Privater Jähzorn und wenig Politik

Almut Giesecke im Gespräch mit Dieter Kassel |
Der sorbische Schriftsteller Erwin Strittmatter war in der DDR eine moralische Instanz. Die Stellung bekam spätestens Brüche, als bekannt wurde, dass Strittmatter im Zweiten Weltkrieg zu den Gebirgsjägern gehörte. In seinen Tagebüchern erwähne er diese Zeit nicht, sagt Almut Giesecke.
Dieter Kassel: Uns steht in diesem Jahr eine Art Erwin-Strittmatter-Sommer bevor. Der Autor von Roman wie "Tinko", "Bienkopp" oder natürlich der Trilogie "Der Laden" wäre am 14. August dieses Jahres 100 Jahre alt geworden, einen knappen Monat vorher wird es eine neue Biografie geben und schon morgen erscheint der erste Teil seiner Tagebücher unter dem Titel "Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern von 1954 bis 1973". Herausgeberin dieses Bandes und auch eines zweiten, der voraussichtlich 2014 dann erscheinen wird, ist Almut Giesecke, und die ist jetzt bei mir im Studio. Schönen guten Tag!

Almut Giesecke: Guten Tag!

Kassel: Sind denn das, was Sie ausgewählt haben, was Sie auswählen konnten aus diesem relativ großen Material, darüber werden wir gleich reden, sind das wirklich private, gar intime Aufzeichnungen, oder spürt man, dass Strittmatter da doch immer zumindest, sagen wir mal, die Möglichkeit einer Veröffentlichung mitgedacht hat?

Giesecke: Na, unbedingt. Alles, was Strittmatter geschrieben hat, war Literatur. Er hat immer alles gleich mit Blick auf Verwertung, auf Weiterverarbeitung geschrieben und so auch alles registriert. Er hat in seinem Kopf, also, wo er war, ob in Berlin oder in Schulzenhof oder im Ausland, er hat immer Menschen beobachtet, das sofort gespeichert und in seinem Tagebuch als Geschichten und Skizzen festgehalten. Also, ich denke, alles, was er in den Tagebüchern geschrieben hat, ist mit Blick auf spätere Verarbeitung geschrieben.

Kassel: Kann man trotzdem, auch wenn man wie Sie sich mit seinem Werk gut auskennt, ihn und auch seine Frau Eva gekannt hat, kann man trotzdem noch etwas Neues lernen über Strittmatter aus diesen Büchern?

Giesecke: Ja, unbedingt. Also, mich hat auch sehr überrascht, wie, mit welchen Skrupeln und Zweifeln er sich beschäftigte, seine ständige Angst vor den Schreibkrisen. Das hat natürlich jeder Schriftsteller, aber er hat es in einem besonderen Ausmaß durchlitten. Und dann musste, war es immer Eva Strittmatter, seine Frau, die ihn dann aus den Abgründen wieder herausholte. Und darüber hat er sehr ausführlich geschrieben und auch sehr berührend. Und auch seine Zweifel und Skrupel in Bezug auf seine Umwelt, er wusste ja, was er seiner Familie zumutet: Im Mittelpunkt seines Lebens stand sein Schreiben und alles andere musste sich dem unterordnen. Also auch alle Belange der Familie, der Kinder. Das war ihm sehr wohl bewusst. Und wie er das reflektiert und wie selbstkritisch er sich da auch sieht - und das ist dann nicht stilisiert -, das hat mich sehr beeindruckt.

Kassel: Was mich beeindruckt hat, ist die Beschreibung seines Jähzorns, von Wutausbrüchen, die sich natürlich meistens gegen Menschen richten, nicht selten gegen seine Frau Eva. Es wird aber auch eine Situation beschrieben, wo er in einem Wutausbruch eines seiner Pferde tritt und sich aufregt, völlig zu Unrecht, wie sich später herausstellen soll. Nun haben Sie schon erklärt, er hat es ja immer auch mit dem Gedanken, es ist für die Öffentlichkeit gemeint, aufgeschrieben. Da habe ich mich gefragt: Wenn er das dann schon so beschreibt, war es nicht vielleicht in Wirklichkeit noch viel schlimmer?

Giesecke: Ich glaube schon, dass es so war, wie er es geschrieben hat. Aber was ihn natürlich immer selber fertig gemacht hat und wo er verzweifelt war über sich selber, war natürlich, wenn er in seinem Jähzorn die Familie und die Kinder bestraft hat. Und die Folgen waren ihm schon klar, dass das zu einer Entfremdung führte, wie es ja dann auch geschehen ist.

Kassel: Was erfährt man, was haben vielleicht auch Sie erfahren aus diesen Tagebüchern über Strittmatters Verhältnis zu seiner Frau Eva? War das Liebe, war das auch ein bisschen manchmal eine gewisse Abhängigkeit?

Giesecke: Ja, in Liebesverhältnissen ist ja immer eine Abhängigkeit, aber in dem Falle war es natürlich auch eine Abhängigkeit, die er ihr gegenüber empfand, weil sie sein literarisches Gewissen war, wie er das nannte. Sie hat ihm in allen Lebenslagen geholfen und er brauchte sie sehr. Sie allerdings brauchte ihn ja auch. Und er hat das umfangreichere Werk hinterlassen und sie ist an den Sachen, die zu ihren Lebzeiten entstanden, also ganz entscheidend beteiligt gewesen und auch nach seinem Tode hat sie ja noch sehr viel herausgegeben.

Kassel: Wir reden heute Vormittag hier im Deutschlandradio Kultur mit Almut Giesecke, sie ist die Herausgeberin der Tagebücher von Erwin Strittmatter. Der erste Teil, einiges aus den Tagebüchern von 54 bis 73, erscheint morgen. Was sagt Strittmatter in diesen Einträgen über sein Verhältnis zur DDR und zu diesem Regime? Er war ja gerade am Anfang sehr überzeugt und man weiß, es hat sich ein bisschen gewandelt. Was geht daraus hervor in diesen Tagebüchern?

Giesecke: Ja, das war auch für mich eine Überraschung und so intensiv hätte ich das nicht erwartet. Ich wusste ja, wie seine Entwicklung gelaufen ist, aber interessant ist, dass man an den Tagebüchern wirklich ablesen kann, wie seine politische Entwicklung verlief. Er war in den 50er-Jahren gläubig oder beziehungsweise er wollte glauben. Aus den Tagebüchern geht das deutlich hervor, wie er sich auch vornimmt, er will das mitmachen, er will dazugehören, er will in diese Partei, er will dabei sein. Und dann tritt das ein, was ja auch unvermeidlich war, er merkt ja, wie viele Funktionäre, die sich daneben benahmen, jedenfalls nicht in seinem Sinne, und er nannte diese Funktionäre gerne Parteikatholiken.

Und damit wollte er nichts zu tun haben. Das einschneidende Erlebnis aber war dann der 20. Parteitag der KPdSU mit den Enthüllungen über Stalins Verbrechen und das war eine ganz schwere Erschütterung für ihn. Und seitdem beobachtete er dann auch viel intensiver, viel kritischer das, was von der Partei ausging, wie die Partei sich verhielt. Und seine innere Loslösung geschah dann, als er den Posten des Ersten Sekretärs im Schriftstellerverband abgab, weil er gesundheitlich zusammenbrach. Er konnte das, was er sich vorgestellt hatte, nicht einlösen. Und das war für ihn also auch eine ganz schwere Enttäuschung, er nannte das Wasserschöpfen in einen Sack, also, er glaubte nicht mehr daran, dass man im Kulturbetrieb organisatorisch noch irgendetwas verbessern könnte, und zog sich von da an zurück und wollte mit Schreiben das erreichen, was er auf den anderen Ebenen nicht erreichen konnte.

Kassel: In den späten 50ern und frühen 60er-Jahren war Strittmatter auch Informant der Stasi. Kommt das vor in dem Buch?

Giesecke: Ja, der erste Kontakt kommt vor. Also, er schreibt, dass sich zwei Mitarbeiter des MfS bei ihm gemeldet haben und dass er mit ihnen gesprochen hatte. Da war ihm das Ganze noch nicht so recht klar. Wenn man diese Akten liest, die sind ja zugängig, versteht man, das geschah im Zusammenhang mit der Funktion von Strittmatter als Erstem Sekretär, und man wollte ihn, wie man das so nannte, abschöpfen. Also, in der Funktion wurden die Leute möglichst immer eingebunden in Stasi-Tätigkeiten und die waren dann ja auch verpflichtet, Auskunft zu geben. Es kam zu einigen Treffen bis '61 und dann wurde das eingestellt von der Stasi selber, weil es nicht mehr ergiebig war, weil Strittmatter eben nicht mehr Verbandssekretär war.

Kassel: Aber es gibt schon noch ein Zitat von einem Stasi-Mitarbeiter aus dieser Zeit, wo halt betont wird, dass, solange er noch wertvoll war, Strittmatter eine besonders ergiebige und auskunftswillige Quelle war. Stellt er das ein bisschen anders dar in seinem Buch, also, tut er so, als sei er da missverstanden, ausgenutzt worden?

Giesecke: Nein, darüber schreibt er ja gar nicht. Er schreibt in den Tagebüchern nur die eine, dieses erste Treffen, diese Kontaktaufnahme, die ging dann vom MfS aus, und nachher schreibt er darüber nicht mehr. Ich kenne aber diese Akten und die Berichte der Stasi-Leute: Strittmatter hat versucht, über seine Probleme im Verband mit denen zu sprechen, hat vielleicht gedacht, er kommt da weiter. Aber alles, was man der Stasi erzählte, wurde ja auch ausgenutzt. Also, man kann schwer einschätzen, ob das geschadet hat oder nicht. Das, was er erzählt hat, war viel Klatsch, viel Belangloses, aber ... Weiß man, was damit gemacht wurde?

Kassel: Bei dieser Frage, die Sie jetzt im Raum stehen lassen, weiß man, was damit gemacht wurde, könnte man umformuliert auch anwenden auf die Zeit 1941 bis '45, als Strittmatter Teil eines Polizeibataillons war, das '43 dann der Waffen-SS angegliedert war. Das sind Tagebücher ab dem Jahr '54, aber wie jeder Mensch blickt er ja bestimmt gelegentlich auch zurück. Kommt die Zeit des Dritten Reichs und seine Rolle überhaupt vor in diesen Büchern?

Giesecke: Weniger. Wenn er Erinnerungen reflektiert, dann ist es mehr die Kindheit, mit der er sich sehr intensiv beschäftigt, weil das ja dann auf den "Laden" auch zusteuert. Das ist für ihn ganz wichtig. Die Kriegszeit selber ist ziemlich ausgeblendet. Aber ich muss noch richtigstellen: Er war Mitglied des Gebirgsjägerbataillons, das war nicht Waffen-SS. Es wird immer wieder kolportiert, dass Strittmatter Waffen-SS oder SS war, er war kein SS-Mitglied.

Kassel: Ja, aber dieses Bataillon gehörte ab 1943 zur Waffen-SS ...

Giesecke: ... nein, das gehörte nicht ... Nein, es kriegte den Ehrentitel. 1943 hat Himmler diesem Bataillon den Ehrentitel verliehen, es gehörte zur Ordnungspolizei, nie zur SS.

Kassel: War also eine ganz normale Polizei für Sie?

Giesecke: Die hatte ja auch ihre Funktionen in der Partisanenbekämpfung, und da war er mit eingebunden. Aber es war nicht Waffen-SS und nicht SS.

Kassel: Lasse ich mal so stehen, wenn Sie darauf ... Ich kenne die Geschichte anders, aber dennoch ... Wir sind jetzt ja dadurch unterbrochen worden, also, im Prinzip, bis auf Reflektion jetzt, seine Jugend, er sagt dazu gar nichts, also, er bestreitet nichts, gibt nichts zu, also, diese vier Jahre kommen nicht vor.

Giesecke: Kommen nicht vor, ja.

Kassel: Diese vier Jahre, '41 bis '45, sind ja der Grund, warum seine Heimatstadt Spremberg sich entschlossen hat, den 100. Geburtstag nicht offiziell zu feiern. Das hat mit der Stasi-Geschichte nichts zu tun, man hat das beschlossen aufgrund der Informationen, die man inzwischen hat über seine Rolle im Dritten Reich, wie auch immer die nun genau gewesen ist. Spremberg hat es gereicht, um zu sagen, wir feiern den 100. des doch vermutlich berühmtesten Sohnes der Stadt nicht. Ist das richtig oder falsch?

Giesecke: Ja, ich finde das fragwürdig. Man muss ja nicht hymnisch feiern, aber man kann sich ja mit einem Menschen auseinandersetzen als Sohn der Stadt. Man kann diesen 100. Geburtstag nicht begehen, man muss ihn ignorieren ... Das ist keine Haltung, finde ich.

Kassel: Morgen kommt der erste Teil der Tagebücher raus, am Samstag wird es eine große Buchvorstellung und auch Lesung einiger Ausschnitte im Deutschen Theater in Berlin geben. Ich will ja nicht jetzt, wo das erste Buch noch niemand haben kann, weil es erst rauskommt, schon so weit vorgreifen, aber: Wenn alles gut geht, werden Sie 2014 den zweiten Teil rausgeben; Sie haben ja bestimmt einen gewissen Überblick über diese, ich glaube, 230, 240 Hefte waren es insgesamt, die Tagebücher ...

Giesecke: ... ja, der erste Band, der erste Band. Es kommen noch mal 220 ungefähr für den zweiten!

Kassel: Darüber reden wir dann ein andermal. Das war die Herausgeberin des ersten Teils der Tagebücher von Erwin Strittmatter, Almut Giesecke.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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