Privates im öffentlichen Raum

Im Digizoikum verliert sich alle Scham

04:19 Minuten
Eine Frau mit gestreiftem T-Shirt hält ein Smartphone in den Händen, um den Hals trägt sie Kopfhörer.
Abgeschottet in der digitalen Blase: Die Finger bleiben nicht immer am Touchscreen, hat Pieke Biermann festgestellt. © imago images / Westend61 / Giorgio Magini
Beobachtungen von Pieke Biermann · 02.05.2019
Audio herunterladen
Die intensive Smartphone-Nutzung hat so einige Nebenwirkungen: Dass Menschen sich dabei auch in der Öffentlichkeit völlig wie zu Hause fühlen und sehr Privates erledigen, ist der Schriftstellerin Pieke Biermann unangenehm aufgefallen.
Irgendwas hat sich gewaltig verschoben im Verhältnis von "privat" und "öffentlich", und irgendwie muss das zusammenhängen mit dem Übergang vom Analogozän zum Digizoikum. Etwa im letzten Fünftel des vergangenen Jahrtausends galt der öffentliche Raum als ähnlich bedroht wie der deutsche Wald: Wem gehört er, wer darf sich da tummeln – Immobilienspekulanten, Verkehrsplaner, Politiker?
Jedenfalls kaum noch der Bürger bei seiner persönlichen Entfaltung und gleich gar nicht die Bürgerin, für die waren Straßen, Plätze, Verkehrsmittel immer eher "Angst-Räume".

"Ich hab was falsch gemacht, also pöbele ich!"

Es gab heiße Debatten, Parolen wie "Erobern wir uns die Stadt zurück!", die etwa gleichzeitig verebbten, wie die Erkenntnis, dass auch angeblich Privates politische Dimensionen hat, zur Mainstream-Floskel schrumpfte. Aber die feinen Unterschiede zwischen privatem und öffentlichem Verhalten blieben erkennbar.
Gut – manch einer hat auch damals seine Blase gern an der nächstbesten Hauswand entleert und, wenn man ihn fragte: "Bellen Sie auch?", nicht "'Tschulljunk!" gesagt, sondern irgendwas mit "Nazi!".
Die Dialektik von "Ich hab was falsch gemacht, also pöbele ich!" hat sich später bewehrt als Baustein zur Persönlichkeitsbildung etlicher Radfahrer (allerlei Geschlechts), bei denen entweder der Hintern oder der Sattel einen stabilen Pattex-Überzug hat, weshalb sie einen auf Fußwegen fast umnieten und zum Dank mit Verbaldreck beschmeißen.

"Me First!"-Mentalität

Dass einem in öffentlichen Räumen andere Leute mit ihren sehr privaten Verrichtungen oder ihrer "Me First!"-Mentalität auf den Keks gehen können, war auch im postmodernen Analogozän schon möglich. Distanzlosigkeit ist schon länger das Erste Konformitätsgebot der Aber-sowas-von-Nonkonformisten.
An der Supermarktkasse rücken einem wildfremde Menschen auf die Pelle wie der einst sprichwörtliche Mercedes-Fahrer auf die Stoßstange. Im Restaurant toben kreischende Kinder über Tische und Stühle, deren Erziehungsberechtigte erziehen für einen Akt wider die Menschenrechte halten.
Inzwischen allerdings ist das Digizoikum ins Vollbildstadium getreten und der Verlust des natürlichen Schamgefühls zur systematischen Übergriffigkeit mutiert. Seit der Erfindung des Mobiltelefons brüllen Leute auf der Straße herum, als müsste ihre Stimme von, sagen wir: Spandau bis Marzahn reichen.
Warum? Reden die automatisch laut, weil sie mit ihrem Knarz-Handy schlecht hören? Oder haben die alle den prophezeiten Hörschaden dank jahrelanger Beschallung mit Umpfta-umpfta-Techno? Gut möglich.

Intimitäten im öffentlichen Raum stören Intimsphäre anderer

Neulich in der U-Bahn ist mir eine andere Erklärung eingefallen: Das Smartphone und seine flächendeckenden Verbreitung. Ich saß zwischen einem Dutzend Dauerwischern mit Kopfhörern oder Knöpfen in beiden Ohren. Direkt gegenüber bohrte eine junge Frau, die wohl Musik hörte und nichts wischen musste, in der Nase. Ausdauernd. Ungeniert. Mit optischen und haptischen Kontrollen. Zum Glück nicht auch noch Geschmacksprüfung.
Ein paar Plätze weiter buddelte ein Mann herzhaft erst im einen, dann im andern Ohr und hielt sich das jeweilige Grabungsergebnis unter die Nase. Auch er akustisch abgeschottet, mit starrem Blick aufs Display. Ich habe beide regelrecht angeglotzt, probehalber, meistens merken Menschen ja instinktiv, wenn sie angestarrt werden, und fühlen sich unangenehm berührt, werden unruhig. Die nicht.
Die waren innerlich bei sich zu Hause, da, wo man sich benimmt, wie es einem grad kommt, kriegt ja keiner mit. Sie hatten auch den Instinkt dafür verloren, dass ihre Intimitäten in einem öffentlichen Raum einen Einbruch in die Intimsphäre anderer Leute bedeutet.
Brauchen wir vielleicht allmählich wieder eine Kampagne zur Rettung des öffentlichen Raums?

Pieke Biermann, Jahrgang 1950, lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin in Berlin.





Die Schriftstellerin Pieke Biermann bei uns im Funkhaus
© Deutschlandradio / M. Hucht
Mehr zum Thema