Prinzip der Einmischung

Dem Maidan gehört die Zukunft

Maidan, Ukraine, Unabhängigkeitsplatz
Blick auf den Maidan in der ukrainischen Hauptstadt Kiew © picture alliance / dpa / Andrey Stenin
Von Zafer Şenocak · 18.03.2014
Der Begriff "Maidan" kommt aus dem Arabischen - und bedeutet in persischer, türkischer, georgischer, armenischer und ukrainischer Sprache: offener Platz. Ein Wort, das Räume öffnet, meint Schriftsteller Zafer Şenocak.
Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass in Berlin die Mauer und quer durch den Kontinent der Eiserne Vorhang fiel, da sehen sich die Völker an der Peripherie Europas existentiell herausgefordert. Nun streben auch sie nach Freiheit, Recht und Wohlstand.
Zwischen Kiew und Kairo ist ein Aufbruch zu spüren, der an eigene Ideale erinnert. Doch das, was Europa über seine Grenzen hinaus ausstrahlt, wird von ihm selbst immer schwächer reflektiert. Es hat sich an den Status Quo gewöhnt. Sich in ihm bequem eingerichtet. Sich mit Diktatoren und Scheindemokraten abgefunden und angefreundet.
Doch es muss nicht ewig an undemokratische, autoritär regierte Staaten grenzen. Eine Grenze, die Freiheit von Unfreiheit scheidet, bedroht immer den Frieden. Das spüren im Osten die Polen, die Ungarn und Österreicher, im Süden die Zyprer und Griechen, die Spanier und Portugiesen.
Gemeinsame Währung der Zivilisation
Der Wertekanon Europas ist kein Luxusgut, das sich nur bestimmte Menschen, bestimmte Völker, bestimmte Regionen leisten können. Er ist die gemeinsame Währung der Zivilisation. Europa atmet nicht mehr frei, wenn es sich geographisch und kulturell begrenzt, sein Interesse auf die unmittelbare Nachbarschaft verengt.
Schon viel zu lange beschäftigen uns, die Grenzen Europas, der EU, des Binnenmarktes. Wir haben Landkarten vor Augen und nicht das Zusammenleben der Völker.
Wir brauchen ein neues Gefühl für den Osten. Eins, das uns frei macht von der Macht alter Bilder aus Zeiten des Kalten Krieges oder des Kolonialismus oder der Ära der Türkenkriege. Der Orientalismus gehört in die Mottenkiste der Geschichte. Doch was nimmt seinen Platz ein? Eine Zollunion? Eine Freihandelszone?
Die Türkei beispielsweise befindet sich in einer Zollunion mit der EU, aber nicht im Bewusstsein der Europäer, jedenfalls nicht jener, die glauben die Türken würden mit arabischer Schrift schreiben und der Koran sei das Gesetzbuch des Landes.
Platz, offener Platz
Dabei gibt es mächtige Zeichen, die den Blick des Westens auf den Osten brechen und neue Lesarten ermöglichen könnten. So der Begriff "Maidan". Er kommt aus dem Arabischen, bedeutet aber auch in persischer, türkischer, georgischer, armenischer und ukrainischer Sprache: Platz, offener Platz. Ein Wort, das gewandert ist in der polyglotten Welt des Ostens. Ein Wort, das Räume öffnet.
Es dürfte spannend werden, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu beobachten, was sich in diesen Räumen tut. Auch für uns in Mitteleuropa hat alles, was in Kiew, Moskau, Ankara und Kairo entschieden wird, eine Wirkung. Bürger mischen sich ein. Einmischung ist erforderlich. Auch die der Europäer untereinander.
Nein, hier ist nicht die militärische Einmischung gemeint, politische oder wirtschaftliche Hegemonie in den Vor- oder Hinterhöfen großer Nationen. Gemeint ist die kulturelle Selbstbehauptung von Völkern und Ländern, die der gleichen Zivilisation angehören.
Die europäische Idee reißt Mauern ein
Die Europäische Union lebt aus dem Prinzip der Einmischung. Alle Mitglieder haben sich auf einen Grenzen überschreitenden Wertekanon geeinigt, der Frieden, Freiheit und Sicherheit garantiert.
Dieses Vorbild hat Ausstrahlungskraft. Viel mehr als die melancholische Grundstimmung des alternden Kontinents manchmal wahr haben möchte. Europa schottet sich ab, errichtet unsichtbare Mauern entlang seiner Grenzen, anstatt sich zu öffnen. Dabei ist es die europäische Idee, welche Mauern einreißt, weshalb die Zukunft dem Maidan, dem offenen Platz gehört.

Zafer Senocak, 1961 in Ankara geboren, seit 1970 in Deutschland, wuchs in Istanbul und München auf, studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Er lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache und schreibt regelmäßig für Tageszeitungen. 1998 erhielt er den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die mehrsprachige Zeitschrift Sirene wurde bis 2000 von ihm mitherausgegeben.
Zafer Şenocak
Zafer Şenocak© picture alliance / dpa / Hermann Wöstmann


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