Privatsphäre

Wie wir ein Menschenrecht verschleudern

04:19 Minuten
In der Fassade eines Wohnhauses dringt durch ein Fenster mit geschlossenen Jalousien Licht nach außen.
Der Schutz der eigenen Wohnung müsse als Freiheitsrecht verteidigt werden, meint Christoph Heyl. © imago images / ingimage
Überlegungen von Christoph Heyl · 11.11.2019
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My home is my castle: Wie Privatsphäre und moderne Selbstbestimmung historisch zusammenhängen, erklärt der Anglist Christoph Heyl. Er warnt deshalb davor, in Zeiten von Alexa und Siri das Private preiszugeben.
Stellen Sie sich einmal vor, wie es wäre, wenn Ihre Nachbarn so gut wie alles über Sie wüssten. Wenn die anderen Leute im eigenen Haus, aber auch die in allen Nachbarhäusern bestens über Dinge informiert wären, die Ihnen vielleicht mehr als unangenehm sind.
Genau das war die Lebenssituation der meisten Menschen in einer Vergangenheit, in der die Privatsphäre noch nicht Bestandteil der Normalität war. Man lebte permanent unter den Augen der Nachbarschaft. Das ging so bis mindestens ins späte 17. Jahrhundert - und an vielen Orten noch bis ins 19. Jahrhundert hinein.

Soziale Kontrolle in der vormodernen Welt

Die Mehrzahl der Menschen verbrachte ihr Leben an dem Ort, an dem sie geboren wurden. Man blieb gleichfalls in der sozialen Schicht und dem Beruf, in den man hineingeboren wurde.
Der Sohn des Schmieds wurde wieder Schmied, die Tochter des Bäckers heiratete einen Bäcker. Lokale Nähe war an soziale Nähe gekoppelt. Diese soziale Nähe konnte gegenseitige Unterstützung bedeuten, sie bedeutete aber in jedem Fall eine umfassende soziale Kontrolle.
Stellen Sie sich vor, Sie lebten in einem Fachwerkhaus, vielleicht mit mehreren Parteien. In diesem Gebäude aus Holz und Lehm hören Sie alles, was in den anderen Etagen und hinter den dünnen Wänden vor sich geht.
Sie können auch so ziemlich alles sehen, wenn Sie das möchten – in den Holzböden gibt es überall Astlöcher, Lehmwände haben Risse, und falls gerade kein Riss da ist, dann reicht eine Fingerspitze aus, um ganz leicht ein unauffälliges Guckloch zu bohren.

Großstadt, Privatsphäre und neue Freiheiten

All das änderte sich mit dem Aufkommen einer neuen Lebensform in den Großstädten. Das geschah an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten. Die Privatsphäre, so wie wir sie heute kennen, wurde zum ersten Mal ab dem späten 17. Jahrhundert in London zu einem Massenphänomen. Dort herrschte eine günstige Kombination von Sonderbedingungen.
Die englische Gesellschaft der Zeit begann, lokale und soziale Mobilität zuzulassen. Man konnte in die große Stadt gehen, wo einen niemand kannte, und dort ein neues Leben anfangen. Damit waren so elementare Entscheidungen wie die sehr viel freiere Wahl von Beruf und Partner verbunden. In London baute man jetzt Backsteinhäuser, deren Böden und Wände blickdicht waren.
Es wurde zu einer elementaren Höflichkeitsnorm, die Nachbarn zu ignorieren. Entsprechend konnte man erwarten, von den Nachbarn in Ruhe gelassen zu werden.

Der Schutz des Privaten und das Recht

Zu den günstigen Bedingungen für die Etablierung der Privatsphäre gehörte auch, dass England ab dem späten 17. Jahrhundert rechtsstaatliche Züge annahm. Es gab ein Parlament, die Macht des Königs war begrenzt, und auch er musste das herrschende Recht befolgen. Damit waren dem Zugriff auf seine Untertanen Grenzen gesetzt.
Zu deren Freiheitsrechten gehörte der Schutz der eigenen Wohnung. "My home is my castle" – darauf konnte man sich in England schon sehr früh verlassen, weit über zwei Jahrhunderte, bevor 1948 die Unversehrbarkeit der Privatsphäre von den Vereinten Nationen zum Menschenrecht erklärt wurde.

Die unsichtbaren Beobachter von heute

Die bürgerlichen Freiheiten und die Idee eines selbstbestimmten Lebens kamen zugleich mit der Privatsphäre in die Welt. Seither besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Schutz des Privaten und dem Fortbestand dieser Freiheiten. Die Privatsphäre ist Ausgangs- und Ankerpunkt eines selbstbestimmten Lebens. Daher lohnt es sich, sie zu verteidigen.
Whatsapp, Facebook, Google und sprachbasierte Assistenten wie Siri und Alexa machen uns beobachtbar, so wie die Menschen der Vergangenheit in ihren Fachwerkhäusern durch Astlöcher und Risse in der Wand beobachtbar waren.
Aber im Gegensatz zu ihnen wissen wir noch nicht einmal, wer uns beobachtet und wem wir uns durch unsere unbedachten Selbstentblößungen ausliefern.

Christoph Heyl ist Professor für Britische Literatur und Kultur an der Universität Duisburg-Essen. In seiner Forschung bringt er Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte zusammen. Anfang 2020 erscheint von ihm eine "Kleine Englische Literaturgeschichte", J. B. Metzler, Stuttgart.

Porträtfoto von Christoph Heyl in Schwarz-Weiß
© privat
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