Priesterseminar Halki in der Türkei

Weltoffene Theologen fehlen

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Griechisch-orthodoxe Priesterschule und ihre historische Schule für Religionsunterricht.
Schule der Verständigung: Das orthodoxe Priesterseminar auf der Insel Heybeliada bei Istanbul wurde vom türkischen Staat geschlossen. © ZUMA Press Wire/ Serkan Senturk
Von Susanne Güsten · 07.11.2021
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Vor 50 Jahren wurde das orthodoxe Priesterseminar Halki bei Istanbul geschlossen. Es war bekannt für einen Geist der Offenheit und interreligiösen Verständigung. Diesen wollen die letzten lebenden Absolventen noch möglichst lange erhalten.
Möwen begleiten die Fähre aus Istanbul über das Marmarameer zur Insel Heybeliada. Aus dem Wald auf einer Anhöhe der Insel lugt das orthodoxe Kloster Halki mit seinen Giebeln hervor wie ein verwunschenes Schloss. Seit Jahrzehnten liegt das Priesterseminar im Dornröschenschlaf - genau 50 Jahre, wie es Konstantinos Delikostantis bei einem Gottesdienst in Halki kürzlich durchzuckte:
"Während der Liturgie habe ich so ein sonderbares Gefühl gehabt. Ich habe mich gefragt, was ist mit mir heute? Dann ist mir plötzlich in den Sinn gekommen, dass ich vor 50 Jahren, also bei der Zeremonie des Abschlusses der Studien von Halki, in Anwesenheit des Patriarchen Athenagoras, der uns gesegnet hat, dass ich an dem Tag diese Zeremonie erlebt habe - und dass ich nach 50 Jahren dort stand, aber die Schule so viele Jahre geschlossen ist."

Ein bürokratischer Vorwand führt zur Schließung

Halki ist das theologische Seminar des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel, dem spirituellen Zentrum von mehr als 300 Millionen orthodoxen Christen in aller Welt. Im Jahr 1971 vom türkischen Staat unter einem bürokratischen Vorwand geschlossen, darf die Schule seither keine Geistlichen mehr ausbilden. Das Patriarchat hat deshalb seit einem halben Jahrhundert keinen geistlichen Nachwuchs mehr und steht heute vor dem Ende seiner theologischen Tradition.
Konstantinos Delikostantis ist mit 73 Jahren der jüngste lebende Absolvent von Halki. Sieben Jahre lang studierte er als junger Mann im Kloster. Eigentlich sollte er noch heute dort leben und lehren.
"Der Patriarch sagt mir immer, dein Zuhause ist hier", erzählt Delikostantis. "Das ist der alte Gedanke, dass ich auch - wie er selbst - in Halki Professor hätte werden sollen, dafür haben sie mich nach Deutschland geschickt. Weder der Patriarch ist Professor geworden, weil die Schule 1971 aufgelöst wurde - weder das eine noch das andere ist Wirklichkeit geworden. Schade."

Große Hoffnungen in die Ökumene

Delikostantis war in Tübingen, als das Seminar geschlossen wurde: Mit dem Studium von Philosophie und westlicher Theologie sollte er sich dort auf seine Zukunft als Professor am Seminar Halki vorbereiten. Denn was Halki stets auszeichnete und von anderen orthodoxen Priesterseminaren unterschied, war der weltoffene und ökumenische Geist der Ausbildung.
"Wir sind in der orthodoxen Welt die erste Fakultät gewesen, wo wir eine Geschichte der ökumenischen Bewegung als Lehrfach hatten. Das war einzigartig", sagt Delikostantis. "Wir wussten als Studenten, was in der Ökumene läuft. Damals waren natürlich die Hoffnungen größer. Heute sagen wir, dass der Himmel der Ökumene bewölkt ist. Damals gab es eine größere Hoffnung. Ich habe gemeint, in einigen Jahren werden wir mit den Katholiken kommunizieren."

Im engen Kontakt mit dem Patriarchen

Für die ökumenische Bewegung, die eine weltweite Einigung aller Konfessionen des Christentums anstrebt, waren es aufregende Jahre, die Delikostantis in Halki erlebte. In seine Studienzeit fiel das historische Treffen von Patriarch Athenagoras und Papst Paul VI. in Jerusalem im Jahr 1964, ebenso die Rücknahme der gegenseitigen Exkommunikationen von orthodoxer und katholischer Kirche nach fast tausend Jahren. Als Student in Halki war Delikostantis immer ganz nah dran.
Konstantinos Delikostantis, mit Brille, im schwarzen Sakko, mit Krawatte, blickt freundlich in die Kamera.
Der Theologe und Philosoph Konstantinos Delikostantis ist dem Kloster Halki bis heute verbunden.© Deutschlandradio / Susanne Güsten
"Weil wir mit dem Patriarchat kommunizierende Gefäße waren", erzählt Delikostantis. "Wir waren eine Einheit. Wenn jemand von den Katholiken während der Zeit von Athenagoras kam, hat er auch Halki besucht, wir haben das erlebt: komische Leute, andere Trachten - wir haben mit ihnen gesprochen und alles. Es kamen, ich erinnere mich an Kardinal Döpfner, an den Patriarchen Justinianos von Rumänien, an Kardinal Bea. In meiner Zeit war wirklich alles voll Offenheit. Das hat mit Athenagoras zu tun. Er kam oft zu uns."

Schöne Lichtungen im Wald der anderen

Die Offenheit von Halki hat Delikostantis mit hinaus genommen in die Welt. Da er nicht nach Halki zurückkehren konnte, blieb er zunächst in Tübingen und promovierte in Philosophie und Fundamentaltheologie. Später ging er nach Athen, studierte Pädagogik und wurde Professor in Thessaloniki, Athen und Genf.
Zugleich hielt er den Kontakt zu Patriarch Bartholomäus, mit dem er von Jugend an befreundet ist. Beide Männer stammen von der heute türkischen Ägäisinsel Imbros, auf der bis vor wenigen Jahrzehnten noch eine bedeutende griechische Minderheit lebte.
Vor vier Jahren schloss sich für Delikostantis der Kreis, als er dem Ruf des Patriarchen folgte und an das Patriarchat zurückkehrte. Der Geist von Halki inspiriere noch immer sein Denken und seine Arbeit im Dialog mit anderen Kirchen, erzählt er.
"Das hat mit dieser Offenheit zu tun. Ich habe mich nie entfremdet gefühlt im Treffen, im Zusammenarbeiten mit Nicht-Orthodoxen. Ich kenne die Leute ja. Das ist so wie ein Wald, wo man Angst hat, wenn man das von außen sieht. Und wenn man eintritt, dann gibt es Lichtungen, es ist schön."

Dialog der Konfessionen

In Tübingen setzte Delikostantis die Arbeit von Halki fort. Er studierte bei dem katholischen Kantianer Johannes Schwartländer, war Schüler von Hans Küng, Walter Kasper, Alfons Auer und Eberhard Jüngel, zudem promovierte er über Luther – alles sehr außergewöhnlich für einen orthodoxen Theologen.
"Ich bin Mitglied in verschiedenen Kommissionen des Patriarchats, vor allem für den Dialog mit den Protestanten. Bei diesen Gesprächen, das ist nicht schön: Die Protestanten erzählen, was die Position des Protestantismus ist, und die Orthodoxen, was die orthodoxe Position ist", erklärt Delikostantis mit Bedauern. "Ich habe zum ersten Mal bei einem solchen Treffen einen Vortrag über Luther gehalten, was Luther in der orthodoxen Sicht sagt. Ich meine, wir müssen, damit wir mit den Protestanten und Katholiken ein Gespräch führen, auch deren Texte lesen, und die auch – aber die tun das auch nicht. Das ist ein großes Problem."
Heute tue sich das Patriarchat schwer, überhaupt noch orthodoxe Theologen zu finden, die sich für die anderen Kirchen interessieren und an Gesprächen teilnehmen wollen, sagt Delikostantis. Wäre das Priesterseminar nicht geschlossen worden, wäre das wohl anders.
"50 Jahre lang hätte Halki offene Theologen produziert. Die hätten sicher eine Rolle gespielt. Jetzt, die Leute, die hier im Patriarchat dienen, haben in Thessaloniki studiert. Ich bin einer der Letzten, und in zehn Jahren wird keiner von den Leuten hier mit Halki irgendwas zu tun haben. Ich meine, es ist eine Katastrophe, dass Halki nicht existiert."

Die Seminarräume stehen bereit

Dabei gibt es das Priesterseminar in gewissem Sinne noch: Im Kloster Halki stehen die Holzpulte der Studenten noch immer in ihren Klassenzimmern wie vor 50 Jahren, die Böden sind blank gewienert und die Bibliothek wird von Mönchen gepflegt. Im Auftrag des Patriarchats hält der Bischof von Halki die Schule seit Jahrzehnten instand und jederzeit bereit, den Unterricht wieder aufzunehmen – wenn die türkische Regierung es nur erlauben würde.
Die Hoffnung keimte über die Jahre immer wieder einmal auf, etwa als die islamisch-konservative Partei des heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ins Amt kam, die für Religion aufgeschlossener war als ihre kemalistischen Vorgänger, oder als die Europäische Union die Türkei als Beitrittskandidatin anerkannte. Doch seither sind auch wieder Jahrzehnte vergangen. Die Hoffnung ist nur noch ein blasses Gespenst, das durch das alte Kloster geistert. Delikostantis seufzt:
"Warum Halki nicht wieder geöffnet wird, das ist eine Frage, worauf keine logische Antwort gegeben werden kann. Warum? Das ist so wie ein Tabu. Was würde denn die Wiedereröffnung von Halki dem türkischen Staat, der türkischen Gesellschaft und dem Islam schaden? Ich kann nicht begreifen, warum. Ich habe sieben Jahre dort gelebt. Was wir immer gelernt haben, war Frieden, Solidarität, Zusammenarbeit, Menschenrechte, Glaube, Wissenschaft - alles, was die Menschen einigt, und nichts, was dem türkischen Staat schädlich sein könnte."
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