Protest am Reichstag

Kraftquelle für Nazis

05:20 Minuten
Teilnehmer einer Kundgebung gegen die Corona-Maßnahmen stehen auf den Stufen zum Reichstagsgebäude, zahlreiche Reichsflaggen sind zu sehen.
Dieses Bild beschäftigt momentan das politische Berlin: Demonstranten haben am Samstag die Stufen des Reichstags besetzt. © dpa / NurPhoto / Achille Abboud
Bernd Ulrich und Andreas Kemper im Gespräch mit Vladimir Balzer |
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Demonstranten mit Reichsflaggen auf den Stufen zum Reichstag: Der Journalist Bernd Ulrich sieht nur "toxisch männliche Würstchen" am Werk. Der Soziologe Andreas Kemper warnt hingegen vor der mobilisierenden Wirkung eines solches Bildes.
"Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie. Das werden wir niemals hinnehmen."
Mit diesen Worten verurteilte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Aufmarsch rechter Demonstranten vor dem Reichstagsgebäude. Während der Berliner Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen war es einer Gruppe gelungen, die Absperrgitter am Reichstag zu überwinden und die Treppe des Gebäudes zu stürmen.
Auch Bundesinnenminister Seehofer zeigte sich entsetzt: "Das Reichstagsgebäude ist die Wirkungsstätte unseres Parlaments und damit das symbolische Zentrum unserer freiheitlichen Demokratie. Dass Chaoten und Extremisten es für ihre Zwecke missbrauchen, ist unerträglich."
Es gibt aber auch andere Stimmen, wie beispielsweise die von Bernd Ulrich, dem stellvertretenden Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit". Er twitterte:
Im Gespräch sagt er: "Diese toxisch männlichen Würstchen, die da versucht haben, die Treppe hoch zu sprinten - das kann doch nicht im Ernst als Angriff auf die Demokratie interpretiert werden. Ich finde, man muss die Proportionen wahren. Heute und gestern hatte ich den Eindruck, dass der Staatselefant auf der Flucht ist vor ein paar Nazi-Mäusen."

Ein Fall für den Verfassungsschutz

Natürlich seien die Ereignisse ärgerlich, sagt Ulrich, "aber wir sind eine Demokratie mit einem großen Magen und wir sollten jetzt nicht anfangen, hysterisch zu werden". Indem der Bundespräsident von einem Angriff auf die Demokratie spreche, mobilisiere er Rechtsextreme eher. Damit würden diese in ihrer Allmachtsfantasie bestärkt, überhaupt in der Lage zu sein, den deutschen Staat anzugreifen.
Der Journalist meint zudem, eine politische Trendwende zu erkennen: Die AfD sei momentan schwach und könne auch machtpolitisch nicht mehr den Diskurs so beherrschen wie noch vor ein oder zwei Jahren. Innerhalb der Partei seien die Rechtsextremisten abgespalten. "Und in dieser Abspaltung muss man sie behandeln wie politische Kriminelle. Das ist eine Sache des Verfassungsschutzes und der Polizei." (*)

"Zeigt vermeintliche Schwäche des Staates"

Der Soziologe Andreas Kemper schätzt die Ereignisse hingegen völlig anders ein. Er twitterte:
Für Rechtsextreme, die von Mythen lebten, sei dieses Bild, der Sturm aufs Parlament, perfekt, meint Kemper. Zum einen signalisiere es den Sturm auf Berlin. Zum anderen zeige es "eine vermeintliche Schwäche des Staates". Dieser sei nach Ansicht der Rechten ohnehin dekadent und verweiblicht, sagt Kemper.
"Und wenn die es dann sogar schaffen, mit ein paar Leuten die Treppen hochzurennen und dann nur noch drei Polizisten vor sich zu haben, dann denken die sich: 'Na, wenn wir uns noch ein bisschen mehr anstrengen, dann kommen wir auch ins Parlament rein.' Wo sie dann mit den Volksvertretern abrechnen könnten."

Zunahme von Rechtsterror befürchtet

Zudem warnt der Soziologe davor, dass das Bild vom Sturm auf den Reichstag Rechtsterroristen anstacheln und zu weiteren Anschlägen ermuntern könnte:
"Die Idee, Walter Lübcke zu erschießen, ist entstanden während der Chemnitz-Demo. Das heißt, es gibt solche Ereignisse, die den Faschisten quasi Hoffnung geben: Wenn wir jetzt was machen, dann geht es nach vorne. Das ist Fanatismus und der braucht diese Bilder, der braucht diese Ereignisse und hangelt sich dann von Ereignis zu Ereignis und wird dadurch stärker."
Letztlich, meint Kemper, schenkten solche Bilder den Rechten mehr Kraft als 30 Prozent Stimmenanteil bei einer Wahl - da die Demokratie sie ohnehin nicht interessiere.

Das ganze Gespräch mit Andreas Kemper:

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(ckr)
(*) Redaktioneller Hinweis: Die Aussage von Bernd Ulrich war in der ersten Textversion missverständlich zusammengefasst worden. Das haben wir korrigiert.
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