"Klicktivismus kompensiert politische Leerstellen"
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Seenotrettung, Klimawandel, Spenden für Notre Dame: Themen, die durch Internet-Aktionen enorme Aufmerksamkeit gewonnen haben. In der Politik dagegen funktioniert Problemlösung langfristig. Doch das Netz habe Einfluss auf Politik, so Soziologe Dirk Baecker.
Mit ihrer viralen Spendenaktion sammelten Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf in kurzer Zeit fast eine Million Euro für die Sea-Watch 3 und die Seenotrettung. Der Aufruf hat aber nicht nur Geld generiert, sondern sehr viele Solidaritätsbekundungen, auch von Politikern wie zum Beispiel Außenminister Heiko Maas.
Das Phänomen, dass Persönlichkeiten über das Internet innerhalb kurzer Zeit politische oder gesellschaftliche Prozesse in Gang bringen, konnten wir dieses Jahr schon ein paar Mal beobachten: beim Video des Youtubers Rezo, das die CDU in Aufruhr versetzt hat, oder bei der enormen Spendenbereitschaft für Notre Dame.
Multimedialität verstärkt emotionale Ergriffenheit
Massenmedien seien schon immer geeignet gewesen, durch überraschende Aktivitäten und auch mit überraschenden Akteuren aufzuwarten und Bewegungen loszutreten, mit denen man nicht gerechnet habe, sagt Dirk Baecker, Professor Professor für Kulturtheorie und Management an der Universität Witten/Herdecke. Das Internet verstärke diese Eigenschaft "auf eine enorm massive Art und Weise, nicht zuletzt deswegen, weil die Multimedialität des Internets, also das Zusammenspiel von Bild, Ton und Text, eine emotionale Ergriffenheit und damit auch eine emotionale Aufregung auszulösen vermag."
Es gebe dabei keine konkrete Vorauswahl von Personen oder auch Themen, die einen solchen Effekt auslösen könnten. Stattdessen sei die gesellschaftliche Stimmungslage ausschlaggebend. Wenn bestimmte Dinge zusammenkämen, beispielsweise ein erregendes Ereignis wie jetzt im Fall der Sea Watch-Kapitänin Rackete, und Leute mit "Prominenzeffekten" darauf reagierten, dann komme das zustande, was wir gegenwärtig erleben.
Willkürlich sei diese Form von Klicktivismus nicht. "Es passiert ja nur das, worauf andere, ohne es zu wissen, so vorbereitet sind, dass sie es zu verstärken vermögen", sagt Baecker. Im Fall von Notre Dame sei deutlich gewesen, dass prominente Figuren andere Spender mobilisierten, die nicht zurückstehen, sondern "im selben Scheinwerferlicht von denselben Aufmerksamkeitseffekten profitieren" wollten. Im Fall des im September 2018 abgebrannten Nationalmuseums in Brasilien wiederum gebe es diese Effekte nicht. "Also hält man sich zurück und hofft, dass es vorübergeht, ohne dass man mit eigenen Spendenbereitschaften gleichsam bluten müsste."
Klicktivismus kompensiere auch politische Leerstellen, sagt der Soziologe Baecker. "Und zwar insofern, als natürlich diese Klicktivismen politische Sensibilitäten mobilisieren können, die offenbar von Parteien, Parlamenten, Behörden nicht mobilisiert werden können." Das Spannende an dem Phänomen sei die unterschiedliche zeitliche Rhythmik: Politik bewege sich verglichen mit Aktionismus im Internet nur sehr langsam.
"Erregungswellen hat es schon immer gegeben"
Im Netz dagegen könnten im Minutentakt Aktivitäten losgetreten werden, "die sich über wenige Tage hochschaukeln können und natürlich über wenige Tage auch wieder verschwinden können", vergleicht der Wissenschaftler. "Also versucht man mit kurzfristigen Aktivitäten mittelfristige Effekte auszulösen, dann langfristig so etwas wie einen Klimawandel abzuwenden oder zumindest irgendeine halbwegs brauchbare Reaktion darauf zu produzieren."
Ob Klicktivismus zu einem Thema funktioniere, bestimme die Stimmung in der Bevölkerung – wie diese die Dringlichkeit des Problems einschätze und die Aktivität der Politik wahrnehme. Erregungswellen, die über die Politik hinwegdonnern, habe es immer schon gegeben. "So etwas wie Fama, der lateinische Name für Gerücht, war immer schon in – der frühen Neuzeit, in der Antike, bei den Römern, bei den Griechen – beschrieben als etwas, was in Windeseile über die Lande ziehen kann, ohne dass irgendjemand darauf vorbereitet ist und auch irgendjemand dann die vernünftigen Antworten darauf generieren kann."
Was nun dazu komme seien die unterschiedlichen sozialen Medien, die man je nach erwünschtem Effekt unterschiedlich bespielen könne: "Bei Facebook hat man in der Tat eine merkwürdige Mischung von News auf der einen Seite und persönlichen Kontakten auf der anderen Seite, bei Twitter hat man Kurznachrichten, die immerhin noch mit einer generellen Anmutung von Objektivität, von gleichsam Text und Quellenbasiertheit daherkommen. Bei Instagram geht es nur noch darum, über Fotos blitzartig Erregung auszulösen, Empörung auszulösen, Wut auszulösen oder auch Begeisterung auszulösen, von der man dann wirklich unter allen Beteiligten hoffen kann, dass sie schnell wieder abklingt."
Sind Influencer nun durch diesen neuen Mechanismus ein Regulativ oder bewirken sie eher Stürme im Wasserglas? "Das eine kann man von dem anderen nicht mit Sicherheit unterscheiden", sagt Baecker. Selbst ein Sturm im Wasserglas könne ein Regulativ sein. "Insofern als sich Politiker, die diesen Sturm erleben, dreimal überlegen, wie sie mit dem Phänomen des Klimawandels umgehen."
Allein der Umstand, dass Influencer Millionen von potenziellen Wählern erreichen, zwinge die Politiker zu schauen, "wer im Netz welche Effekte mit welchen Nachrichten loszutreten vermag", sagt der Soziologe Baecker.