Wenn die schwarz-rot-goldenen Fahnen wehen
Für Gelassenheit gegenüber dem heiteren Fahnenschwenken plädiert Rainer Moritz, der Leiter des Literaturhauses Hamburg. Der Dramatiker Juri Sternburg hält dagegen: Der angeblich "unverkrampfte Patriotismus" habe Pegida erst möglich gemacht.
Pro
von Rainer Moritz
Nun wehen sie wieder, die schwarz-rot-goldenen Fähnchen an Balkonen und Autos. Nun ziehen Kinder und Erwachsene sich wieder Deutschland-Trikots an und in den Küchen werden Rezepte gezaubert aus goldgelben Spaghetti, feuerroten Tomaten und – von mir aus – sehr dunkel gebratenen Blutwurst-Scheiben. 2006 begann das alles, 2006 beim sogenannten Sommermärchen verblüfften die Deutschen das Ausland mit einem heiter vorgetragenen, nicht-usurpatorischen Nationalgefühl, das mit Leidenschaft und Witz den deutschen Fußballern zum Sieg verhelfen wollte.
Kritik an den Bedenkenträgern
Was damals viele erstaunte, ärgerte viele. Und bei jeder kommenden Europa- oder Weltmeisterschaft konnte man sich darauf verlassen, dass sich Bedenkenträger automatisch zu Wort meldeten, die es nicht leiden konnten, dass Deutsche so selbstverständlich und offenherzig wie Franzosen und Spanier zu ihrem Land standen.
Warum sich nicht darüber freuen, dass mit deutschen Symbolen endlich spielerisch und nicht martialisch umgegangen wird? Natürlich gibt es diejenigen vom rechten, ewiggestrigen Spektrum, die das heitere Fahnenschwenken als Chance sehen, ihr nationalistisches Gedankengut zu feiern. Gerade weil es diese Rattenfänger gibt und gerade weil man ihnen nicht Begriffe wie "Heimat" und "Nation" gedankenlos überlassen darf, ist Gelassenheit angesagt.
Plädoyer für Gelassenheit
Und spätestens, wenn Ilkay Güdogan auf Vorlage von Özil oder Boateng Joachim Löws Truppe ins Finale schießen sollte, werden diejenigen schweigen, die das Wehen der Deutschland-Fähnchen als Ausgrenzen des Nicht-Deutschen verstehen wollen.
Und keine Angst: Mitte Juli verschwinden die schwarz-rot-gold verzierten Autos ohnehin wieder von den Straßen.
Contra
von Juri Sternburg
Es ist mal wieder soweit: WM bedeutet Fahnen auf Balkonen, Wimpel auf Autos und Weltmeister-Würstchen im Supermarkt. Im Jahr 2006 hatten sich ja Politiker sämtlicher Parteien gefreut über den unverkrampften Party-Patriotismus, den wir heute noch beobachten können. Die Bilder des schwarz-rot-goldenen Fahnenmeers flimmerten vier Wochen über unsere Bildschirme und plötzlich war dieses Symbol des Nationalismus und der Abgrenzung belegt mit unglaublich positiven Gefühlen.
Die WM und Pegida
Wenige Jahre später konnte man sich dann montags in Dresden etwa anschauen, wie angeblich unverkrampfter Patriotismus auch aussehen kann. Es ist sicherlich kein Geheimnis, dass Bewegungen wie Pegida ohne die WM im eigenen Land so nicht möglich gewesen wären. Wozu Pegida geführt hat, kann man sich aktuell übrigens im Bundestag anschauen – und auch die Tatsache, dass wir in diesem Land wieder rechtsextreme Positionen als diskutabel erachten, haben einen Ursprung.
Das mag paranoid und etwas weit hergeholt klingen, aber erstens ist es durchaus empirisch belegbar und zweitens haben solche Entwicklungen immer eine Geschichte und fallen nicht einfach so vom Himmel. Generell gilt, dass Massenevents mit nationaler Symbolik noch nie etwas Gutes hervorgebracht haben, darauf sollte sich glaube ich jeder einigen können, der ein geschichtliches Bewusstsein hat.
Zunahme von Menschenfeindlichkeit
In schlechten Zeiten – und die herrschen in Deutschland ja bekanntlich immer – ist Nationalismus und die damit einhergehenden Zustände mit Sicherheit keine Lösung. In der Langzeitstudie "Deutsche Zustände" ist das Team um den Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer zu dem Ergebnis gekommen, dass es rund um die WM im eigenen Land zu einer Zunahme gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gekommen ist. Dass im Jahr 2018 sorgenvolle Pegidisten ganz unverkrampft neben Nazi-Kadern stehen und "Wir sind das Volk" in den Abendhimmel grölen, hat eine Vorgeschichte.