Orient-Schwärmerei und Wien-Roman
Der wichtigste Literaturpreis der französischsprachigen Welt, der Prix Goncourt, geht in diesem Jahr an den Autor Mathias Énard. Sein Buch "Boussole" erzählt von seiner Auseinandersetzung mit der arabischen Welt.
Literaturredakteur Dirk Fuhrig:
"Boussole" heißt das Buch von Mathias Énard, für den er in diesem Jahr den Prix Goncourt, den angesehensten Literaturpreis in Frankreich erhalten hat. Übersertzt bedeutet der Titel "Kompass". Der Ich-Erzähler hat seinen Kompass verloren: Franz Ritter, ein Musikwissenschaftler in Wien. Er wohnt in einer hellhörigen Altbau-Wohnung, ist todkrank, kann nicht schlafen, raucht Opium. Im Laufe einer Nacht erinnert er sich an seine Lebens-Liebe Sarah - eine unerfüllte Liebe.
Denn im Gegensatz zu Franz, der in Wien eine öde Wissenschaftler-Existenz fristet, ist Sarah immer unterwegs. Sie ist Orientalistin - das ist das Stichwort für den Roman, der wie eine Art west-östlicher Divan funktioniert. Sarah ist fasziniert von der arabischen Welt. Sie forscht, hält Vorträge, ist klug, gewandt, weltläufig. Sie strebt weg von ihrer Heimat Paris nach Istanbul, Teheran, Jerusalem - und landet schließlich bei einem buddhistischen Meister in Indien.
"Boussole" behandelt Faszination und Ablehnung zwischen West und Ost, bei Künstlern, Forschern, Reisenden, Politikern, Weltenbummlern. Knapp 400 Seiten in brillanter Sprache, manchmal etwas bildungshuberisch, "gelehrt" und abschweifend, oft fein ironisch. Énard eröffnet ein Universum, das von europäischen Orientreisenden bevölkert ist - vom 19. Jahrhundert bis heute.
Die Liebesgeschichte ist das Gerüst, um das herum ein Beziehungsgeflecht zwischen Europa und dem Orient erzählt wird. Énard dringt dabei tief in den Alltag der Gesellschaften in der arabischen Welt ein, erzählt auch von den gegenwärtigen Konflikten und Gefährdungen. Er führt uns bis nach Aleppo. Und er hat das Buch sogar den Syrern gewidmet.
"Boussole" ist auch ein Wien-Roman. Die Stadt wird von Mathias Énard als "Tor zum Orient" begriffen. Seit dem 17. Jahrhundert galt die K-und-K-Haupstatdt ja einerseits als Bollwerk gegen die Osmanen, aber auch als der Ort, von dem aus diplomatische Beziehungen mit dem Sultan gepflegt wurden.
Literaturredakteurin Barbara Wahlster:
Das besondere an Mathias Énard ist, dass er tatsächlich die Welten verbindet. Er hat lange Jahre im Nahen Osten gelebt, in Beirut und Damaskus, und hat dort unterrichtet. Das ist sein Weg, die Welt zu denken, die beiden Seiten des Mittelmeers nicht mehr zu trennen.