Propriozeption

Unser faszinierender Bewegungssinn

08:31 Minuten
Ein Mann balanciert barfuß über einen Baumstamm. (Symbolfoto)
Der Bewegungssinn, die Propriozeption, lässt sich durch zahlreiche Sinneseindrücke trainieren. Beispielsweise beim Balancieren in der Natur. © imago images / Westend61
Robert Heiduk im Gespräch mit Mandy Schielke |
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Es gibt den sechsten Sinn. Er heißt Propriozeption und ermöglicht uns, die Lage des eigenen Körpers im Raum wahrzunehmen. Wer ihn schärfen möchte, dem empfiehlt Sporttrainer Robert Heiduk: einen Barfußspaziergang durch den Wald.
Beim sechsten Sinn geht es nicht um die Wahrnehmung irgendwelcher übernatürlichen Schwingungen oder um eine Fähigkeit, die besonders sensible Menschen besitzen. Der sechste Sinn, die Propriozeption, ermöglicht, die Position der eigenen Gliedmaßen und die Lage des eigenen Körpers im Raum wahrzunehmen.
Obwohl: Dieser Bewegungssinn sei eigentlich im wahrsten Sinne des Wortes „übersinnlich“, meint der Sporttrainer Robert Heiduk. „Denn wir nehmen ihn gar nicht bewusst wahr, so wie die anderen Sinne“ - Sehen, Riechen, Fühlen, Schmecken und Hören.
„Wir können uns den Bewegungssinn als eine Art Navigationssystem für eigene Körperbewegungen vorstellen“, erklärt der Sporttrainer. Sollen wir beispielsweise eine übervolle Tasse tragen, ohne etwas zu verschütten, so benötigen wir hierfür immer wieder eine „visuelle Rückkontrolle“, so Heiduk.
Das heißt, wir fixieren immer wieder den Tassenrand. Würden wir die Augen aber schließen, müssten wir uns einzig und allein auf den Navigationssinn, die Propriozeption, verlassen. Das sei den meisten allerdings gar nicht möglich, „weil der Bewegungssinn bei den meisten von uns nicht so fein ausgeprägt ist“.

Ein Zusammenspiel von Sensorik und Motorik

Erwähnt wurde dieser körpereigene Navigationssinn erstmals im 19. Jahrhundert. Damals hätten deutsche Physiologen dies als „Muskelsinn“ bezeichnet, sagt Heiduk. „Das war aber nur teilweise richtig.“
Im 20. Jahrhundert untersuchte der Neurologe und Medizinnobelpreisträger Charles Sherrington das Phänomen genauer. Er stellte fest, dass Sehnen, Gelenkkapseln, Bindegewebe und Muskeln zwar mit Sinneszellen vollgepackt sind, der Sinn aber auch – oder vor allem – „im Gehirn stattfindet“, so Heiduk.
Man könne es sich wie ein Regelkreislauf vorstellen: ein beständiger Austausch der Wahrnehmung durch die Sinneszellen in der Peripherie und dem Vergleich im Gehirn. Ein Zusammenspiel von Sensorik und Motorik.

Die Natur sinnlich wahrnehmen

Dabei geht der Sinn deutlich über das Fühlen hinaus: Die Zellen können Druck, Zug oder Vibration wahrnehmen und so eine „Vielfalt von mechanischen Events“ dem Gehirn melden, „das daraus dann ein Bild integriert mit anderen Informationen aus den Augen und dem Gleichgewichtsorgan und dann wieder die motorischen Befehle zu den Muskeln zurücksendet. Das ist ein ständiger Kreislauf aus Vergleich und Befehl. So entsteht dann die Koordination der Bewegung.“
Schon seit Geburt sind wir mit diesem Koordinationssinn ausgestattet, müssen ihn aber durch Erfahrungen schärfen und entwickeln. Dabei helfe es, verschiedenste Oberflächen und Untergründe wahrzunehmen: sandigen Boden, die raue Rinde eines Baumes oder die schwankenden Holzdielen.
So könne man auch im Alter noch die eigene Propriozeption trainieren und dem Schwinden dieses Sinnes entgegenwirken. Denn auch hier gelte „Use it or lose it“, so Heiduk. Er empfiehlt dafür einen Barfußspaziergang durch den Wald oder sich im Rindenmulch wälzen. „Es ist ein tolles Gefühl, den Körper so sinnlich wahrzunehmen. Die Natur bietet uns eine unfassbare Vielfalt und Reichhaltigkeit.“

Wenn Bewegungen leicht aussehen

Heiduk trainiert ein Bobteam, das bei Olympia antritt – allerdings weniger mit Waldspaziergängen, sondern vielmehr mit High-Tech-Anzügen, an die an verschiedensten Stellen kleine, tropfenförmige Gewichte per Klettverschluss befestigt werden. Dadurch, dass die Sportler diese Gewichte beim Sprint bewusst wahrnehmen, könne man die Schnelligkeit noch mal gezielt verbessern. „Weil bestimmte Muskeln, die man ansteuert, noch deutlicher wahrgenommen werden und besser kontrahieren können.“
Wie ausgeprägt die Propriozeption bei Spitzensportlern sei, lasse sich übrigens vor allem an einem erkennen, so Heiduk: Die kompliziertesten Bewegungen sehen leicht und mühelos aus.
(lkn)

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