Probewohnen - rückgebaut

Eine kostenfreie Schnupperwohnwoche im Görlitzer Altbauquartier. Angeboten von der örtlichen Wohnungsbaugesellschaft, mitfinanziert vom Bundesbauministerium. Das ungewöhnliche Wohnprojekt soll zur Wiederbelebung der von Leerstand geplagten Altbauviertel beitragen. In Halle hingegen reagiert man auf den Leerstand mit dem Abriss ganzer Quartiere.
Beispiel Görlitz
Von Ernst-Ludwig von Aster

Langsam geht Lore Klinkhart den Bürgersteig entlang. Lässt ihren Blick über die Gründerzeitfassaden schweifen.

"Löwenköpfe. Und da oben die Jugendstilfragmente, wunderschön, wann ist das erbaut?"

Die Rentnerin legt den Kopf in den Nacken, kneift die Augen etwas zusammen, fixiert die Jahreszahl die am Giebel des vierstöckigen Gebäudes prangt.

""1900. So genau habe ich jetzt noch gar nicht geguckt, so ein Überangebot von Häusern gibt es."

Hier in der Hartmannstraße. In Görlitz. Deutschlands östlichster Stadt. An der Neiße. Mit 58.000 Einwohner. Und der höchsten Denkmaldichte der Republik. Mehr als 4000 Gebäude stehen hier unter Denkmalschutz.

"Was das ausmacht, wenn es saniert ist, wie schön das ist."

Lore Klinkhartt geht einige Schritte weiter. Bleibt dann wieder stehen. Beim Haus Nummer 1 sind die Fenster vernagelt, der Putz bröckelt. Das Haus Nummer 3 ist liebevoll renoviert. Das Gebäude daneben verfällt. Aus dem obersten Geschoss wächst ein Baum:
"Sehen sie, wie locker das Mauerwerk ist und der Baum, der da rauswurzelt, der steckt doch seine Wurzeln überall hin und da kann doch was runterpurzeln."

Lore Kleinhart staunt. Seit zwei Tagen wohnt sie in der Hartmannstraße. Testweise. Aus dem hessischen Bunzlau ist sie an die Neiße gekommen. Um in Görlitz zur Probe zu wohnen. Mitzumachen bei einem Projekt, das die Technische Universität Dresden entwickelt hat, um den Leerstand in der Innenstadt zu bekämpfen. Den Tipp sich zu bewerben hat die Rentnerin von ihrer Tochter bekommen. Die lebt schon länge hier:

"Dann habe ich es halt gemacht und habe eigentlich gar nicht damit gerechnet, das sie mich nehmen würden, na ja, dann hat es auf einmal geklappt mit dem Probewohnen."

Test the East. Eine Woche Görlitz-Feeling. Im ersten Stock. In der Hartmannstraße 1 a.

Lore Klinkhart schließt die Wohnungstür auf. Dahinter hohe Decken, ein langer Flur. Helles Parkett auf dem Fußoden, eine knallroter, moderner Schuhschrank an der Seite.

Klare Linien, klare Formen. Modern die Möbel. Weiß, schwarz, rot die Farbpalette. Und jede Menge Holz. Skandinavisch international. Ein großes Möbelhaus sponsort das Görlitzer Probewohnen hat die Inneneinrichtung zur Verfügung gestellt.

"So, das ist das Gästezimmer, auch sehr schön eingerichtet. Schönes Bett, schöner Schrank. Zimmer zum Hof. Ohne schöne Aussicht."

Wohnzimmer, Gästezimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad. Sehr wohnlich alles, findet die rüstige Rentnerin. Allerdings:

"Das ist ja auch ein bisschen ungewohnt, weil ich zuhause auch ein eigenes Haus habe und noch nie im Mehrfamilienhaus gewohnt habe, ja, mit so vielen Partien. Aber das ist schon interessant und schön."

Knapp einen Kilometer entfernt eilt Anne Pfeil durch das Gewölbe der alten Görlitzer Lateinschule. Früher wurden hier Vokabeln gebüffelt, heute wird am Städtebau geforscht. Hier arbeitet das "Kompetenzzentrum Revitalisierender Städtebau" der Technischen Universität Dresden. Die Architektin Pfeil leitet das Projekt Probewohnen:

"Wir haben zwei Wohnungen ausgesucht, die schon seit längerer Zeit leer standen, seit 2006, es war uns ein großes Anliegen, Wohnungen auszusuchen, die wirklich von diesem Problem betroffen sind."

Betroffen vom Problem Leerstand. Mehr als 4500 Wohnungen stehen in Görlitz leer. Vor allem im Innenstadtbereich, vor allem in den Gründerzeitvierteln. Eine Folge der DDR-Stadtentwicklungspolitik: Im selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaat setzte man in der Stadtplanung vor allem auf Neubauprojekte, funktionale Plattenbauten an der Peripherie. Die Altbauten der Innenstadt waren städtebaulich Nebensache.

"Gleichzeitig ist es ja im Osten so gewesen, das mit einem Einzug in eine Neubausiedlung am Stadtrand ein sozialer Aufstieg verbunden war."

Wer konnte, zog in die moderne Platte. Die Altbauten der Innenstadt, oft mit Ofenheizung, blieben leer. Nach der Wende setzte dann der Exodus der Bevölkerung nach Westen ein, Görlitz verlor bis heute rund ein Fünftel seiner Einwohner. Folge: Es wurde noch leerer in der Innenstadt. So wie in vielen ostdeutschen Städten

"Das Phänomen Leerstand in der Innenstadt ist in Phänomen, das in vielen ostdeutschen Städten anzutreffen ist. Deswegen sind wir letztendlich auch als Modellvorhaben ausgewählt worden, weil wir ein Problem angehen, was in vielen ostdeutschen Städten vorliegt."

Das Projekt "Probewohnen" versucht die Innenstadt wiederzubeleben. Interessenten von außerhalb zu locken. Und Görlitzern ihre Innenstadt-Quartiere wieder nahezubringen. Kein einfaches Unterfangen. Vor allem nicht bei jenen, die in den Plattenbauten am Stadtrand wohnen.

"Inzwischen muss man ja auch sehen, die Personen, die damals als Erstbezug dahin gezogen sind, dass die da jetzt einfach sehr verwurzelt sind in den Gebieten. Weil sie seit Jahrzehnten da wohnen, da ihre Kinder großgezogen haben."

Auch die jüngere Generation ist nicht unbedingt aufgeschlossener.

"Die junge Generation, an die wir uns auch mit unserem Projekt wenden, hat noch gar keine Wohnerfahrung in der Innenstadt, weil sie eben in der Stadtrandsiedlung aufgewachsen sind. Manchmal sind sie auch in Einfamilienhausgebiete gezogen nach der Wende."

Und ihre Vorstellung über die Innenstadt haben die Jüngeren oft von den Eltern übernommen, sagt Anne Pfeil. Allerdings sind sie in der Regel offener für Experimente. Und genau da setzt das Angebot Probewohnen an: Eine Woche gratis in der Innenstadt wohnen. Ein Lieblingsmöbelstück darf jeder mitbringen. Einzige Verpflichtung: Den Wissenschaftler muss vor, während und nach dem Probewohnen ein Interview gegeben werden.

"Der Punkt ist, dass wir gleichzeitig diese Personen, die Bürger als Wohnexperten einbinden wollen, weil das sie die Wohnexperten, das sind die, die bestimmte Ansprüche stellen. Und die man als Planer oder Eigentümer oder Politiker auch, erfüllen muss."

"Wir sind eingezogen und da wurde die Tür aufgeschlossen und vorher wussten wir nix über die Wohnung … ein Flur, ein Schlafzimmer, und ja, eine gemütliche Wohnung."

Claudia sitzt in einem Görlitzer Cafe. Trinkt eine heiße Schokolade. Die 21-Jährige erinnert sich. An ihre Probewohn-Woche. Als sie mit ihrem Freund einzog.

"Wir hatten unser ganzes Bettzeug mitgebracht, dann Wasserkocher Nahrungsmittel und wenn man dann die Zahnbürste ausgepackt hat dann wurde das schon wohnlich."

Sonst wohnt sie bei ihren Eltern. In einem Einfamilienhaus am Rande von Görlitz. Im Grünen, weit weg von der Innenstadt. Das Probewohnen war ihr erster mehrtägiger Aufenthalt im Stadtzentrum.

"Das Schlafzimmer, das war zur Straße raus, da war schon mehr Lärm als zuhause und es war heller, Und auch dadurch das das Haus unbekannt war und älter, dann haben die Treppen schon mal geknarzt."

Aber daran haben sie sich schnell gewöhnt, sagt Claudia. Genauso wie an die hohen Räume. "Die gaben einem so ein luftiges Gefühl", sagt sie.

"Es war wie eine Woche Urlaub in einer eigenen Stadt erst mal, grundsätzlich, aber es war schon praktisch dass man nachmittags mal schnell in die Stadt gehen konnte um ein paar Besorgungen zu machen."

Hohe Räume, kurze Wege. Viel Platz mitten in der Stadt. Das hätte sie nicht gedacht. Und ihr Freund auch nicht. Der hatte vor allem Parkplatzsorgen.
"Das mit den Parkplatzsorgen hat sich nicht bestätigt, da gab es keine Probleme und der Pluspunkt ist halt wirklich, das man schnell in der Innenstadt ist, schnell etwa erledigen kann oder was unternehmen kann."

Claudia nimmt noch einen Schluck Schokolade. Noch macht sie eine Ausbildung, wohnt weiterhin bei ihren Eltern. Bald aber wird sie ausziehen. Wohin, hängt nicht zuletzt vom Arbeitsmarkt ab. Wenn sie aber in Görlitz bleibt, dann kann sie sich vorstellen ins Zentrum zu ziehen.

"Richtig auf dem Land möchte ich keinesfalls wohnen, das ist mir zu dezentral, das ist mir zu umständlich um immer in die Stadt zu kommen, das ist ein organisatorischer Aufwand den man da betreiben muss … und die Innenstadt, wenn da ein Balkon an der Wohnung ist und die gut geschnitten ist, dann kann ich mir das auch vorstellen."

In der alten Lateinschule sortiert Anne Pfeil die Unterlagen. Mehr als 500 Bewerbungen gab es bis jetzt für das Probewohnprojekt, die Befragungen der ersten Innenstadt-Tester wurden bereits ausgewertet. Das sind keine repräsentativen Ergebnisse, aber ein Trend ist erkennbar. Fast alle wurden positiv überrascht.

"Beispielsweise wurde das Parken in der Innenstadt von sehr vielen Personen als sehr viel entspannter empfunden, als sie erwartet haben, wir haben den Anwohnern temporäre Parkausweise zur Verfügung gestellt. Und damit konnte sie meistens sogar direkt vorm Haus parken."

Ein weiteres Beispiel:

"Dann wurden die Quartiere als sehr viel ruhiger empfunden als erwartet, mitunter sogar ruhiger als der eigene Wohnort am Stadtrand. Das sind kleine Aspekte, die für uns sehr wichtig sind."

Anne Pfeil lächelt. Kleine Pluspunkte für die Innenstadt. Eine Test-Familie hat sich vollkommen überzeugen lassen:

"Eine Familie, die im Eigenheim am Stadtrand gewohnt hat, die ist jetzt wieder in die Innenstadt gezogen ist, das ist natürlich ein Erfolg über den wir uns sehr freuen."

In der Hartmannstraße 1 a steht Lore Klinghart am Herd. Macht sich einen Rest Lauchsuppe war. Die ist von gestern übrig geblieben.

"Gestern habe ich ja so eine kleine Feier gemacht, Party, und die Freunde eingeladen, die ich inzwischen in Görlitz kennengelernt habe. Und das war sehr schön."

Ihre Tochter war da, ihr Schwiegersohn. Und noch einige neue Bekannte. Aus Görlitz.

"Ich habe schon Stadtführungen mitgemacht und kenne die sehr schöne Altstadt und die Umgebung ein bisschen, Hirschberger Tal und so was, da haben wir Ausflüge gemacht, Also ich bin eigentlich begeistert über die vielen Stilepochen, die man hier antreffen kann, alles sehr interessant."

Ein paar mal ist sie auch schon über die Stadtbrücke gegangen. Nach Zgorzelec, auf der anderen Neiße-Seite.

"Und ich war schon verschiedentlich da drüben essen und dann habe ich mal einen Schuster besucht, der ein bissel deutsch spricht und der macht noch so die Schuhe, wie ein richtiger Handwerk das macht."

Dann war sie noch im Schlesischen Museum in Görlitz, im Theater. Kultur pur.

"Das kulturelle Angebot ist weitaus größer als in Butzbach und vor allen Dingen man kann das alles problemlos, wenn man wie ich jetzt hier in der Hartmannstraße wohne, zu Fuß überall hingehen, Außerdem ist das hier sicherer als bei uns n Butzbach, ich glaube da sind nicht so viele Überfälle, bei uns ist das alles ein bisschen schwieriger, da gehe ich abends ungerne weg."

Die Rentnerin nickt. Mehr Kultur. Und mehr Sicherheit. Ganz anders als im hessischen 25.000-Einwohner-Örtchen Butzbach. Da wohnen zwar viele ihrer Freunde, aber etwas Veränderung könnte sich Lore Kleinhart durchaus vorstellen. Gerade erst hat sie von einem interessanten Bauprojekt gehört. Hier, in Görlitz. In der Innenstadt.

"Ich bin am überlegen, da wird ja da unten an der Ecke Elisabethstraße so ein Mehrgenerationenhaus gebaut, ob ich da nicht vielleicht einziehe. Ich bin ja nicht mehr die Jüngste, werde nächstes Jahr 70. Und im Moment bin ich noch einigermaßen fit. Und man weiß ja nicht, was passiert und da wäre ich sehr gut aufgehoben, denke ich mir. Da bin ich jetzt am überlegen und das will ich mir auch noch mal näher ansehen."

Beispiel Halle
Von Susanne Arlt

Seit dem Fall der Mauer haben 100.000 Menschen Halle verlassen. Das ist fast ein Drittel der Einwohnerzahl von damals. Mit dem Weggang der Menschen kam der Leerstand der Häuser.

Und mit dem Leerstand kam der Abriss. 12.000 Wohnungen wurden bislang im Rahmen des Bund-Länder-Programms Stadtumbau Ost in der Stadt Halle dem Erdboden klein gemacht. Und weitere 8000 Wohnungen werden noch folgen, sagt Stadtplaner Steffen Fliegner.

"Das Stadtumbauprogramm legt natürlich keinen einseitigen Schwerpunkt auf Abriss, das wäre jetzt wirklich fatal. Es laufen auch relativ viele Projekte unter dem Stichwort Aufwertung. Also die Quartiere auch schön machen. Da hat Halle sicherlich eine Vorreiterrolle in den Großwohnsiedlungen in ganz Ostdeutschland gespielt."

Bis 1990 war Halle Zentrum der DDR-Chemieindustrie. In den großen Kombinaten Buna, Leuna, Bitterfeld und Wolfen arbeiteten zu Tausenden die Menschen, in Halle-Neustadt und Halle-Silberhöhe wohnten sie. Nach dem Mauerfall brach die Chemieindustrie ein, die Menschen verloren ihre Arbeit, zogen weg. Darum, sagt Steffen Fliegner, konzentrierten sich die Stadtplaner zuerst allererst auf den Rückbau der Plattenbauten in den beiden Großwohnsiedlungen. Abriss heißt in Fachkreisen Rückbau.

"Wir hatten zum Beispiel in der Silberhöhe eine Großwohnsiedlung, die hat eben auch die Rolle gespielt als Wohnstandort für die südlichen großen Chemiekombinate und da leben heute 14.000 Menschen, 1990 waren es 40.000."
Aus der Großbausiedlung wurde eine Waldsiedlung. Die Stadt ließ viele Gebäude abreißen. Die dichte Bebauung wurde zersetzt, statt Beton stehen auf den frei gewordenen Flächen jetzt junge Bäume. Ein Art Stadtwald ist entstanden, die am Steilufer der Saale-Elsteraue liegt.

Der Riebeckplatz – das Tor zur Stadt Halle wirbt eine Immobilienverwaltung. Früher war er ein wunderschönes Portal. Heute ist er einer der verkehrsreichsten Plätze in Ostdeutschland. Auf drei oval gebauten Etagen aus Beton begegnen sich hier täglich von einander getrennt mehr als 80.000 Fahrzeuge, Straßenbahnen, Busse und Fußgänger. Feinstaub pur. Zwei riesige Hochhäuser flankieren den Platz. Massige Konstrukte aus Stahl, 22 Stockwerke hoch, blau angestrichen. Die Fassade bröckelt, die Wohnungen stehen seit Jahren leer. Diese beiden Hochhäuser, erklärt Architekt Christian Zeigermann von der Halleschen Wohnungsgesellschaft HWG, waren in der DDR einst der stolze Fingerzeig nach Halle-Neustadt. Heute sind sie für viele Menschen nur noch ein städtebaulicher Schandfleck.

"Das ist genau das Problem, dass die Eingangstore in die Stadt das größte Problem der Stadt Halle noch sind. Egal von welcher Seite man in die Stadt rein fährt, sind die Randbereiche gerade das Schwierige. Vom Zug aus nimmt man es, glaube ich, am deutlichsten wahr. Deshalb sind ja die Projekte der HWG ein Versuch, die Eingangstore auch in Angriff zu nehmen, darauf aufmerksam zu machen und diese vielleicht zu heilen."

Heilen bedeutet für den Architekten in diesem Fall Rückbau. HWG-Pressesprecher Joachim Effertz betont, dass dieser Heilungsprozess nur mit zahlreichen Aussprachen möglich gewesen sei. Die Stadt versagte lange Zeit Fördergelder für einen Abriss. Aus Angst vor den Bürgern. Viele Hallenser hängen an diesen Gebäuden, doch sie zu sanieren, würde Halle ein Vermögen kosten. Inzwischen hat man sich auf den Rückbau der beiden Hochhäuser verständigt, aber auch der kostet Geld, mindestens zwei Millionen Euro.

22 Stockwerke hoch geht es in dem einstigen Vorzeigebau sozialistischer Baukunst. Auf den Balkonen nisten inzwischen Tauben, der Aufzug ist längst abgesellt, das Licht funktioniert in den dunklen Fluren auch nicht mehr.

"Wir können ja auch mal da reinschauen. Willkommen im Sozialismus."

Die Wohnungen sind längst leer geräumt. Vergilbten Tapeten mit hellen Flecken erinnern an vergangenes Mobiliar. Es riecht streng nach PVC. Der Kunststoffbelag wurde mit einem Weichmacher zersetzt und dünstet noch immer seine Gifte aus. Der sensationelle Blick über die Stadt Halle entschädigt den mühsamen Aufstieg.

"Willkommen im Sozialismus. War hochmodern zu dieser Zeit. Dass man natürlich ein Bad hatte mit Warmwasser aus der Wand, das so der typische Spruch dafür. Natürlich mit einer Fernwärmeheizung auch eine gleichbleibende Wärme, das hat alles für die Gebäude dieser Zeit gesprochen."

Wenn Joachim Effertz könnte, wie er wollte, er würde die beiden Hochhäuser sofort abreißen lassen. Unbewohnte Wohnungen kosten der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft immens viel Geld. Derzeit hat die HWG eine Leerstandsquote von sechzehn Prozent.

"Das traue ich mich gar nicht zu sagen, also viele Millionen, die mich das kostet Jahr für Jahr, wo ich dann sage, wenn ich die hätte, könnte ich noch viel mehr machen, könnte ich noch viel mehr bewegen. Also es ist eine erhebliche Größe, die ich da habe und wo wir auch permanent dran arbeiten, diese Größenordnungen zu senken, also sprich Leerstandsabbau."

Sein Blick geht über die Schienen Richtung Nordwest. Dort liegt einen Steinwurf entfernt das Medizinerviertel. Joachim Effertz nennt es das vergessen Viertel. Viele Gebäude aus der Gründerzeit stehen leer, aus den Dachrinnen wachsen junge Birken, ab und an klafft eine Lücke zwischen den Häuserzeilen. Nach 20 Jahren Stillstand lässt die Wohnungsgesellschaft für acht Millionen Euro 144 Wohnungen sanieren.

"Das würden wir uns wünschen, dass wir hier als Initiator wahrgenommen, so´n Startschuss geben für Investitionen in diesem Viertel und dass dann einfach andere Nachbarn dem folgen. Das wäre unsere Hoffnung."

Hoffnung gibt es jetzt auch nach 20 Jahren für Glaucha. Das Gründerzeitviertel im Süden der Stadt entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Als Arbeiterviertel pflegt Glaucha seit 100 Jahren das Image des einfachen Wohnens, die Belle Etage, fehlt, die Fassaden sind glatt verputzt. Jede vierte Wohnung steht leer. Stadtplaner Steffen Fliegner:

"In den besseren Gründerzeitvierteln im Norden der Stadt ist eben das Bild eindeutig bestimmt von sanierten Beständen, und das ist in Glaucha definitiv nicht der Fall. Also hier ist etwa noch die Hälfte des Bestandes in dem Zustand der Mitte der 80er-Jahre erreicht wurde oder eben völlig unsaniert."

Ein neues Programm soll neue Eigentümer nach Glaucha locken. Die sogenannte Eigentümerstandortgemeinschaft will Familien unterstützen, die sich in Glaucha ein Haus gekauft haben. Nicht nur die verfallenen Häuser sind ein Problem des Viertels, erklärt Steffen Fliegner, sondern auch die riesigen verwahrlosten Innenhöfe. Der Stadt gehören zwar diese Areale, aber sie hat kein Interesse daran, sie sie zu betreiben, meint der Stadtplaner. Stattdessen sollen die Eigentümer die Probleme ihres Viertels lösen.

"Dass sich also benachbarte Eigentümer zusammenschließen, die ein Problem haben, was nicht nur an ihrem Haus hängt, sondern wie im Falle Glaucha eben zum Beispiel an diesen entkernten Höfen zu sozialistischen Zeiten, wo auch überhaupt diese ganze Nutzung sich jetzt in Nachwendezeiten ein bisschen schwierig gestaltet."

Alexander Hempel hat vor sieben Monaten ein unmodernisiertes Gründerzeithaus in der Schwetzkestraße erworben. Er saniert in Eigenregie, macht alles selbst, vom Einbau der Heizung bis zu den Abwasserleitungen. Das spart zwar Geld, kostet aber Nerven.

"Das Haus war vermüllt, die Einfahrt war vermüllt, und wir fangen an, das wegzuräumen. Und zwei Wochen später ist es in genau demselben Zustand wieder. Weil die Leute das gewohnt sind, den Müll abzuladen. Und man läuft wie Don Quichotte so ein bisschen gegen die Mühlen und kommt sich auch so vor."

Inzwischen aber haben die Nachbarn die Lust am Müll abladen verloren. Und Alexander Hempel hofft, dass es ihm andere Eigentümer und Bewohner von Glaucha nachmachen.

"Die Stadt kann nicht alles vorschreiben, die kann nicht in jedem privaten Bereich Einfluss nehmen, sondern da sind wir gefordert. Wir alle in dem Hof, in dem Viertel. Wenn wir wollen, dass es hier sauber wird, dann müssen wir erst mal selber was aufheben."