Wie man Bildungsaufsteiger nach vorne bringt
In kaum einem anderen Land ist der Bildungsaufstieg so schwer wie in Deutschland. Die Uni Duisburg-Essen unterstützt deshalb gezielt Jugendliche aus sogenannten bildungsfernen Schichten – mit dem Programm "Chance hoch 2".
In kaum einem anderen Land ist der Bildungsaufstieg so schwer wie in Deutschland – das haben nicht zuletzt die Pisa-Studien gezeigt. Während hierzulande gut Drei Viertel der Akademikerkinder studieren, schaffen es nur knapp ein Viertel der Arbeiterkinder auf eine Hochschule.
Dabei sind Kinder aus Arbeiterfamilien nicht weniger begabt für ein Studium. Sie kennen sich mit diesem Bildungsweg nur überhaupt nicht aus. Die Uni Duisburg-Essen versucht deshalb seit einigen Jahren, gezielt etwas für Jugendliche aus sogenannten bildungsfernen Schichten zu tun – mit dem Programm Chance hoch 2. Es holt die Jugendlichen schon in der 9. oder 10. Klasse ab und fördert sie insgesamt sechs Jahre lang – über das Abitur hinaus bis weit in ein Studium hinein. Vivien Leue hat sich mit Stipendiaten des Programms getroffen:
"Mein Name ist Agit Kaidy, ich bin 23 Jahre alt und studiere Bauingenieurswesen im fünften Semester jetzt."
Ich treffe Agit Kaidy an der Uni Duisburg-Essen, dort wo er studiert. Er kennt sich aus hier. Zur Begrüßung ein fester Händedruck, ein offenes Lächeln.
Dass sein Weg bis an die Uni schwerer war als der der Mehrheit der Studierenden, sieht man ihm nicht an – Jeans, dunkles Hemd, kurze dunkle Haare: Agit ist ein junger Student. Und doch ist seine Geschichte etwas Besonderes. Er ist Bildungsaufsteiger, so heißt das im Fachjargon, wenn die Kinder Abschlüsse schaffen, von denen ihre Eltern noch nicht einmal geträumt haben:
"Ich bin nicht zum Kindergarten, ich bin im Jahre 99 mit meinen Eltern nach Deutschland."
Von wo aus?
"Von Irak. Also ich hatte wirklich keine Unterstützung in der Schule. Und wenn man in einer Klasse ist mit cirka 30 Schülern, da ist es schwer, auch für die Lehrer, sich auf einen zu konzentrieren, der nicht so weit ist wie die anderen. Deswegen habe ich auch damals die erste Klasse wiederholt und bis zur vierten Klasse waren die Noten immer noch nicht gut. Aber zum Glück hatte ich eine Lehrerin, die an mich geglaubt hat und das hat mich motiviert, mehr zu machen."
Der Beratungslehrer gab den Tipp
Agit wächst mit acht Geschwistern auf, seine Eltern sind froh, in Sicherheit zu sein. An so etwas wie Karriere ist für sie nicht zu denken. Nach der Grundschule schafft es Agit knapp auf die Gesamtschule. Dort lernt er in der 10. Klasse das Projekt "Chance hoch 2" kennen. Es richtet sich an Jugendliche wie Agit, die aus Nicht-Akademiker-Familien stammen und es ohne Förderung oft nur schwer bis zum Abitur, geschweige denn an die Uni schaffen.
"Ich wurde vom Beratungslehrer dahin geschickt und habe davor aus Hollywood-Filmen usw. von den Colleges und so gehört, da gibt es Stipendien. Aber vorher war ich nie damit konfrontiert und habe gar nichts davon gewusst. Und plötzlich stehe ich da und so etwas wird vorgestellt und natürlich hat mich das interessiert und hat mich sofort angesprochen."
Agit bewirbt sich und wird in den ersten Projektjahrgang aufgenommen – drei Jahre lang begleitet ihn "Chance hoch 2" auf dem Weg zum Abitur. Seminare zum Thema "Wie halte ich Referate" oder "Was sind meine Stärken und Schwächen" machen ihn fit für die Uni. Außerdem erhält Agit ein monatliches Bildungsgeld von 50 Euro, das er für Bücher, Sprachkurse oder – wenn er spart – für einen Computer ausgeben darf, nicht aber für Kleidung zum Beispiel.
Auch später im Studium bleibt das von der Stiftung Mercator mitfinanzierte Projekt an seiner Seite, noch einmal drei Jahre lang. Es vermittelt ein Stipendium in Höhe von 300 Euro pro Monat und bietet Kurse zu Themen wie "Wissenschaftliches Arbeiten" oder "Zeitmanagement" an.
Sieben feste Partnerschulen
Özlem Ipiv betreut Kaidy und die anderen Stipendiaten von "Chance hoch 2":
"Die Langfristigkeit ist ein sehr wichtiger Faktor in dem Projekt. Wir lernen die Schüler schon relativ früh kennen, schon bevor sie in die Sekundarstufe zwei kommen, in der 9. oder 10. Klasse und begleiten sie dann quasi sechs Jahre auf ihrem Weg."
Sieben feste Partnerschulen hat das Programm. Aber auch Jugendliche anderer Schulen können sich bewerben. Sie sollten allerdings aus der Region kommen, denn die Treffen und Vorbereitungskurse finden an der Uni Duisburg-Essen statt.
Mittlerweile betreut "Chance hoch 2" schon den fünften Jahrgang. In dieser, der jüngsten Gruppe, ist auch die 16-jährige Schülerin Seda. Ein Jahr ist sie schon dabei:
"Ich habe das Gefühl, jedes Mal, wenn ich hierhin komme, lerne ich jedes Mal etwas neues. Und dann ist das, was davor war, das fliegt dann weg und dann habe ich wieder diese neuen Erfahrungen."
Fast alle Teilnehmer erzählen davon, dass das Erfolgsgefühl, es in das Projekt geschafft zu haben, die ganze Familie erfasst hat, wie auch Latifa, 17 Jahre alt:
"Meine Eltern freuen sich sehr, dass ich diese Möglichkeit habe, und denken, das ist auch sehr gut für die Zukunft später – weil sie ja auch selbst keine Erfahrung mit einem Studium haben und deshalb finden sie das auch sehr hilfreich für mich."
Bildungsaufsteiger haben häufig mit inneren Konflikten zu kämpfen. Denn offenbar gilt: Wer aufsteigen will, muss sich von seinem Herkunftsmilieu lösen. Die sozialen Aufsteiger entfremden sich von ihrer Herkunft, ohne direkt irgendwo anders anzukommen.
Die Eltern mitnehmen
Das Projekt "Chance Hoch 2" bindet deshalb von Beginn an die ganze Familie mit ein:
"Wir versuchen eben auch, Eltern mitzunehmen, indem wir Elterninfoveranstaltungen geben. Da geht es darum, grundlegende Dinge zu vermitteln. Was ist ein Hochschulabschluss überhaupt. Was ist der Bachelor, was ist der Master, was ist der Unterschied zwischen einer Fachhochschule einer Universität. Welche Finanzierungsmöglichkeiten gibt es."
Und die Projektteilnehmer – die neuen und die alten – bilden untereinander eine Art zusätzliche Familie, wie Tobias erzählt, Teilnehmer des 4. Projektjahrgangs und mittlerweile Student der Bauingenieurswissenschaften:
"Man hat auch Menschen kennengelernt, also die anderen Jugendlichen, die halt dasselbe Problem haben, also nicht Probleme, sondern dieselbe Ausgangssituation. Also man war dann nicht mehr alleine, sondern eben in der Gruppe."
Ältere Jahrgänge springen als Mentoren für jüngere Stipendiaten ein und beantworten Fragen wie:
(Tobias) "Ob man das Studium überhaupt schafft, weil man eben aus einem nicht akademischen Haushalt kommt. Und da konnte man sich überhaupt nicht vorstellen, wie schwierig das so ist. Und da wurde einem überhaupt erst die Angst genommen und dann war's gar nicht so schlimm."
Wenn die Zweifel kommen
Das Programm gibt auch Halt, wenn Zweifel kommen: Ist das wirklich der richtige Weg, lohnt sich das überhaupt? Bei Agit kamen diese Zweifel direkt nach dem Abitur:
"Was sich bei mir eingeprägt hat, ist auf jeden Fall der Moment, als ich zum Jobcenter eingeladen wurde. Da wurde mir nach dem Abi empfohlen, lieber eine Ausbildung zu machen als ein Studium. Und da kann ich mich genau daran erinnern, als ich damit zu Frau Ipiv gegangen bin. Sie hat mir gesagt, ich soll mich davon überhaupt nicht irre leiten lassen und sie hat mir das Studium empfohlen und ich bin heute dankbar dafür, für den Rat. Weil in der Situation fühlt man sich orientierungslos."
Özlem Ipiv wird immer noch sauer, wenn sie an diese Situation vor fast drei Jahren denkt:
"Das war für mich schockierend, dass man so eine Äußerung tätigt. Agit hat einen Durchschnitt von 2,9. Das ist nicht schlecht, wenn man sich auch den sozialen Hintergrund anguckt und wenn er sagt, ich habe acht Geschwister und sich zuhause die Verhältnisse anguckt. Er ist mit 6 erst nach Deutschland gekommen, musste Deutsch komplett neu lernen. Dann ist Abitur mit 2,9 eine sehr gute Leistung. Dann musste ich ihn aber noch mal davon überzeugen, zu studieren, weil er von dieser Aussage komplett verunsichert wurde."
Ipivs Engagement hat sich ausgezahlt: Agit Kaidy ist ein erfolgreicher Student, der auch außerhalb der Uni von sich reden macht. Letztes Jahr war er zum Sommerfest des Bundespräsidenten eingeladen, war Jurymitglied bei einem Hochschulpreis, macht bei Forschungs-Wettbewerben mit:
"Wenn ich keine externe Hilfe hätte von Chance hoch 2, hätte ich nur das Jobcenter-Gespräch. Dann wäre ich vermutlich jetzt in einer Ausbildung statt im Studium."