Versöhnen durch bewussten Glauben
Eine christliche Gemeinschaft, die eine andere Religion ernstnimmt: Im Kloster Mar Musa in Syrien entdeckte Jens Petzold das religiöse Leben für sich. Inzwischen setzt der Pater seine interreligiöse Arbeit im Irak fort – und engagiert sich für das Projekt "Erinnerte Zukunft", das Opfer des syrischen Bürgerkriegs unterstützt.
Kirsten Dietrich: Die Gemeinschaft von Mar Musa besteht erst seit den 1980er-Jahren und hat sich doch schon einen Namen gemacht: als Vorreiter nämlich bei dem Versuch, Christen und Muslime verschiedenster Konfessionen im zersplitterten Nahen und Mittleren Osten miteinander ins Gespräch zu bringen. Ordensgründer Paolo Dall'Oglio bezog mit dieser Idee ein verfallenes Kloster im Gebirge zwischen den syrischen Städten Homs und Damaskus.
Wie der Gedanke der Versöhnung – spirituell und ganz real – den Krieg übersteht, aber durch ihn auch verändert wird, darüber habe ich mit Jens Petzold gesprochen. Jens Petzold kam vor 25 Jahren nach Mar Musa – als Tourist. Aber als ein ganz besonderer: Denn eigentlich war er 30, gerade Beamter bei der Post geworden und damit in gesicherten Bahnen angekommen. Wie der Postler Jens Petzold zu Pater Jens wurde, mit einer neuen Heimat in Syrien und dem Irak, darüber habe ich mit ihm vor dieser Sendung gesprochen.
Ich habe mit ihm über Früchte der Arbeit von Mar Musa gesprochen – wie das Projekt "Erinnerte Zukunft", mit dem christliche und muslimische Flüchtlinge in Berlin in Kontakt kommen –, ich habe aber auch einen Blick zurückgeworfen und wollte von Jens Petzold wissen: Warum hat er sich damals auf die Reise gemacht?
"Die religiöse Frage war immer sehr stark in mir"
Jens Petzold: Mein Großvater war richtig froh, als ich dann meinen Vertrag als Beamter bekommen habe. Warum bin ich losgegangen? Weil das immer schon eine Frage war, wie hängen die anderen Religionen miteinander zusammen, wie hängen überhaupt Religionen miteinander zusammen. Also die religiöse Frage war bei mir, obwohl nicht Mitglied in einer Religion, die war immer sehr stark in mir.
Dann, 1993, hab ich gesagt, jetzt schau ich mir andere Völker an, schau ich mir an, was die erleben in ihrer Spiritualität. Ich hatte fest damit gerechnet, dass ich irgendwann mal in einem buddhistischen Kloster für zwei, drei Jahre bleibe und eben erfahre, was da die Religionen verbindet.
Dietrich: Warum das Kloster?
Petzold: Warum das Kloster, ja, in Dair Mar Musa, habe ich ein christliches Kloster gefunden, eine christliche Gemeinschaft, die eine andere Religion ernst genommen hat, den Islam, und das hatte ich der christlichen Religion nicht zugetraut, und dadurch hat mich Mar Musa immer mehr interessiert. Als ich dann nach einem Jahr die Taufe erbeten habe, habe ich schon angefangen zu überlegen, ob nicht ein religiöses Leben für mich eben die Berufung ist.
Dietrich: Was heißt denn das, dass in Mar Musa in einem christlichen Kloster der Islam ernst genommen wird?
Petzold: Ja, mit Pater Paolo Dall'Oglio und mit den anderen Mitgliedern von der ersten Stunde des Klosters – weil damals war das ja noch sehr klein, ist es immer noch – habe ich Leute getroffen, die sich nicht so sehr für jetzt Theologie und so weiter interessiert haben, sondern für die spirituelle Erfahrung des Muslim in seinem Glauben und wo unsere Gemeinschaft überzeugt war, auch schon durch die verschiedenen Zeugnisse der Muslime, dass sie eben rechtschaffene Menschen sind eben wegen des Islam und nicht trotz des Islam.
Dietrich: Die Gemeinschaft von Mar Musa ist, ja, in die Mühlen des syrischen Bürgerkriegs geraten, und zwar auf schrecklichste Art und Weise, wenn man das mal so sagen kann. Pater Paolo ist aus Syrien ausgewiesen worden, dann verschwunden, vom Islamischen Staat, IS, entführt worden und verschollen. Haben Sie denn noch Hoffnung, dass, wenn jetzt der IS weiter zurückgedrängt wird, dass Sie noch mal irgendwie das Schicksal von Pater Paolo aufklären?
Gerüchte über das Schicksal von Pater Paolo
Petzold: Es besteht immer die Hoffnung, dass wir mindestens ein bisschen mehr Informationen bekommen. Es gibt jetzt gewisse Gerüchte, die jetzt umfließen. Jetzt müssen wir langsam herausfinden, ob das Gerüchte sind oder ob da wirklich etwas da ist. Jetzt ist es möglich, in Rakka die verschiedenen Friedhöfe zu untersuchen – das wird noch Monate dauern, bis man da weiß, ob irgendwelche Reste gefunden werden von Pater Paolo –, und auf der anderen Seite hat man nie eigentlich eine ganz sichere Nachricht gehört, dass er umgebracht wurde. So kann es sein, dass es er noch irgendwo in einem Gefängnis in Syrien ist.
Dietrich: Sie selber sind 2011 aus Syrien weggegangen und sind im Nordosten des Irak gelandet, in Sulaimaniyya.
Petzold: Ja.
Dietrich: War das schon ein fester Anlaufpunkt, oder war das der Zufall, der Sie dort hingebracht hat?
Petzold: Schon 2009, 2010 haben wir immer mehr Mühe gehabt, unsere Aktivitäten in Syrien durchzuführen. Wir haben dann angefangen nachzudenken, was können wir machen. Und da, in dieser Reflexion, kommt plötzlich eine E-Mail vom jetzigen Patriarchen, Louis Sako, ob Pater Paolo nicht ein Haus in Sulaimaniyya aufmachen möchte. Pater Paolo konnte nicht reisen, das war noch kurz vor seiner Ausweisung, und da hat er eine kleine Gruppe, die ich dann geleitet habe, nach Irak geschickt.
Und wir haben dann gesehen, dass wirklich Sulaimaniyya eine sehr interessante Stadt ist, dass Irak sehr viel komplexer ist als zum Beispiel Syrien. Wo Syrien mehr oder weniger nur eine Sprache hat und ganz sicher Arabisch wirklich überall gesprochen wird, ist Sulaimaniyya im Gegensatz dazu eine ganz klar kurdische Stadt und dann werden auch ganz viele andere Sprachen gesprochen–sehr, ja, man kann nicht sagen vielversprechend, aber sicher eine auch interessante Herausforderung für unsere Gemeinschaft, und die Möglichkeit eben, auch wirklich was zu tun dort.
Dietrich: Was zu tun, hieß, die letzten drei Jahre ungefähr 250 christliche Flüchtlinge aufzunehmen und zu betreuen, die vor dem Islamischen Staat geflohen waren. Die haben das Kloster jetzt größtenteils wieder verlassen. Was sind jetzt Ihre neuen Herausforderungen dort?
Sprachkurse für die im Irak Vertriebenen
Petzold: Also schon während 2017 haben wir uns überlegt, was machen wir jetzt, weil es war klar, dass viele von den jetzigen Flüchtlingen zurückgehen werden, und es war auch schon weniger Druck auf der Gemeinschaft für die Betreuung. Da war dann eine alte Idee die Sprachkurse, die wir schon für die Flüchtlinge angeboten hatten, für die Vertriebenen, also die Vertriebenen innerhalb vom Irak.
Wir haben schon ganz von Anfang an Kurdischkurse für die Vertriebenen angeboten, dann das langsam ausgeweitet auf Nichtchristen – wir hatten dann Jesiden, Bahai und Leute aus der Ninive-Ebene und Syrer, die dann Kurdisch gelernt haben. Dann ist Englisch dazugekommen, auch während 2017 noch, und dann am Schluss kamen die jungen Kurden und haben gesagt, ja, unser Arabisch ist nicht gut genug, wir finden keine Arbeit, wenn wir nicht gut Arabisch können, könnt ihr nicht noch ein paar Arabischkurse machen.
Und jetzt haben wir Kurdisch, Englisch und Arabisch dort, und das geht dann eben durch alle Gesellschaftsschichten durch. Das ist schon mal ein Erfolg für unsere Gemeinschaft.
Dietrich: Und die interreligiöse Begegnung passiert dann sozusagen en passant beim gemeinsamen Sprachenlernen, oder?
"Wenn man den Nachbarn persönlich kennt, dann entsteht irgendwas"
Petzold: Die interreligiöse Begegnung passiert natürlich auf einer, sagen wir mal, ersten Ebene, mit Sprache lernen, mit Tee zusammen trinken, kleine Diskussionen. Das ist schon ein sehr wichtiger Teil, weil wenn man den Nachbarn persönlich kennt, dann entsteht irgendwas – hoffentlich was Gutes. Dann, in einem zweiten Schritt, wollen wir ja auch noch andere Kurse anbieten.
Auf einer Seite haben wir die Sprachkurse, auf der anderen haben wir schon seit einem Jahr Berufskurse, wo auch alle Gemeinschaftsteile eingegliedert sind. Bei den Berufskursen ist das Problem, wenn es handwerkliche Kurse sind, da sind dann kaum Frauen dabei oder gar keine eigentlich. Jetzt haben wir noch einen Kurs, der mehr Bürofähigkeiten vermittelt, dort ist es dann ein bisschen gemischt, vor allen Dingen dann mehr Frauen – das ist der zweite Teil.
Der dritte wäre dann unsere Bibliothek, die im Moment, ja, ich würde sagen im embryonalen Zustand ist, also noch sehr klein, und das soll eine Bibliothek sein, die spezialisiert ist für den Dialog, für den religiösen Dialog, aber auch für den Dialog zwischen den Kulturen. Dazu kommt, dass man dann mit Scheichs, mit Imams, mit lokalen Persönlichkeiten zusammenarbeiten muss, sich austauschen muss, sonst werden dann diese Seminare irgendwo in der Luft hängen.
Dietrich: Interreligiöse Begegnung und Versöhnung vor Ort, das ist das eine, das andere ist ein Ansatz, den Dialog zu fördern unter denen, die die Region Syrien/Irak verlassen mussten durch den Krieg und die jetzt nach Berlin unter anderem geflohen sind. Die Katholische Akademie in Berlin hat die Federführung für ein Projekt, das nennt sich "Erinnerte Zukunft", und versucht genau diesen Dialog. Sie sind da im Kuratorium, was ist das für ein Projekt, "Erinnerte Zukunft"?
"Menschen nehmen ja ihre Probleme auch immer mit"
Petzold: Die Menschen nehmen ja ihre Probleme auch immer mit, und gerade wenn man vielleicht noch in einem Auffanglager ist oder in einem Flüchtlingsheim, da kommt man ja dann gerade mit denen zusammen, mit denen man vielleicht zu Hause Schwierigkeiten gehabt hat.
Um dort sich zu erinnern, wie über lange Zeit eigentlich die syrische und auch die irakische Gesellschaft eigentlich ein gutes Zusammenleben gefunden haben in der Geschichte, da versucht dieses Projekt eben sich zu erinnern an diese Geschichte, an diese positiven Geschichten.
Dietrich: Der Bürgerkrieg ist seit sieben Jahren offen ausgebrochen. Ist da so viel verloren gegangen?
Petzold: Sieben Jahre sind sehr lang. Es ist auch schwierig, weil ja zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten ist dann Gewalt, ist Erinnerung. Der Christ sagt, ja, die Muslime - und da wirft er natürlich alle in den Topf. Und genauso sind sicher Fehler passiert zum Beispiel vom Christentum oder von Christen zu Muslimen, von Sunniten gegen Schiiten, von Schiiten gegen Sunniten. Da vergisst man sehr, sehr leicht, wie ein Zusammenleben früher war. Diese nahe Vergangenheit, die ist ja eigentlich ein Trauma, und die droht dann andere Erfahrungen zu überdecken.
Dietrich: Ich finde das Konzept sehr spannend, dann zu sagen, wir betrachten Berlin als einen dritten Ort, einen noch mal ganz anderen Ort, der außerhalb der direkten Konflikte steht, und nähern uns deswegen der Bearbeitung dieser Konflikte darüber, dass wir die Geschichte Berlins erkunden, also die deutsche Teilung zu erkunden zum Beispiel, die Verfolgung von Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus zu betrachten. Warum funktioniert das?
Die Erfahrungen anderer Nationen nutzen
Petzold: Ich muss ehrlich sagen, ich hab einen anderen Ansatz vom Problem: Oft haben die Leute in Syrien oder die Leute im Irak das Gefühl, ja, hier in Deutschland ist ja alles gut und wunderbar und ihr habt ja keine Ahnung von Konflikt. Es ist vielleicht ganz wichtig, dass man versteht, dass jedes Volk und jede Nation ihre Konflikte hatte und irgendwas daraus gemacht hat.
Man kommt – das habe ich bei den Flüchtlingen bei uns gesehen – in eine Haltung hinein, niemand versteht mich, denn es ist ja nur mir Gewalt angetan worden, nur mir wurde Unrecht getan. Es ist also sehr leicht, dass man in diese Haltung hineinrutscht, und es ist sehr heilsam, wenn man sieht, dass andere Nationen durch die gleichen Erfahrungen hindurchgegangen sind und Lösungen gefunden haben.
So was wie ein tieferes Verständnis von Menschenrechten kommt vielleicht dann mehr an, weil man eben sieht, dass durch einen enormen Schmerz hindurch diese Werte erarbeitet wurden.
Dietrich: Bei der Frage, wie Versöhnungsarbeit sinnvoll zu gestalten ist, ist ja oft so diese Tendenz zu spüren: viele dieser Konflikte haben ganz wesentlich religiöse Wurzeln, also müssen wir die Religion aus der Versöhnungsarbeit raushalten, um da überhaupt zu einer Verständigung zu kommen. Dieses Projekt jetzt setzt darauf, ganz bewusst die Religion mit in die Versöhnung reinzunehmen, aber eben eine bewusste Form von Religion. Braucht man eigentlich mehr Religion, um Versöhnung schaffen zu können?
Petzold: Man braucht ganz sicher mehr Verständnis von der Religion. Ich denke, es ist sehr gefährlich, gerade im Mittleren Osten die Religion ganz auszuklammern, weil unterschwellig ist sie dann immer dabei. Ich denke, durch die Religion, durch die Erfahrung auch der Religionen ist es möglich, sehr tief anzusetzen, wo dann eben die ganz großen Fragen sind und dort eine wirklich persönliche Entscheidung zu finden zu einer neuen Zukunft.
Dietrich: Das Ringen um Versöhnung in Syrien und Irak steht vor riesigen Aufgaben – ich sprach mit Jens Petzold. Er leitet im irakisch-kurdischen Sulaymaniyya das Kloster Deir Maryam al-Adhra und denkt schon über neue Aufgaben nach: Wie zum Beispiel Schulbildung für die Kinder und Jugendlichen möglich ist, die über Jahre unter der Herrschaft des IS wenig mehr als Indoktrination erfahren haben. Die Katholische Akademie in Berlin hofft, im Herbst das Projekt "Erinnerte Zukunft" weiterführen zu können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.