Projekt: Inklusion andersrum

Ohne Handicap in der Behindertenwerkstatt

Von Thomas Wagner |
Inklusion heißt, Behinderte so weit wie möglich in den "normalen" Alltag zu integrieren. Doch vor allem in der Arbeitswelt dort gibt es noch viele Vorbehalte gegen Menschen mit Handicap. Das Projekt "Perspektivwechsel" will das verändern - und lässt Auszubildende und Behinderte die Arbeitsplätze tauschen.
Zwei junge Männer stehen in einer großen, Licht durchfluteten Lagerhalle am Rande der oberschwäbischen Stadt Weingarten. Nico und Markus. Den Karton vor ihm mit riesigen Klebestreifen verschließen – das dauert bei Nico nur wenige Sekunden, auch wenn er neu hier ist. Nico ist Auszubildender für Lagerlogistik bei einem großen Speditionsunternehmen und hat für eine Woche den Arbeitsplatz gewechselt.
"Ja, wir sind hier in der IWO. Das ist eine Behindertenwerkstatt. Hier können Leute, die in der normalen Arbeitswelt keine Arbeitsplätze finden oder nur schwer finden, die können hier arbeiten, werden hier eingelernt."
"IWO" – das steht für "Integrationswerkstätten Oberschwaben". Und einige der jungen Männer und Frauen, die in der Lagerhalle Kartons befüllen oder zukleben, haben Probleme, ihre Bewegungen zu koordinieren, eine Lernschwäche wie Markus oder können sich nur mit Hilfe der Gebärdensprache verständigen. Die IWO beschäftigt rund 300 junge Menschen, die entweder an körperlichen oder geistigen Behinderungen leiden. Eine Woche lang arbeitet Nico Seite an Seite mit ihnen.
"Mein Chef hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, mal in so eine Einrichtung hineinzuschauen. Und da hab' ich zu mir gesagt: Ja, das ist mal ein anderer Einblick. Wie geht man mit den Menschen um, wenn die nicht reden können zum Beispiel? Wie man unterhält man sich mit denen?"
"Wir möchten Berührungsängste abbauen"
Mit einer Pressluft-Pistole tackert Nico jetzt einen besonders großen Karton zu, Markus hilft ihm dabei. Er findet es klasse, dass Nico eine ganze Woche lang da ist und mithilft. Und dabei ganz selbstverständlich Teil der Belegschaft in der Behindertenwerkstatt wird.
"Ich find' das gut, dass mal einer aus einer anderen Firma kommt, dass er mal sieht, dass hier auch was läuft, und dass vielleicht auch viele Behinderte – ich meine, es gibt ja verschiedene Grade von Behinderungen- , da manche mehr machen, manche weniger machen. Und das man einfach mal die Perspektive sieht, dass es bei uns genauso ist wie draußen, nur nicht so wild, nicht so rau."
Gerold Häring, der Leiter des Projekts, sitzt in einem Nebenraum der Lagerhalle, zeigt auf seinem Laptop eine kurze Videopräsentation.
"Wir möchten in erster Linie Berührungsängste abbauen. Wir möchten, dass sich Menschen gegenseitig kennen lernen, dass sich in den Köpfen etwas ändert. Und wir wünschen uns natürlich, dass die Auszubildenden Multiplikatoren sind und ihr Wissen und ihre Erfahrungen natürlich in den Betrieb hinein tragen. Es geht hier um Hilfsbereitschaft. Es geht hier um Übernahme von Verantwortung. Letztendlich profitiert da ja auch ein Betrieb davon."
Perspektivwechsel in beide Richtungen
Das bestätigt wenig später auch Härings Besucher: Roland Futterer, Geschäftsführer des oberschwäbischen Unternehmens Grieshaber-Logistik, der Chef von Azubi Nico nebenan in der Halle.
"Ein Unternehmen ist nur erfolgreich, wenn das Miteinander im Betrieb funktioniert. Da ist das täglich ein Thema: Die Kommunikation, auf den anderen zuzugehen, auf die Augenhöhe des anderen sich zu bewegen. Und in diesem Fall könnte ich mir vorstellen, dass dort dieses Aufeinander zugehen etwas wahrnehmbarer erlebt hat. Vielleicht kommt am Ende heraus, dass dieser Unterschied gar nicht so groß ist, wie man meint."
Genau das hat der Auszubildende Nico schon jetzt in den Integrationswerkstätten Oberschwaben gelernt: Dass Behinderte genauso wie er zupacken können, wenn es drauf ankommt.
"Die Behinderten können auch sehr gut mitarbeiten. Die schaffen auch so richtig mit hier. Ich geh' jetzt jedenfalls offener mit den Behinderten um. Weil sonst hat man immer die Angst: Ja, wie verhält man sich gegenüber den Behinderten? Und jetzt ist das viel einfacher."
Nico will nach seinem Praktikum den Kontakt zu seinem behinderten Arbeitskollegen Markus auf keinen Fall abreißen lassen. Und das wird ihm auch gar nicht so schwer fallen. Denn schon bald arbeitet Markus für eine Woche mit Nico an dessen Arbeitsplatz.
Der Perspektivwechsel zwischen der Arbeitswelt der Behinderten und der der Nicht-Behinderten funktioniert in beiden Richtungen.
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