"Es gibt nicht die eine gute Lösung für alle Fälle"
Die Verabschiedung von ihren kommunistischen Hoffnungen war für sie das Eintrittstor in die postmoderne Theorie. Das sagt der Philosoph Wolfgang Welsch über die Vordenker der Postmoderne um Jean-François Lyotard in den 1980er-Jahren. An ein "Allheilmittel" für die Welt habe Lyotard nicht mehr geglaubt, sondern daran, dass es viele situativ richtige Positionen und Entscheidungen gebe.
Dieter Kassel: Die Postmoderne umgibt uns, sagen manche, sie ist gegenwärtig in der Architektur, der Literatur, der Kunst, und manche entdecken sie auch in so anspruchsvoll gestalteten Alltagsgegenständen wie zum Beispiel der Zitronenpresse des italienischen Designers Alessi.
Sind überall da tatsächlich die Folgen eines kleinen Büchleins von Jean-Francois Lyotard spürbar? Welche Folgen hat die Postmoderne heute? Das wollen wir fragen und uns damit nicht mal zufrieden geben, sondern sogar noch fragen: Wo führt sie uns denn in Zukunft hin?
Das wollen wir den Mann fragen, ohne den wahrscheinlich – zumindest in Deutschland – dieses Wort und ja auch seine Folgen so allgegenwärtig gar nicht wären: Wolfgang Welsch. Der Philosoph, der zuletzt an der Uni Jena arbeitete, emeritiert ist seit 2012, er hat in den 80er-Jahren dieses Buch, aber auch die Gedanken mit der eigentlichen Veröffentlichung bei uns bekannt und in die Diskussion gebracht. Und ich hoffe sehr, Herr Welsch, Sie hat die Postmoderne bis heute nicht losgelassen. Aber erst mal schönen guten Tag!
Wolfgang Welsch: Guten Tag!
Kassel: Wenn sie allgegenwärtig ist, dann hört man auch oft den Spruch: Na ja, Postmoderne – das ist anything goes, das ist Beliebigkeit. Sträuben sich Ihnen die Nackenhaare, wenn Sie das hören?
"Nicht über Beliebigkeit klagen, sondern fröhlich wählen und entscheiden"
Welsch: Ach, inzwischen nicht mehr, damals – das sind ja irgendwie tempi passati – schon sehr. Das Richtige an dem Einwand ist, dass die Postmoderne uns beigebracht hat: Es gibt nicht die eine gute Lösung für alle Fälle, für alle Fragen, sondern man muss situationsspezifisch agieren, denken. Es ist auch erlaubt, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Orientierungen haben. Daran ist nichts Schlechtes, sondern das ist menschlich, das ist positiv, das ist befreiend, das gehört zur Moderne. Also dieser Impuls der Pluralität, der führt natürlich dann dazu, dass jemand, der das vielleicht nicht so gut leben kann, sich dann fragt: Oh, jetzt habe ich so viele Angebote, jetzt weiß ich gar nicht, was ich will. Dann sage ich nur: Dann soll er auf sich hören, auf seine inneren Stimmen. Die sagen ihm schon, was er will. Von außen kriegt er es vielleicht eingetrichtert, aber meistens das Falsche, über Werbung, Reklame und dergleichen. Also nicht über Beliebigkeit klagen, sondern fröhlich wählen und entscheiden.
Kassel: Aber wenn die Postmoderne sagt, so wie Sie es gerade in Worte gefasst haben, es ist eben nicht eine Position die richtige, heißt das im Umkehrschluss, es gibt auch keine Position, die die falsche ist?
Welsch: Es gibt situativ richtige Positionen und Aktionen und Entscheidungen, und entsprechend situativ falsche. Und was Lyotard umtrieb unter anderem in diesem Buch, war, dass man in der Moderne immer gedacht hat: Es gibt die eine Lösung für alle Fälle. Und das stimmt eben nicht. Ich brauche eben für Freundesverhältnisse vielleicht andere Maximen als für Liebesverhältnisse und andere als für die Verhältnisse in einem Büro. Ich muss verschiedenen Situationen gerecht werden, und das kann ich nicht mit einer einzigen Regel. Man braucht viele Regeln für viele Situationen. Dafür wollte er unsere Aufmerksamkeit schärfen. Und übrigens, weil Sie in der Einleitung sagten, ja, ist das alles auf dieses eine Buch zurückzuführen – natürlich nicht, und Lyotard wollte die Welt nicht verändern. Er hat einen Nerv der Zeit getroffen.
Er hat eben getroffen. Also irgendwann hat er die Postmoderne definiert als Ende der Metaerzählungen. Metaerzählungen, das heißt, was ich gerade sagte: eine einzige Lösung für alle Fragen. Und er meinte: Das glaubt doch heute niemand mehr ernsthaft. Wir haben es ja auch in großen politischen Systemen erlebt, Ende des Kommunismus, also für ihn schon 79 das Abrücken von diesen Ideen, dass das nicht geht, mit einem Allheilmittel überall durchzukommen. Wir haben den Glauben an die Metaerzählungen verloren. Wir sind frei, wir sind offen geworden für Vielfalt, für Pluralität. Diesen Nerv hat er getroffen, den hat er aufgenommen, den hat er befördert.
Und es war etwas Zweites in diesem Buch: Das Thema waren ja die neuen Informationstechnologien, erstaunlicherweise schon 1979. Und Lyotard hat sich gefragt: Was sind die Standards von Moderne in Bezug auf das Wissen? Und da ging er zurück zu den künstlerischen Avantgarden und wissenschaftlichen Avantgarden des 20. Jahrhunderts und sagte: Na ja, Wissen ist heute dadurch ausgezeichnet, dass es Unschärfen gibt, dass es Ungenauigkeit gibt, dass wir wissen, etwas passt für eine Situation und für eine nächste nicht.
Und dieses Wissen, diese Form des Wissens, die dürfen wir nicht verlieren, wenn jetzt die neuen Informationstechnologien kommen. Und er hat einerseits gesehen, da besteht eine große Gefahr der Überwachung der Gesellschaft durch die Informationstechnologien – und das war ja ganz schön richtig, wir haben den NSA-Skandal heute –, und andererseits besteht die große Chance und Hoffnung, dass diese Informationstechnologien der Emanzipation dienen, der Befreiung des Einzelnen, der Wissen sich aneignen kann über das Internet in einer Form, wie es früher nicht möglich war. Also diese beiden Optionen, diese beiden Möglichkeiten hat er gesehen. Beide sind noch lebendig, beide sind im Kampf genau… – also heute –, genauso wie damals. In dem Sinn war es hellsichtig und ist es noch immer aktuell.
Kassel: Sie haben – und, ich bin mir ziemlich sicher, ohne Absicht – damit eine interessante Vorlage geliefert, um noch mal anschaulich zu machen, wie sehr auch unter Experten, unter Philosophen zumindest, die Definitionen variieren, weil Sie haben ja schon erwähnt, Lyotard sah auch den Kommunismus als etwas, was er nicht mehr wollte, er hat vorher, in den 70ern, ein bisschen zumindest mit dem französischen Sozialismus sympathisiert, …
Welsch: Richtig, sehr sogar.
Kassel: … war davon längst abgekommen. Nun gibt es Menschen, die sagen: Die Postmoderne ist tot. Wir haben heute Vormittag, kurz nach 11 Uhr, mit Markus Gabriel gesprochen, das ist ein Philosoph aus Bonn, also er ist an der Universität Bonn, der hat sich – ist ja sehr untypisch für Philosophen, so konkret zu werden – sogar dazu hinreißen lassen, mehr oder weniger auf den Tag genau zu sagen, wann die Postmoderne gestorben ist. Wir hören diesen Ausschnitt aus dem Gespräch.
Welsch: Ich habe schon eine Vermutung.
Kassel: Wir hören es an. Bitte.
Markus Gabriel: Ich glaube, die Postmoderne ist in gewisser Weise 1989 gestorben. Die ist gestorben, wenn man so will, an der Wiedervereinigung. Das heißt, die Postmoderne lebte ganz stark davon – deswegen ist es auch eine Bewegung, die in den 60ern beginnt und dann ihren Höhepunkt in den 80ern hat –, die Postmoderne lebte von der Idee, dass es vielleicht auf der anderen Seite einer Grenze noch ganz andere Lebensentwürfe gibt, die vielleicht auch gut sind. Man war da vorsichtig, aber die französischen postmodernen Philosophen flirteten alle mit dem Maoismus oder teilweise sogar Stalinismus. Also man flirtete immer mit solchen Dingen, radikal linken Gesellschaftsentwürfen. Die sind aber in gewisser Weise realhistorisch fürs Erste gescheitert, und damit ist die Postmoderne auch in Frage gestellt worden.
Kassel: Das war der Bonner Philosoph Markus Gabriel. Live bei uns im Studio ist Wolfgang Welsch, ebenfalls Philosoph und einer der Vertreter der Postmoderne im deutschsprachigen Raum. Herr Welsch, ich ahne schon, dass Sie nicht sagen werden: Hat ja völlig recht, der Mann. Also frage ich gleich anders: Warum hat er nicht recht?
Welsch: Er liegt da einfach banal daneben. Für Lyotard und für seine Kollegen war genau die Verabschiedung von den kommunistischen Hoffnungen das Eintrittstor in die postmoderne Theorie. Die haben nicht bis 1989 warten müssen. Das hatten sie längst schon vorher vollzogen, und Lyotard eben exemplarisch – Ende der Metaerzählungen, da war das große Ende, was sie vor Augen hatten, war das Ende der kommunistischen Metaerzählung. Insofern: 89 hat für die Postmoderne keine Bedeutung.
Kassel: Ist denn irgendetwas von der Postmoderne jetzt abgeschlossen? Sind wir jetzt in einer Phase, wo man vielleicht schlicht sagen muss, sie ist in so vielen Bereichen so verwirklicht, dass sie gar kein Zukunftsmodell mehr sein kann? Oder schließt sich das bei der Postmoderne schon völlig aus?
"Was früher Grabenkämpfe waren, das sind heute Geplänkel"
Welsch: Also meine Sicht ist eher die, dass sie tatsächlich eingedrungen ist in unsere Lebenswelt. Wir denken ganz selbstverständlich in vielen Fällen „Postmoderne“, in Anführungszeichen, und es ist überhaupt nicht nötig, zu wissen, dass dies Dinge oder Kriterien sind, die vor 20, 30, 40 Jahren von postmodernen Philosophen propagiert wurden. Man muss nicht wissen, was postmodern ist – wir sind postmodern!
Die Postmoderne hat in diesem Sinn gesiegt, hat sich durchgesetzt, übrigens nicht nur die eine Richtung der Postmoderne, die auf Differenz, auf Unterschiede, auf Wahrung der Pluralität setzt, sondern auch die andere Richtung, die gesagt hat: Na, Freunde, ihr habt zwar recht gegen die modernen Einheitsfanatiker, dass ihr auf Pluralität und Differenz setzt, aber eigentlich ist dieser Zug auch schon abgefahren – wir leben in einer Zeit der Indifferenz. Die Unterschiede werden immer geringer. Und auch diese Richtung – Vattimo, Baudrillard und andere – haben eine gewisse hellsichtige Kraft gehabt.
Schauen Sie heute, jedem ist es vertraut, dass er sagt: Die Parteien unterscheiden sich nicht mehr. Was früher Grabenkämpfe waren, das sind heute Geplänkel, und man weiß gar nicht mehr, welche Seite was vertritt. Denken Sie an die sogenannte Energiewende. Die wurde eingeleitet von Schwarz-Gelb mit den Mitteln, mit den Verfahren einer Planwirtschaft. Und jetzt wird sie von einem Roten, vom Vize- oder De-facto-Kanzler Gabriel mit marktwirtschaftlichen Elementen versehen. Das ist so ein Beispiel, wo jeder sehen kann, dass die großen Unterschiede gar nicht mehr bestehen, dass eher so etwas wie Indifferenz gilt. Also auch diese Seite, will ich sagen, nicht nur die Lyotard-Seite, hat etwas gesehen, was sich tatsächlich in der Zukunft bewahrheitet hat.
Kassel: Da sind wir aber wieder – damit haben wir ja fast auch begonnen – bei dieser schwer zu definierenden Grenze zwischen Flexibilität und Beliebigkeit. Auch wenn wir streng genommen – das ist mir jetzt mal gerade egal – die Zeit nicht mehr haben, möchte ich in einem Punkt noch mit Ihnen in die Zukunft gucken: Sie haben mal einen Text geschrieben, der sich vor allen Dingen beschäftigt hat mit Postmoderne und Architektur, aber nicht nur. Und da kommt dieser Satz drin vor in Bezug auf die Zukunft und wie es weitergehen könnte mit der Postmoderne: „Wir sollten, kurz gesagt, nicht von innen nach außen, sondern von außen nach innen denken und planen.“ Ein bisschen aus dem Zusammenhang gerissen, man kann es vielleicht erklären mit dem Satz, Sie sagen: Der Mensch soll nicht als Mensch heraus den Rest der Welt betrachten, sondern er soll den Rest der Welt betrachten und dann den Bezug auf sich finden. Ist das – zumindest zum Teil – auch, aber nicht nur in der Architektur die Zukunft der Postmoderne?
Architektur soll sich in die Natur einfügen
Welsch: Ja, das ist die Position, wie ich sie seit einigen Jahrzehnten vertrete, und die geht über die postmoderne Position und die moderne Position hinaus. Da liegt wirklich eine Kritik und Verabschiedung der Moderne zugrunde, der Moderne, die alles vom Menschen aus denkt und auf den Menschen zudenkt und den Menschen nackt denkt. Man meint, man könne auch den Menschen nur von sich her denken. Und daraus erklären sich dann viele Auffassungen in der modernen Philosophie: Ja, wir können ja nur von uns ausgehen, eigentlich sind wir Solipsisten, eigentlich sind wir gefangen im Gehäuse unseres Denkens, im Gehäuse der Sprache, wir können die Welt gar nicht erkennen – und all diese Sachen.
Und meine Kritik sagt eben, nein, nein: Eine richtige Analyse des Menschen sieht, dass der Mensch ein geschichtliches und weiterhin ein evolutionäres Produkt ist. Ich muss den Menschen aus dem Kontext der Evolution verstehen, aus dem Kontext der natürlichen, der biologischen Evolution wie der kulturellen Evolution. Und wenn ich das tue, dann sehe ich, dass der Mensch eben nicht, wie die Moderne gemeint hat, vom Himmel gefallen ist, sondern von Anfang an im Konnex ist mit anderen Lebewesen, mit der umgebenden Natur.
Und die Anwendung auf die Architektur, die sie ansprechen, besagt dann: Wenn du ein Gebäude planst, fange nicht an, irgendeine Form zu entwerfen, wie man das früher gelehrt hat, sondern überlege dir: Was sind die Konditionen des menschlichen Daseins an diesem Ort? Was ist die Geschichte, was sind die Materialien, wie steht es mit Luft, Wind, Wasser, Atmosphäre, und, und, und? Mein Vorbild sozusagen in diesen Gedanken waren die japanischen Architekten, die tatsächlich – anders als modern-funktionalistische Architekten – ein Haus nicht von innen nach außen planen und eigentlich nur das Haus als Kubus, als Schachtel planen, sondern die sich überlegen: Was strömt da an Energie, was gibt es an natürlichem Wind, an Windhauch, an Wasser, auch an sozialer Energie? Wie kann ich das bündeln, ohne dass ich ein Gebäude mache, was aus Sicht definiert ist und abgeschlossen ist gegen seine Umwelt? Im Grunde soll das Gebäude eine Durchgangsstation oder eine Verdichtungsstation dessen sein, was seine Umwelt ist. Und das ist natürlich ein ganz anderes Verhältnis als in der postmodernen Architektur und in der modernen Architektur.
Kassel: Wir sind jetzt an dem Punkt, wo ich gerne die nächsten drei Stunden Gespräch einleiten würde, das können wir an dieser Stelle nicht machen, vielleicht mal irgendwann an einer anderen.
Welsch: Wäre schön.
Kassel: Aber für alle, die noch nicht – und ich hoffe, so weit haben wir die Menschen jetzt nicht getrieben –, die noch nicht genug haben von der Postmoderne: Heute Abend um 19.30 Uhr gibt es ein Feature zu diesem Thema von Walter van Rossum mit unserer Reihe „Zeitreisen“ hier im Deutschlandradio Kultur. Bei uns jetzt zu Gast war – und ich sage das nicht so leichtfertig, da widerspricht ja immer keiner, bei der Postmoderne widersprechen sie alle – einer ihrer bedeutendsten Vertreter im deutschen Sprachraum, Profesor Wolfgang Welsch. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Zeit.
Welsch: Gerne!
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