Atommüll, nein Danke!
26:39 Minuten
Seit über 50 Jahren nutzt Frankreich Strom aus Kernkraftwerken. Doch bis heute gibt es kein Atommüllendlager. 2035 soll nun ein unterirdisches Lager in Lothringen in Betrieb gehen. Doch es gibt Sicherheitsbedenken und die Bevölkerung wehrt sich.
"Wir fahren jetzt mit dem Fahrstuhl in 490 Meter Tiefe. Dort erreichen wir eine Tonschicht, die hier 130 Meter dick ist. Die Gänge und Tunnel für die Lagerung befinden sich genau im Zentrum dieser Schicht. Das ist der Grundgedanke der unterirdischen Lagerstätte."
Beim Betreten des Betriebsgeländes nahe dem 80-Seelen-Dorf Bure in Lothringen im Nordosten Frankreichs ahnt man kaum, was hier im Untergrund passiert. Umgeben von Getreidefeldern ragt nur ein Förderturm mit der Aufschrift "ANDRA" aus der leicht hügeligen Landschaft. ANDRA, das ist Frankreichs nationale Entsorgungsbehörde für radioaktiven Müll. Sie hat vor fast 20 Jahren damit begonnen hier ein unterirdisches Labor zur Erprobung eines Atommüll-Endlagers zu errichten.
"Die Abfälle werden ihre Radioaktivität verlieren"
Nach einer Sicherheitseinweisung und ausgestattet mit Helm und Atemgerät für den Notfall geht es nun in Begleitung von Pressesprecher Mathieu Saint-Louis in die Tiefe.
"Die Tonschicht hier hat mehrere Vorteile. Sie ist weitgehend undurchlässig und sehr kompakt. Das kaum vorhandene Wasser zirkuliert sehr langsam. Es legt in einer Million Jahren nur etwa zehn Meter zurück. Daher werden auch radioaktive Elemente sich nur extrem langsam im Gestein ausbreiten. In dieser Zeit werden die Abfälle ihre Radioaktivität verlieren. Auch nach mehreren Hunderttausend Jahren werden die Auswirkungen an der Erdoberfläche dadurch vernachlässigbar sein."
Unten angekommen führt der junge Mitarbeiter in leuchtend orangener Arbeitskleidung durch Gänge und Tunnel, die mit hellem Beton verkleidet sind. Große Ventilatoren sorgen für Belüftung. Neonröhren erleuchten die Arbeitsstätte der Forscher. An vielen Stellen ragen Kabel aus den Wänden. Sie führen zu Sonden im Gestein und sollen messen, wie schnell radioaktive Stoffe durch den Fels wandern oder wie das Gestein die Abwärme von radioaktivem Müll ableiten würde. Nur an wenigen Stellen kann man das graue Tongestein sehen, das so positive Eigenschaften haben soll.
Ideales Endlager für hochradioaktive Abfälle?
Schon vor Hunderten Millionen Jahren als Sediment eines urzeitlichen Meeres entstanden, eignet sich die Gesteinsschicht nach Einschätzung der hiesigen Forscher ideal für ein geologisches Endlager von hochradioaktiven Abfällen wie Brennstäben aus Kernkraftwerken.
In einer Werkshalle auf dem Gelände von ANDRA kann man sich anschauen, wie diese besonders gefährlichen Stoffe ab 2035 hier eingelagert werden sollen. Durch dicke Glas- und Stahlbehälter geschützt, werden automatisierte Kräne und Fahrzeuge die tonnenschweren Fässer und Betonblöcke in die unterirdischen Stollen manövrieren. Mathieu Saint-Louis vergleicht es mit einem Tetris-Spiel.
Bure hat alle Tests bestanden
Alle Tests in Bure haben die Wahl des Standorts bestätigt, erklärt der Pressesprecher. Im kommenden Jahr soll der Antrag auf Baugenehmigung für das eigentliche Endlager gestellt werden, das nur wenige hundert Meter vom Labor entfernt entstehen soll.
"Durch die Wahl eines unterirdischen Endlagers soll ein Problem gelöst werden, das wir geschaffen haben. Wir tragen die Verantwortung für die radioaktiven Abfälle, die wir produziert haben. Natürlich hat so ein Endlager auch Auswirkungen auf die Zukunft. Denn diese Anlage ist auf sehr lange Zeit ausgelegt. Aber dadurch überlassen wir den Umgang mit diesen Altlasten nicht den zukünftigen Generationen. Wir könnten auch entscheiden, nichts zu unternehmen und die Abfälle in den Zwischenlagern zu belassen. Niemand würde sich beschweren. Doch so würden wir das Problem nur auf unsere Nachfahren abwälzen."
Der gesetzliche Rahmen für das Atommüllendlager wurde schon vor fast 30 Jahren geschaffen. In den Neunziger Jahren wurden zunächst mehrere potentielle Standorte untersucht. Bis auf Bure wurden jedoch alle mangels Eignung oder wegen zu großer Proteste seitens der Bevölkerung aufgegeben. Ein Gesetz von 2006 bekräftigte die Methode der unterirdischen Endlagerung – unter der Bedingung, dass eine Lagerstätte nur dort entstehen darf, wo zuvor auch ein Labor eingerichtet wurde. Das ist nur in Bure der Fall.
"Zweifel sind durchaus legitim"
Dass es dennoch Proteste gab und gibt, führt der Mitarbeiter von ANDRA auf fehlende Erfahrungen mit dem Thema Kernkraft zurück.
"Zweifel sind durchaus legitim. Vor allem hier, wo die Bevölkerung bisher keine Erfahrung mit Kernkraftwerken hat. Natürlich gibt es Ängste, wenn hochgefährliche Abfälle in die Region gebracht werden sollen. Doch genau deshalb bieten wir hier jedem die Möglichkeit, die Versuchsanstalt anzuschauen und sich zu informieren.
Gerade um die Umwelt an der Erdoberfläche zu schützen, arbeiten wir an einem Endlager in der Tiefe. Wenn wir begründete Zweifel hätten, würden wir das Projekt hier nicht weiter verfolgen. Man darf sich das nicht vorstellen, als würde hier in Zukunft eine radioaktive Flüssigkeit durch die Stollen wabern. Hier werden nur feste Stoffe in Fässern lagern und die wiederum in Betonblöcken. Alles, was wir tun, ist diese Blöcke zu stapeln. Die radioaktive Strahlung auf die Umgebung wird nicht sehr hoch sein."
Gerade bei der Bewertung der Risiken und Umwelteinflüsse eines solchen Atommüllendlagers gehen die Meinungen von Befürwortern wie der staatlichen Behörde ANDRA und von Gegnern weit auseinander. Proteste gibt es in Bure schon seit Beginn der Standort-Erkundungen in den Neunziger Jahren.
"In Frankreich ist die Atom-Lobby sehr mächtig"
Bertrand Thuillier ist Professor und forscht im Bereich der Neuropsychologie an der Universität in Lille. Da er hier in der Umgebung wohnt, beschäftigt er sich schon seit 2011 eingehend mit dem Thema. Er ist einer von wenigen Experten, die den Gegnern des Projekts beratend zur Seite stehen. Bei Demonstrationen oder Protestaktionen will er jedoch nicht auftreten. Als Treffpunkt schlägt er ein Café in einer nahegelegenen Kleinstadt vor. Seine Beschäftigung mit den Studien zu Bure und zum Thema Atommüll lassen den französischen Wissenschaftler ein pessimistisches Fazit ziehen.
"In Frankreich ist die Atom-Lobby sehr mächtig. Dieser Industriezweig hat sehr viel Einfluss auf strategische Entscheidungen, auf die Verwaltung und die Finanzen. Es ist eher die Atomindustrie, die der Regierung Anweisungen gibt, als andersherum. Darin liegt das Problem. Dennoch gibt es Schwierigkeiten, die dazu führen, dass der Baubeginn des Endlagers immer weiter verschoben wird."
Tonschicht nicht standfest, erhöhte Brandgefahr
Große Bedenken hat der Mann mit dem graumeliertem Haar vor allem bei den strukturellen Gegebenheiten, die solch ein unterirdisches Lager mit sich bringt. Zum Einen sei die Tonschicht von Natur aus nicht standfest genug. Zum Anderen würden die eingelagerten Stoffe die Brandgefahr erhöhen.
"Stellen wir uns vor, dass in Bure radioaktive Abfälle eingelagert werden. Das Tongestein dort ist sehr brüchig und beweglich. Es kann sich also deformieren. Außerdem besteht eine sehr hohe Brandgefahr. Denn ein Teil der Abfälle enthalten Asphalt. Und bei dessen Lagerung entsteht Wasserstoff. Beides ist brennbar und entflammbar. Deshalb muss das Endlager ständig belüftet werden – zwei Millionen Kubikmeter pro Stunde – damit sich der Wasserstoff nicht in den Stollen konzentriert. Wenn doch, könnte jeder Funke, ja sogar elektrostatische Aufladung, zu einem Brand führen."
Radioaktiver Qualm könnte entweichen
Ein Brand oder gar eine Explosion sei in den 260 Kilometer langen Stollen unter Tage jedoch kaum kontrollierbar. Im Vergleich dazu seien die Möglichkeiten und Sicherheitsvorkehrungen in einem Kernkraftwerk oder Zwischenlager weitaus besser. Die vom Gesetz für das Endlager geforderte Reversibilität – also die Möglichkeit der Rückholung des Atommülls – sei hiermit nicht gegeben. Stattdessen könnte es dazu kommen, dass ein Brand im Untergrund nicht mehr gestoppt werden könnte.
In der Folge würde radioaktiver Qualm entweichen und Böden und Gewässer verseuchen. Bertrand Thuillier hat seine Bedenken in wissenschaftlicher Form dargelegt und den Gegnern des Projekts zur Verfügung gestellt. Stolz berichtet er, dass einige seiner Fragen bereits durch neue Messungen seitens ANDRA untersucht wurden. Die Risiken bleiben für ihn jedoch zu hoch. Er ist der Meinung, dass das Atommüllendlager nicht verwirklicht werden wird. Eine Hoffnung, die viele Anwohner und Gegner bereits aufgegeben haben.
Jean-Pierre Simon lebt seit seiner Geburt in Cirfontaines, nur wenige Kilometer von Bure entfernt. Er ist Landwirt und hat den Hof seiner Eltern übernommen. Zur Zeit ist der drahtige Mann in kurzer Arbeitskleidung Tag und Nacht mit der Heuernte für seine Kühe beschäftigt. Deshalb hat er nur kurz beim Umsatteln auf einen anderen Traktor Zeit für ein Interview.
Bereits Ende der Achtziger Jahre erfuhr er von den Plänen des Staates, ein unterirdisches Labor für ein Atommüllendlager in der Nähe zu errichten. Und schon damals wehrte er sich dagegen, indem er bei Protestaktionen mitmachte. Doch das Labor wurde Realität. Im Alltag merkte der Landwirt davon zunächst wenig. Erst als 2016 ein nahegelegenes Waldstück von Gegnern besetzt wurde, kippte die Stimmung. Dort im sogenannten "Bois Lejuc" hatte ANDRA mit vorbereitenden Bauarbeiten für das Endlager begonnen. Der Wald wurde teilweise gerodet und eine Betonmauer errichtet.
"Das war wie Krieg"
Die Gegner bewerteten das als Schaffung von Fakten, obwohl noch lange keine Baugenehmigung vorlag. Weil sie allein den Ankauf der Waldflächen als illegal ansahen, organisierten sie im Sommer 2016 ein großes Protest-Picknick im Wald. Landwirt Jean-Pierre Simon stellte seinen Traktor samt Anhänger dafür zur Verfügung.
"Angesichts der Bauarbeiten, die schon im Wald vor sich gingen, wurde aus dem Picknick spontan eine Besetzung des Waldstücks. Ich habe meinen Traktor und einen Anhänger dort gelassen, um die jungen Leute ein wenig zu unterstützen. Doch bei der Räumung durch die Polizei wurde der Traktor beschlagnahmt. Das Ganze lief übermäßig militarisiert ab. Das war wie Krieg. Da kreisten zwei Helikopter und mehrere Drohnen. Dazu eine riesige Zahl von Einsatzkräften.
Hinterher habe ich sie aufgefordert meinen Traktor herauszugeben. Es gab mehrere Anhörungen. Im September 2018 wurde ich dann zu zwei Monaten auf Bewährung verurteilt, weil ich Hilfsmittel für die Besetzung des Waldes zur Verfügung gestellt hätte. Den Traktor bekam ich dann im November. Insgesamt war er 16 Monate lang beschlagnahmt."
60 junge Leute wurden schon verurteilt
Jean-Pierre Simon ist auch heute noch aufgebracht und wird emotional, wenn er über die Reaktion der Polizei und die Entscheidungen der Justiz spricht. Viele weitere Teilnehmer der friedlichen Protestaktion im Wald wurden in der Folge verhört und angeklagt. Es sind hauptsächlich junge Leute, die sich in den letzten Jahren hier in der Umgebung niedergelassen haben, um gegen das Großprojekt zu protestieren. 60 von ihnen wurden wegen der Beteiligung an der Besetzung oder an anderen Aktionen schon verurteilt. Seither werden Jean-Pierre Simon und den anderen Gegnern auch im Alltag viele Hürden in den Weg gestellt.
"Seit der erneuten Räumung des Waldes im Februar 2018 steht die Gegend komplett unter Überwachung. Hier fährt um diese Zeit immer ein Wagen der Gendarmerie vorbei – manchmal auch zwei. Und das geht so rund um die Uhr. Im Umkreis von fünf bis zehn Kilometern um Bure wird ständig Streife gefahren. Sie kontrollieren Straßen, Wege, Wälder... einfach alles. Sie machen das, um die Leute für irgendetwas dranzukriegen. Um sie dann in Untersuchungshaft zu stecken, zu verurteilen und Aufenthaltsverbote zu verhängen. So ist es schon vielen Gegnern ergangen."
Gemeinsam mit Natur- und Verbraucherschutzvereinen hatten die Atomkraftgegner sogar ein altes Bauernhaus in Bure erworben. Die "Maison de la Résistance" diente als Ort für Treffen und Vorbereitungen. Doch seitdem hier die Polizei jeden Schritt der Bewohner verfolgt und dokumentiert, sind die meisten wieder weggezogen. Protestaktionen finden zwar noch statt, jedoch vor allem in den nahegelegenen Städten. Jean-Pierre Simon kann nicht einfach seinen Hof und damit seine Existenzgrundlage aufgeben.
Flächenankauf und Ausgleichszahlungen an Gemeinden
Doch auch nach unzähligen Bürgerversammlungen und Infoveranstaltungen gibt es für ihn einfach zu viele Ungereimtheiten, um stumm zuzuschauen, wie sich das Bauvorhaben entwickelt. Mit Bedauern verfolgt er einen allmählichen Sinneswandel in der Nachbarschaft. Vor allem den massenhaften Ankauf von Flächen und die Ausgleichszahlungen an Gemeinden sieht er kritisch.
"Viele Bürgermeister im betroffenen Gebiet sind dafür, weil sie auf mehr Einnahmen hoffen. Es ist das einzige Großprojekt, wo schon vor Baubeginn Geldgeschenke nach dem Gießkannen-Prinzip verteilt wurden. Die ganze Gegend hat sich dadurch verändert. Nicht nur äußerlich, sondern vor allem was die Einstellung und das Verhalten der Bevölkerung angeht. Obwohl die Bauarbeiten für das Endlager noch nicht einmal angelaufen sind, hat sich das Leben rund um Bure unwiederbringlich verändert."
Bürgermeister kämpft gegen Endlager
Die Ausgleichszahlungen kommen aus einem Topf zur Ankurbelung der lokalen Wirtschaft rund um Bure. Gespeist wird er teils vom Staat, teils von den Betreibern der Kernkraftwerke – also von den Verursachern des atomaren Mülls. Seit 1991 wird Geld in den Standort Bure und seine Umgebung gepumpt. Anfangs waren es noch fünf Millionen Francs jährlich, also etwa 760.000 Euro. Seit 2009 sind es 30 Millionen Euro pro Jahr für jedes der beiden betroffenen Departments. Dominique Laurent ist einer der Bürgermeister, die mit diesen Geldgeschenken konfrontiert werden. In seiner Gemeinde Bettancourt-la-Férée akzeptiert er einen solchen Stimmenkauf nicht.
"Hier in der Gegend bietet man uns Zuschüsse zur Renovierung jedes noch so kleinen Gemeindesaals und für jegliche öffentliche Bauarbeiten. Das Geld kommt aus einem Fonds der begleitenden Wirtschaftsförderung zum Endlager. Ich als Bürgermeister meiner Gemeinde weigere mich dieses Geld anzunehmen. Ich versuche das meinen Bürgern zu erklären. Denn sonst könnte die Regierung denken, dass wir für das Endlager sind. Aber genau das Gegenteil ist der Fall."
Dominique Laurent wehrt sich nicht nur gegen die Politik, die zur Durchsetzung des Endlagers betrieben wird. Er fürchtet viel mehr, dass in der Umgebung von Bure weitere Anlagen und Unternehmen der Atomindustrie angesiedelt werden. Eines dieser Projekte ist eine Großwäscherei für radioaktiv verseuchte Kleidung aus den französischen Kernkraftwerken. Sie soll im Dorf Suzannecourt, nur 20 Kilometer von Bure entfernt, entstehen. Das Grundstück ist bereits vorbereitet, die Baugenehmigung erteilt. Allerdings fehlt noch die Betriebserlaubnis. Dazu hatte die Gesundheitsbehörde in einer Stellungnahme Bedenken geäußert und weitere Studien gefordert.
Eine Region als Mülleimer für Atommüll?
Die Anwohner und Gemeinden der Umgebung erfuhren erst sehr spät von dem Vorhaben. Sie wie auch Dominique Laurent fürchten nun, dass das Abwasser der Wäscherei die Gewässer verseuchen könnten. Betroffen wären davon nicht nur kleine Orte in den Ardennen, sondern auch der Fluss Marne, der in die Seine mündet, sowie ein großes Naherholungsgebiet rund um den See Lac du Der.
"Um den Bau des Endlagers zu begünstigen, versucht man ringsherum kleinere Projekte derselben Branche anzusiedeln. Wir nennen es die Metastasen der Atomindustrie. Mittlerweile gibt es in der Umgebung viele Zulieferer oder Dienstleister, die in diesem Industriezweig arbeiten. Dadurch sollen die Leute an das Thema gewöhnt werden. Und zudem macht man sie glauben, dass dadurch Arbeitsplätze geschaffen werden und die Wirtschaft hier belebt wird. Aber das stimmt nicht. Man will, im Gegenteil, dass diese Gegend hier noch weiter ausstirbt. Je weniger Bewohner, desto weniger Gegner. Unsere Region soll zu einem Mülleimer für Atommüll werden."
Kommission für Bürgerbedenken ohne Stimmrecht
Um solchen Bedenken und den Interessen der Bevölkerung einen Raum zu geben, hat der französische Staat eine Kommission für das Atommüllendlager eingesetzt: das "Comité Locale d’information et de suivi", kurz CLIS. Es hat die Aufgabe, die Anwohner über den Stand der Forschungen im Labor zu informieren, die Materie zu erläutern und den Dialog zwischen Betroffenen auf der einen Seite und Staat und Betreiber auf der anderen Seite zu fördern. Das Comité besteht aus 90 Personen, die aus Lokalpolitik, Wirtschaft und Verwaltung entsandt wurden. Aber auch Gegner wie Naturschutzvereine, Bauernverbände und Experten aus Industrie und Gesundheit sind vertreten. Benoit Jaquet ist hauptamtlicher Geschäftsführer des Comités.
"Das Comité hat kein Stimmrecht. Es wird von der Regierung eher als beratendes Gremium konsultiert. Und das Comité kann Fragen aufs Tablett bringen, die vorher noch nicht bedacht oder beantwortet wurden. Wir können also Einfluss auf den Entwicklungsprozess des Endlagers nehmen, aber nicht mitentscheiden, ob es hier dazu kommt oder nicht. Das können nur das Parlament und die Regierung. Die Entscheidung wird zentral vom Staat getroffen. Im Lokalen gibt es kein Vetorecht. Wir sagen es oft: Wir haben hier ein nationales Problem, doch die anvisierte Lösung geschieht im Lokalen."
Gesundheitszustand der Bevölkerung in Bure wird gemessen
Zwar darf das Gremium keine Meinung für oder gegen das Großprojekt äußern. Doch durch die intensive Beschäftigung mit der komplexen Materie ist eine Expertise entstanden, die nun auch begründete Zweifel aufwerfen kann. So geschah es erst kürzlich, dass der gesetzliche Rahmen für das Projekt in Bezug auf Gesundheitsfragen geändert wurde.
"Das Projekt der geologischen Lagerung kann – man weiß es nicht – Auswirkungen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit haben. In der aktuellen Gesetzgebung wird sehr streng auf die Einhaltung der Grenzwerte für Umwelteinflüsse geachtet. Bei der Gesundheit der betroffenen Bevölkerung gibt es quasi keine Vorgaben. Wir haben das angepackt. Ab dem kommenden Jahr soll der aktuelle Gesundheitszustand der Bevölkerung rund um Bure gemessen werden. Diese Ausgangssituation wird dann alle vier bis fünf Jahre mit neuen Messwerten verglichen werden."
In dieser Gemengelage findet seit dem Frühjahr in ganz Frankreich eine nationale Debatte über den Umgang mit radioaktiven Stoffen und Abfällen statt. Grund ist die Neuauflage der Richtlinien. Auch in Bar-le-Duc, der zuständigen Verwaltungshauptstadt für das geplante Atommüllendlager in Bure, fand Ende Juni eine Bürgerversammlung statt. Vielen Gegnern des Projekts erschien das Thema des Abends wie eine Farce. Denn hier soll über Alternativen zur unterirdischen Endlagerung diskutiert werden. Das und ihr Gefühl noch immer nicht erhört zu werden, nahmen die Gegner zum Anlass, die Bürgerversammlung zu boykottieren. Schon vor dem Eingang der Turnhalle machten sie klar, wo sie die Abfälle lagern würden.
"Les déchets à l’Elysée" - "Bringt die Abfälle in den Palast des Präsidenten". Drinnen beginnt die Veranstaltung unter ständigen Unterbrechungen, weil einzelne Zuschauer immer wieder dazwischenrufen.
Dann geht es zwar um Alternativen wie die Verklappung des Atommülls im Meer, wie sie noch in den Sechziger Jahren von Frankreich praktiziert wurde. Oder sogar der Abtransport ins All. Doch schnell wird klar, dass es nach jetzigem Stand der Forschung keine Alternative zu Zwischen- oder Endlagern gibt. Als die Vorträge vorbei sind, kommen viele Fragen und Anmerkungen aus dem Publikum. Alle kreisen um das Endlager in Bure. Niemand von ihnen befürwortet das Vorhaben. Über allem schwebt auch noch eine andere Frage, die ein Vertreter des Bauernverbands auf den Punkt bringt.
"Wir haben mit der Nutzung der Kernkraft etwas geschaffen, wofür wir immer noch keine Lösung haben. Diejenigen, die es damals entschieden haben, sind heute fast alle tot. Nun müssen wir uns mit dem Problem herumschlagen. Jetzt sind die Abfälle nun mal da, sie warten in Zwischenlagern. Wie einige Wissenschaftler vorgeschlagen, sollten wir die Zwischenlager so lange wie möglich aufrecht erhalten. Und auf Fortschritte in der Forschung hoffen. Aber um Himmels Willen hört auf, immer mehr von diesen radioaktiven Abfällen zu produzieren."
"Wie soll ich noch Vertrauen in die Demokratie haben?"
Nach fast zwei Stunden ununterbrochener Zwischenrufe ist der Saal immer noch voll. Mehrere Kamerateams verfolgen die Debatte. Als die Verantwortliche der Kommission kurz davor ist, die Veranstaltung abzubrechen, meldet sich eine junge Frau aus dem Publikum, die bis dahin still neben den Aktivisten saß.
"Es ist für uns die einzige Möglichkeit uns zu äußern. Denn wie Sie vielleicht in der Zeitung 'Libération' gelesen haben, wird hier in der Gegend mit Anti-Terror-Methoden gearbeitet, ja, Anti-Terror-Methoden. Und sie wollen mir erzählen, dass hier über Alternativen nachgedacht wird? Dabei haben die Bauarbeiten für das Endlager doch bereits vor drei Jahren begonnen – und das ohne Baugenehmigung. Die Personen, die dagegen protestiert haben, stehen heute vor Gericht oder haben Bewährungsstrafen erhalten. Sie werden ständig kontrolliert, dürfen das Land nicht verlassen und dürfen keinen Fuß mehr in das Department hier setzen. Können Sie mir also sagen, was diese Debatte hier noch soll und wie ich noch Vertrauen in die Demokratie haben soll?"