Projekt des Cellisten Matt Haimovitz

Bach mit Salsa, Straßenmusik und Jazz

Von Philipp Quiring |
Die Werke von Johann Sebastian Bach gehören für viele Instrumente zum absoluten Basis-Repertoire. Bachs Suiten beschäftigen auch den israelischen Cellisten Matt Haimovitz immer wieder. Nun hat er sie in einen völlig neuen klanglichen Kontext gesetzt - und erklärt, was er dabei entdeckt hat.
Matt Haimovitz: "Ich war acht Jahre alt, als ich von meinen Eltern ein Cello geschenkt bekam und zu spielen begann. Um mich zum Üben anzuregen, brachten sie ein Vinyl-Set mit nach Hause: Eine Einspielung der Sechs Bach-Suiten von Pablo Casals. Das war meine erste Begegnung mit diesen Stücken, nachdem ich ein Jahr Cello spielte."
In die Lebensphase dieser Kindheitserinnerung fällt auch die erste künstlerische Auseinandersetzung Matt Haimovitz'. Mit dem ehemaligen Schüler Pablo Casals', Gábor Rejtő, beginnt er an Bachs Cello-Suiten zu arbeiten. Sie werden zum wesentlichen Bestandteil seines täglichen Übens. Über 35 Jahre ist dies her. Die Cello-Suiten begleiten Haimovitz bis heute. Zwei Gesamteinspielungen des Bach-Zyklus' hat er bereits veröffentlicht – erst vor wenigen Monaten erschien eine Einspielung mit Barockcello und Violoncello piccolo. Die alte Abschrift der Suiten, die Bachs zweite Ehefrau Anna Magdalena angefertigt hat und auf der die heute gängigen Notenausgaben basieren, hat Haimovitz akribisch studiert, um dem musikalischen Geist der Zeit so nah wie möglich zu kommen. Am Puls der Moderne ist hingegen seine aktuelle Auseinandersetzung mit Bach.

Tanzstile aus ganz Europa

Haimovitz: "Ich wollte auch nach vorne blicken. Und ich wollte nach all den Jahren, nach all dem, was Bach mir gegeben hat, auch 'Bach' zurückgeben. Und so beauftragte ich sechs Komponisten mit sehr unterschiedlichen musikalischen Hintergründen und in einer Weise, wie Bach es tat. Nämlich Tanzstile aus ganz Europa - aus Frankreich, Italien und natürlich Deutschland – in seinen Suiten zusammenzubringen."
Sechs verschiedene Komponisten - Philip Glass, Du Yun, Vijay Iyer, Roberto Sierra, David Sanford und Luna Pearl Woolf – fanden völlig verschiedene Bach-Bezüge. Den Präludien der einzelnen Suiten vorangestellt komponierte jeder Zeitgenosse ein eigenes Werk. Von fünfeinhalb bis zwölf Minuten Länge dauern die Werke, die etwa auf karibischen Salsa, hawaiianischen Gesang oder Jazz zurückgreifen. "Vorspiele zum Vorspiel" wie das Stück "Run" des US-Amerikaners Vijay Iyer zur 3. C-Dur-Suite, mit dem Matt Hamovitz vor seinem Projekt noch nie zusammengearbeitet hat.
Haimovitz: "Ich schickte ihm eine Nachricht über Facebook und er antwortete innerhalb von fünfzehn Minuten. Im Grunde genommen fragte ich ihn nur: Ist Bach wichtig für Sie und haben die Cello-Suiten irgendeine Bedeutung für Sie? Er antwortete: Oh mein Gott! Diese Stücke sind so wichtig für mich, obwohl ich aus der Jazzwelt komme und ein indischer Musiker bin. Er wollte sofort teilnehmen."
Als Haimovitz begann, Iyers Stück zu üben, hielt er es zunächst für unspielbar, verbrachte drei Tage lang damit, die Vorgaben des Komponisten sklavisch umsetzen zu wollen, ehe er dann damit begann, sich von den Regieanweisungen zu lösen.
Haimovitz: "Oh, mein Gott, ich kann nicht, ich kann das nicht spielen. Das ist für einen Schlagzeuger oder so geschrieben. Dann hatte ich aber eine Art Durchbruch, begann Markierungen für die Artikulation und die Harmonik zu setzen, experimentierte mit der Dynamik, wie laut, wie weich kann ich spielen und plötzlich begann das Stück Gestalt anzunehmen. Ich hoffte, die Änderungen würden ihn nicht stören. Also das war mit jedem Komponisten faszinierend. Ich bekam die Möglichkeit, die Technik des Cellos neu zu erlernen und herauszufinden, wie all diese erweiterten Techniken und die neue Sicht auf das Instrument sich integrieren lassen."

Straßenmusik in Bach verarbeitet

Iyers Jazz-Einflüsse als Kontrast oder als Teil zu Bach. Im Stück von Roberto Sierra "La memoria", das dem Es-Dur Präludium der 4. Suite vorangestellt ist, verarbeitet der in Puerto Rico aufgewachsene Komponist lateinamerikanische Straßenmusik seiner Heimat. Mit dem amerikanischen Komponisten David Sanford arbeitet Haimovitz seit mehr als zehn Jahren regelmäßig zusammen.
Während Haimovitz' Ehefrau, die Komponistin Luna Pearl Woolf ein Opernprojekt für die Washington National Opera verfolgt, hierfür hawaiianische Gesänge studiert, lässt sie sich erst von einer Mitarbeit überzeugen, nachdem Haimovitz ihr auf einem Violoncello piccolo die D-Dur Suite Bachs vorgespielt hat. Für ihr Stück "Lili'uokalani" greift sie ebenfalls auf hawaiianischen Gesang zurück.

Für die Zusammenarbeit mit der Komponistin Du Yun, die ihren Beitrag für die 2. Suite lieferte, verabredete sich Haimovitz regelmäßig für ausgiebige Skype-Konferenzen. Auf Grund der komplizierten Notation bat Haimovitz immer wieder um Vereinfachungen, die er jedoch nicht ohne Rücksprache mit der Komponistin vollziehen wollte.
Die in den zwei Jahren im engen Austausch mit den Schöpfern entstandenen Stücke führt Haimovitz auch gerne in Konzerten mit den vollständigen Bach-Suiten auf. So spielte er in zwei Tagen den gesamten Bach-Zyklus, sämtliche 20 bis 30-minütigen Suiten zusammen mit ihren entsprechenden Neu-Ouvertüren.
Haimovitz: "Ich bin immer wieder erstaunt, dass – obwohl ich so viel zeitgenössische Musik, so viele Genres gespielt habe – dass ich immer wieder Neues zu entdecken und zu lernen habe. Und mit diesen Stücken, mit jedem, habe ich eine Art, eine Reihe von neuen Fähigkeiten entwickeln können; mich Bach neu genähert, sodass nach 35 Jahren oder mehr die Art, wie ich Bach spiele und höre, heute ganz anders ist. Das ist für mich wie Brot und Butter."
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