen Deutsche sind vertrieben worden. Das heißt, das Thema hat ja auch über 60 Jahre in den Familien weiter gelebt. Die Familienerinnerungen haben sich einfach nur nicht in der öffentlichen Erinnerung widergespiegelt. Ich glaube, was wir jetzt erleben, ist einfach ein ganz natürlicher Prozess, dass die Familienerinnerungen und das öffentliche Gedächtnis wieder zusammenkommen. Ich glaube, dann kann man auch tatsächlich dieses Thema völlig unideologisch sehen, was es eben auch eigentlich ist. Das merken wir jetzt ganz deutlich, dass das Nachfragen, das Bedürfnis der Deutschen, darüber zu sprechen, immens ist.
Michael Gerwarth: Herr Kossert, viele Ostpreußen, aber auch Schlesier, Pommern und Sudetendeutsche und ihre Nachkommen haben sich ja, das muss man auch mal sagen, mit dem Verlust ihrer alten Heimat immer noch nicht abgefunden, sondern sie träumen mitunter noch davon, irgendwann mal da hin zu reisen. Viele aus der Enkelgeneration haben sich inzwischen auch aufgemacht, um die Wurzeln ihrer Vorfahren zu entdecken. Es geht ja auch nicht zuletzt darum, das Wissen, den kulturellen Reichtum dieser Regionen wiederzuentdecken. Denken Sie, dass es irgendwann auch einen Platz für Deutsche in Masuren, in einem größer gewordenen Europa geben wird? Oder bleibt es bei der Illusion?
Andreas Kossert: Nein, das muss es sogar. Wenn wir wirklich von einem freien geeinten Europa reden und es nicht nur eine Phrase ist, dann muss dort auch ein Platz für Deutsche sein, die dort leben wollen. Das ist etwas, was kommen wird und kommen muss. Ich halte es auch für völlig ahistorisch, so zu tun, als ob wir keine Verbindung in diese Region hätten. Die Millionen Kontakte von Vertriebenen und ihren Nachfahren in diese Region hinein belegen es. Wenn ich heute nach Masuren fahre, finde ich schon viele Deutsche, die dort leben. Und es werden sicherlich in den nächsten Jahren noch mehr.
Michael Gerwarth: Wir könnten natürlich jetzt, Herr Clark, den großen Königsberger Kant in den Zeugenstand rufen und "Zum ewigen Frieden" zitieren, wo er von einem Weltbürger gesprochen hat. Da sagt er nämlich sinngemäß, dass ursprünglich niemand mehr Recht hat, an einem Ort der Erde zu sein, als die anderen. Ist das etwas, was irgendwann mal wieder Zukunft haben muss oder klingt zu pastoral in Ihren Ohren?
Christopher Clark: Nein. Das ist vielleicht pastoral, aber daran ist nichts Schlechtes. Ich finde, das hat durchaus Zukunft, immer mehr Zukunft - Gott sei Dank. Ich finde, das Interessante gerade an dieser Thematik Ostpreußen, Preußen ist, das waren ja vornationale Staatsgebilde. Und wir sind jetzt im Zeitalter des Nachnationalen. Wir sind aus dem Nationalen heraus oder bewegen uns in diese Richtung. Insofern nähern wir uns wieder den verlorenen Traditionen des Vornationalen. Insofern werden diese Traditionen immer wieder gegenwärtiger.
Michael Gerwarth: Das wäre ja eine rasante steile These, sozusagen das multiethnische Ostpreußen oder Preußen generell als Vorbild für die europäische Union.
Christopher Clark: Nicht schlecht. Ich habe da nichts dagegen einzuwenden. Ich weiß nicht, ob Andreas Kossert da was sagen möchte.
Andreas Kossert: Ich stimme auch zu. Am Anfang war Ostpreußen.
Michael Gerwarth: Wie reagieren eigentlich die Polen auf diese Entwicklung?
Andreas Kossert: Wir erleben ja in Polen eine Zweiteilung des Landes, dass die Gebiete, die früher deutsch waren, mit antideutschen Stimmungen auch im Wahlkampf nicht zu erreichen waren. Das ist eigentlich ein erstaunliches Phänomen, dass wir Prozesse kultureller Aneignung erleben, dass die polnischen Schlesier heute stolz sind auf die deutsche Vergangenheit und ihre Breslauer Nobelpreisträger im Rathaus aufhängen in einer Ehrenhalle. Das ist natürlich etwas, was in Warschau durchaus mit Befremden gesehen wird.
Aber das ist eine gute Entwicklung, dass sich auch in Polen wieder regionale Identitäten herausbilden, die im Kommunismus unterdrückt wurden und die das deutsche Erbe als Bereicherung annehmen. Deshalb denke ich, wenn wir auch diese Fragen nach dem kulturellen Erbe im Osten nicht stellen, dann werden sie die Polen stellen. Und sie werden uns fragen und wir werden vielleicht keine Antworten haben. Das wäre sehr peinlich.
Michael Gerwarth: Zu dieser Sendung gehört auch immer eine persönliche Buchempfehlung. Herr Kossert, was schlagen Sie vor? Was würden Sie unseren Hörern empfehlen?
Andreas Kossert: Ich würde Gustav Seibts Buch "Napoleon und Goethe" vorschlagen. Für mich als Historiker, der sich mit dem östlichen Europa beschäftigt, war das in den letzten Wochen eine fantastische Lektüre. Denn ich glaube, ich brauche immer wieder auch eine Rückkopplung in andere historische Räume und auch in andere historische Epochen, um Kraft für neue Themen zu finden.
Michael Gerwarth: Das Buch von Gustav Seibt ist im Beck Verlag München erschienen. Herr Clark, haben Sie sich was überlegt?
Christopher Clark: Ich hätte vielleicht zwei Empfehlungen. Erstens einen Roman, den ich sehr spannend gefunden habe und jetzt eben gelesen hatte von Amitav Gosh "The Sea of Poppies". Das erscheint demnächst auf Deutsch, ein fabelhaftes Buch über die Opiumkriege im 19. Jahrhundert. Die Literatur von Historikern ist überhaupt, finde ich, eine sehr interessante Lektüre und sehr bereichernd für das, was wir machen. Und außerdem, auch bei Beck neulich erschienen: Monika Wienforts "Kleine Geschichte Preußens", ein ausgezeichnetes Buch.
Michael Gerwarth: Meine Damen und Herren, das war Lesart Spezial von der Frankfurter Buchmesse mit Christopher Clark, Autor der Wilhelm-II.-Biografie, und Andreas Kossert, der hier seine Bücher "Kalte Heimat" und "Damals in Ostpreußen. Der Untergang einer deutschen Provinz" vorstellte. Ich bin Michael Gerwarth, danke Ihnen für Ihre engagierten Wortbeiträge und unseren Hörerinnen und Hörern für ihr Interesse an dieser Sendung.