Protestantismus und RAF
Ein Aspekt taucht bei der Rückschau auf den sogenannten Deutsche Herbst 1977 selten auf: dass es offenbar einen Zusammenhang gibt zwischen protestantischer Sozialisation und der späteren Mitgliedschaft in der RAF. Viele RAF-Terroristen stammten aus protestantischen Familien oder Pfarrhäusern.
Deutschland im September 1977. Bundeskanzler Helmut Schmidt gibt eine Erklärung ab zur Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Der Beginn des sogenannten Deutschen Herbstes, der mit dem Selbstmord von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe endet.
Der anglikanische Pfarrer Paul Oestreicher hatte die RAF-Gefangenen wenige Monate vor ihrem Tod im Gefängnis besucht. Die ideologische Verbohrtheit der Gruppe erinnert ihn fast an einen religiösen Wahn:
"Die Ideologie des Blutes, möchte ich fast sagen: also des heiligen Blutes: 'Wir müssen andere umbringen und notfalls auch uns selbst umbringen, um der guten Sache Willen' - und das findet sein Äquivalent im fundamentalistischen Islam heute, in der Selbstmordideologie vieler Menschen, (...) also eine entartete Religion."
Paul Oestreicher besuchte damals in Stammheim auch Gudrun Ensslin, den intellektuellen Kopf der ersten RAF-Generation. Sie stammte aus einem Pfarrhaus.
"Ich habe nach ihrem Tod ihre Eltern besucht, da sagte ihre Mutter plötzlich: Ach, wenn wir sie doch nicht so fromm erzogen hätten. Und das war ein Stück Erkenntnis, denn diese evangelikale Frömmigkeit der Eltern (...) hat sie abgelehnt und dann doch umgeleitet auf eine andere Form des Fundamentalismus und die Mutter hat das irgendwie instinktiv erkannt, dass die Wurzeln in der Erziehung lagen."
Die Mutter, Ilse Ensslin: "Sie war dasjenige meiner Kinder, die das, was sie getan hat, ganz getan hat und ein totalitärer Charakter gegenüber den anderen war, das wusste ich schon früh."
"Es gibt natürlich keinen Determinismus in dieser Hinsicht."
Betont der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, der sich intensiv mit den Protestbewegungen der 60er und 70er Jahre auseinandergesetzt hat:
"Das sind erwachsene Menschen gewesen, die schon einen erheblichen Teil ihres Lebens hinter sich gebracht hatten mit Krisenerfahrungen und allen Möglichem. (...) ich würde mich dagegen wehren, eine Kausallogik auftun zu wollen zwischen Protestantismus beziehungsweise Pietismus auf der einen Seite und einem radikalen politischen Ansatz. So einfach ist das natürlich nicht."
Kraushaar warnt vor monokausalen Erklärungen, doch auch er sieht ein enges Beziehungsgeflecht zwischen dem Protestantismus und der RAF. Denn unbestritten ist:
Mehr als zwei Drittel der RAF-Terroristen der ersten Generation stammen aus dem protestantischen Milieu, dagegen weniger als ein Viertel aus katholischen Verhältnissen. Ein signifikanter Unterschied zum Durchschnitt der Bevölkerung.
Gudrun Ensslin war Pastorentochter, Ulrike Meinhof ist sehr protestantisch erzogen worden, hat noch als Marburger Psychologiestudentin das Tischgebet praktiziert. Der Hamburger Theologe und Historiker Jörg Herrmann nennt als Grund, warum die Mehrzahl der Terroristen evangelische Wurzeln hat, die Bedeutung der individuellen Überzeugung im Protestantismus.
"Man ist nur seinem Gewissen und seinem Gott verantwortlich und die individuelle Überzeugung, und das ist der moralische Anspruch, die muss auch gelebt werden. Es ist ganz wichtig, dass das, was einen unmittelbar angeht, wie das Paul Tillich das mal formuliert hat, und damit den evangelischen Glauben auch versucht hat zu beschreiben, das, was einen unmittelbar angeht, auch in Praxis umzusetzen."
Der Hamburger Probst Johann Hinrich Claussen sieht durchaus Parallelen zu der Haltung Martin Luthers und seines kolportierten Spruchs: "Hier stehe ich und kann nicht anders" - auch wenn es Luther natürlich nicht um die Revolution der Gesellschaft, sondern die Reformation der Kirche ging:
""Das beginnt mit diesem Drang, sich entscheiden zu müssen, diesem Dezisionismus, dem unglaublichen Gewissensradikalismus: Ich allein gegen alle Institutionen, ich kämpfe für das Gute, gegen das Böse, und in diesem rücksichtslosen Gewissensradikalismus lässt man alle bürgerlichen Hinsichten fallen und gibt sich ganz in diese Entscheidung für das eine. Das ist ein Moment, das es öfter im Protestantismus gegeben hat, dieses Rebellentum."
Der Individualismus verbindet sich oft mit einem hohen moralischen Anspruch, die Welt verändern zu müssen. Dass sich dieser moralische Anspruch in radikale und später terroristische Aktionen umsetzen konnte, hängt auch mit der besonderen Situation Ende der 60er Jahre zusammen, sagt der Protestforscher Wolfgang Kraushaar:
"Die hängen zusammen mit Glaubwürdigkeitsdefiziten, die in den 60er Jahren sehr ausgebildet gewesen sind: und es ist damals vor allem die Kombination von zwei Dingen gewesen: Es ist zum einen die nur sehr eingeschränkte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die damalige Aktualität des Vietnam-Kriegs (...), und dieses Gemisch hat zu einer Art von Glaubwürdigkeitskrise geführt, aus der die falschen Konsequenzen gezogen worden sind und eines der Produkte ist die RAF gewesen."
Gerade bei Gudrun Ensslin sei dies offensichtlich, meint Jörg Herrmann:
"Der Vater Helmut Ensslin war in der Bekennenden Kirche engagiert, auch inhaftiert (...) aber das war ein Hintergrund, da kann man auch eine Kontinuität sehen in so einer antifaschistischen Haltung, die weitergegeben worden ist an die Kinder und die Kinder (...) auch einen angefangenen, aber bei den Eltern als unzureichend wahrgenommenen Widerstand fortsetzen wollten."
Gottfried Ensslin sieht ebenfalls eine der Wurzeln für die späteren radikalen Aktionen seiner Schwester in der Erziehung begründet:
"Das war ein starkes Erbe in unserer Familie, dass man nicht nur redet, sondern dass das Tun mit dem Reden übereinstimmt. Das war eine ganz wichtige Sache. Wir waren ein sehr diskussionsfreudiges Elternhaus, wo ermuntert wurde über alles zu reden (...) das war sehr angesagt bei uns."
Anfangs fanden die radikalen Aktionen sogar mit dem Segen des Vaters Helmut Ensslin. Der Pfarrer erklärte im April 1968 nach der Kaufhausbrandstiftung seiner Tochter:
"Für mich ist erstaunlich gewesen, dass Gudrun, die immer sehr rational und klug überlegt hat, fast den Zustand einer euphorischen Selbstverwirklichung erlebte, einer ganz heiligen Selbstverwirklichung, so wie geredet wird vom heiligen Menschentum.
Das ist für mich das größere Fanal als die Brandstiftung selbst, dass ein Menschenkind, um zu einer Selbstverwirklichung zu kommen, über solche Taten hinweggeht."
Dass aus der sogenannten heiligen Selbstverwirklichung schon bald Terror und Mord wurde, ahnte Helmut Ensslin damals wohl nicht. Als die RAF-Mitglieder zur Waffe griffen, hatten sie ihren protestantischen Glauben längst hinter sich gelassen, betont Jörg Herrmann. Stattdessen habe sich bei einigen von ihnen ein Transformationsprozess vollzogen. Von der christlichen zu einer Art "bad religion":
"Vor dem Hintergrund eines funktionalen Religionsverständnisses (...) würde ich auch das Phänomen RAF als eine Form von Religiosität interpretieren. Man kann auch mit Luther sagen: Dein Gott ist, woran dein Herz hängt, (....) was deine höchsten Werte sind, dein Sinnentwurf, das ist auch deine Religion.
Wenn man das so weit versteht - Religion (...) dann kann man sagen: für die RAF-Terroristen war das ihre Religion. Man kann dann auch sagen, dass sich gewandelt zu einer Märtyrerreligion, sie waren ja bereit, für diese Überzeugung zu sterben."
Der heutige "Spiegel"-Chefredakteur Stefan Aust beschreibt in seinem Buch "Der Baader-Meinhof-Komplex" eine Drogennacht von Baader, Meinhof und Ensslin 1970: ein Beispiel für jene Transformation zu einer bad religion.
"Gudrun Ensslin vertrat missionarisch eine neue Moral, die Moral der Revolutionäre, die einen Strich durch die eigene Herkunft machen und hinter sich alle Brücken verbrennen müsste.
Im Verlauf der nächtlichen Euphorie entwickelte Ensslin ein neues Glaubensbekenntnis, ein Gegenbekenntnis zu ihrer eigenen Herkunft. Alle zehn Gebote müssten gebrochen werden. Aus dem biblischen Gebot 'Du sollst nicht töten' müsse in dieser Welt der Gewalt werden: 'Du musst töten'."
Durchaus vergleichbar mit religiösen Fundamentalisten seien auch die RAF-Leute geprägt gewesen von einer Aura, die Menschheit vom Bösen erlösen zu wollen:
"Man hatte ja die Vorstellung, dass man der Zündfunke an der Revolutionslunte sei, (....) so ein messianisches Bewusstsein; also wir sind die Auserwählten, das haben sie nicht so gesagt, aber sie haben sich so benommen, wir müssen das Heft des Handelns in die Hand nehmen."
Dies trifft wiederum besonders für Gudrun Ensslin zu, sagt Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Im Gegensatz zu Baader und Meinhof sei Ensslin bei dem Stammheim-Prozess sehr selbstsicher und in sich ruhend aufgetreten: für Kraushaar ein Resultat ihrer protestantischen Sozialisation:
"Ich glaube, dass diese Art von Selbstgewissheit eine gewesen ist, die nicht selbstverständlich war (...) ich glaube, dass diese Art von Autorisierung etwas hat, was eine Art von religiöser Autorität übersetzt hat ins Politische, und das ist ein Schritt der Selbstermächtigung, denn letztendlich ist ja Terrorismus eine Selbstermächtigung über Leben und Tod zu entscheiden (....)
das ist eher möglich gewesen aufgrund einer religiösen Sozialisation, weil es kombiniert war mit einer Selbstautorisierung und der offensichtlichen Überzeugung, das Rechte zu tun damit. (...) ein Verbrechen zu begehen und en Glauben damit zu verknüpfen, dass man das Richtige tun würde, und das macht es im Kern auch so gefährlich."
Auffallend ist, dass im Gegensatz zum Protestantismus weniger als ein Viertel der Linksterroristen katholische Wurzeln hatte. Der evangelische Probst Johann Hinrich Claussen mit einem selbstkritischen Erklärungsversuch:
"Vielleicht ist überhaupt der Protestantismus ideologieanfälliger als der Katholizismus. Der Katholizismus ist durch eine starke Institution, die ja ganz klare Regeln hat (...) auch davor gefeit, allzu schnell irgendwelchen Zeitgeistern aufzusitzen. Das macht ihn manchmal ein bisschen altertümlich, aber schützt ihn auch.
Diese starke Institution haben wir nicht als Protestanten, insofern sind wir stärker versucht, uns auf irgendwelche Ideologie draufzusetzen, und die Hoffnung damit zu verbinden, die Menschen für uns zu gewinnen."
Der anglikanische Pfarrer Paul Oestreicher hatte die RAF-Gefangenen wenige Monate vor ihrem Tod im Gefängnis besucht. Die ideologische Verbohrtheit der Gruppe erinnert ihn fast an einen religiösen Wahn:
"Die Ideologie des Blutes, möchte ich fast sagen: also des heiligen Blutes: 'Wir müssen andere umbringen und notfalls auch uns selbst umbringen, um der guten Sache Willen' - und das findet sein Äquivalent im fundamentalistischen Islam heute, in der Selbstmordideologie vieler Menschen, (...) also eine entartete Religion."
Paul Oestreicher besuchte damals in Stammheim auch Gudrun Ensslin, den intellektuellen Kopf der ersten RAF-Generation. Sie stammte aus einem Pfarrhaus.
"Ich habe nach ihrem Tod ihre Eltern besucht, da sagte ihre Mutter plötzlich: Ach, wenn wir sie doch nicht so fromm erzogen hätten. Und das war ein Stück Erkenntnis, denn diese evangelikale Frömmigkeit der Eltern (...) hat sie abgelehnt und dann doch umgeleitet auf eine andere Form des Fundamentalismus und die Mutter hat das irgendwie instinktiv erkannt, dass die Wurzeln in der Erziehung lagen."
Die Mutter, Ilse Ensslin: "Sie war dasjenige meiner Kinder, die das, was sie getan hat, ganz getan hat und ein totalitärer Charakter gegenüber den anderen war, das wusste ich schon früh."
"Es gibt natürlich keinen Determinismus in dieser Hinsicht."
Betont der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, der sich intensiv mit den Protestbewegungen der 60er und 70er Jahre auseinandergesetzt hat:
"Das sind erwachsene Menschen gewesen, die schon einen erheblichen Teil ihres Lebens hinter sich gebracht hatten mit Krisenerfahrungen und allen Möglichem. (...) ich würde mich dagegen wehren, eine Kausallogik auftun zu wollen zwischen Protestantismus beziehungsweise Pietismus auf der einen Seite und einem radikalen politischen Ansatz. So einfach ist das natürlich nicht."
Kraushaar warnt vor monokausalen Erklärungen, doch auch er sieht ein enges Beziehungsgeflecht zwischen dem Protestantismus und der RAF. Denn unbestritten ist:
Mehr als zwei Drittel der RAF-Terroristen der ersten Generation stammen aus dem protestantischen Milieu, dagegen weniger als ein Viertel aus katholischen Verhältnissen. Ein signifikanter Unterschied zum Durchschnitt der Bevölkerung.
Gudrun Ensslin war Pastorentochter, Ulrike Meinhof ist sehr protestantisch erzogen worden, hat noch als Marburger Psychologiestudentin das Tischgebet praktiziert. Der Hamburger Theologe und Historiker Jörg Herrmann nennt als Grund, warum die Mehrzahl der Terroristen evangelische Wurzeln hat, die Bedeutung der individuellen Überzeugung im Protestantismus.
"Man ist nur seinem Gewissen und seinem Gott verantwortlich und die individuelle Überzeugung, und das ist der moralische Anspruch, die muss auch gelebt werden. Es ist ganz wichtig, dass das, was einen unmittelbar angeht, wie das Paul Tillich das mal formuliert hat, und damit den evangelischen Glauben auch versucht hat zu beschreiben, das, was einen unmittelbar angeht, auch in Praxis umzusetzen."
Der Hamburger Probst Johann Hinrich Claussen sieht durchaus Parallelen zu der Haltung Martin Luthers und seines kolportierten Spruchs: "Hier stehe ich und kann nicht anders" - auch wenn es Luther natürlich nicht um die Revolution der Gesellschaft, sondern die Reformation der Kirche ging:
""Das beginnt mit diesem Drang, sich entscheiden zu müssen, diesem Dezisionismus, dem unglaublichen Gewissensradikalismus: Ich allein gegen alle Institutionen, ich kämpfe für das Gute, gegen das Böse, und in diesem rücksichtslosen Gewissensradikalismus lässt man alle bürgerlichen Hinsichten fallen und gibt sich ganz in diese Entscheidung für das eine. Das ist ein Moment, das es öfter im Protestantismus gegeben hat, dieses Rebellentum."
Der Individualismus verbindet sich oft mit einem hohen moralischen Anspruch, die Welt verändern zu müssen. Dass sich dieser moralische Anspruch in radikale und später terroristische Aktionen umsetzen konnte, hängt auch mit der besonderen Situation Ende der 60er Jahre zusammen, sagt der Protestforscher Wolfgang Kraushaar:
"Die hängen zusammen mit Glaubwürdigkeitsdefiziten, die in den 60er Jahren sehr ausgebildet gewesen sind: und es ist damals vor allem die Kombination von zwei Dingen gewesen: Es ist zum einen die nur sehr eingeschränkte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die damalige Aktualität des Vietnam-Kriegs (...), und dieses Gemisch hat zu einer Art von Glaubwürdigkeitskrise geführt, aus der die falschen Konsequenzen gezogen worden sind und eines der Produkte ist die RAF gewesen."
Gerade bei Gudrun Ensslin sei dies offensichtlich, meint Jörg Herrmann:
"Der Vater Helmut Ensslin war in der Bekennenden Kirche engagiert, auch inhaftiert (...) aber das war ein Hintergrund, da kann man auch eine Kontinuität sehen in so einer antifaschistischen Haltung, die weitergegeben worden ist an die Kinder und die Kinder (...) auch einen angefangenen, aber bei den Eltern als unzureichend wahrgenommenen Widerstand fortsetzen wollten."
Gottfried Ensslin sieht ebenfalls eine der Wurzeln für die späteren radikalen Aktionen seiner Schwester in der Erziehung begründet:
"Das war ein starkes Erbe in unserer Familie, dass man nicht nur redet, sondern dass das Tun mit dem Reden übereinstimmt. Das war eine ganz wichtige Sache. Wir waren ein sehr diskussionsfreudiges Elternhaus, wo ermuntert wurde über alles zu reden (...) das war sehr angesagt bei uns."
Anfangs fanden die radikalen Aktionen sogar mit dem Segen des Vaters Helmut Ensslin. Der Pfarrer erklärte im April 1968 nach der Kaufhausbrandstiftung seiner Tochter:
"Für mich ist erstaunlich gewesen, dass Gudrun, die immer sehr rational und klug überlegt hat, fast den Zustand einer euphorischen Selbstverwirklichung erlebte, einer ganz heiligen Selbstverwirklichung, so wie geredet wird vom heiligen Menschentum.
Das ist für mich das größere Fanal als die Brandstiftung selbst, dass ein Menschenkind, um zu einer Selbstverwirklichung zu kommen, über solche Taten hinweggeht."
Dass aus der sogenannten heiligen Selbstverwirklichung schon bald Terror und Mord wurde, ahnte Helmut Ensslin damals wohl nicht. Als die RAF-Mitglieder zur Waffe griffen, hatten sie ihren protestantischen Glauben längst hinter sich gelassen, betont Jörg Herrmann. Stattdessen habe sich bei einigen von ihnen ein Transformationsprozess vollzogen. Von der christlichen zu einer Art "bad religion":
"Vor dem Hintergrund eines funktionalen Religionsverständnisses (...) würde ich auch das Phänomen RAF als eine Form von Religiosität interpretieren. Man kann auch mit Luther sagen: Dein Gott ist, woran dein Herz hängt, (....) was deine höchsten Werte sind, dein Sinnentwurf, das ist auch deine Religion.
Wenn man das so weit versteht - Religion (...) dann kann man sagen: für die RAF-Terroristen war das ihre Religion. Man kann dann auch sagen, dass sich gewandelt zu einer Märtyrerreligion, sie waren ja bereit, für diese Überzeugung zu sterben."
Der heutige "Spiegel"-Chefredakteur Stefan Aust beschreibt in seinem Buch "Der Baader-Meinhof-Komplex" eine Drogennacht von Baader, Meinhof und Ensslin 1970: ein Beispiel für jene Transformation zu einer bad religion.
"Gudrun Ensslin vertrat missionarisch eine neue Moral, die Moral der Revolutionäre, die einen Strich durch die eigene Herkunft machen und hinter sich alle Brücken verbrennen müsste.
Im Verlauf der nächtlichen Euphorie entwickelte Ensslin ein neues Glaubensbekenntnis, ein Gegenbekenntnis zu ihrer eigenen Herkunft. Alle zehn Gebote müssten gebrochen werden. Aus dem biblischen Gebot 'Du sollst nicht töten' müsse in dieser Welt der Gewalt werden: 'Du musst töten'."
Durchaus vergleichbar mit religiösen Fundamentalisten seien auch die RAF-Leute geprägt gewesen von einer Aura, die Menschheit vom Bösen erlösen zu wollen:
"Man hatte ja die Vorstellung, dass man der Zündfunke an der Revolutionslunte sei, (....) so ein messianisches Bewusstsein; also wir sind die Auserwählten, das haben sie nicht so gesagt, aber sie haben sich so benommen, wir müssen das Heft des Handelns in die Hand nehmen."
Dies trifft wiederum besonders für Gudrun Ensslin zu, sagt Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Im Gegensatz zu Baader und Meinhof sei Ensslin bei dem Stammheim-Prozess sehr selbstsicher und in sich ruhend aufgetreten: für Kraushaar ein Resultat ihrer protestantischen Sozialisation:
"Ich glaube, dass diese Art von Selbstgewissheit eine gewesen ist, die nicht selbstverständlich war (...) ich glaube, dass diese Art von Autorisierung etwas hat, was eine Art von religiöser Autorität übersetzt hat ins Politische, und das ist ein Schritt der Selbstermächtigung, denn letztendlich ist ja Terrorismus eine Selbstermächtigung über Leben und Tod zu entscheiden (....)
das ist eher möglich gewesen aufgrund einer religiösen Sozialisation, weil es kombiniert war mit einer Selbstautorisierung und der offensichtlichen Überzeugung, das Rechte zu tun damit. (...) ein Verbrechen zu begehen und en Glauben damit zu verknüpfen, dass man das Richtige tun würde, und das macht es im Kern auch so gefährlich."
Auffallend ist, dass im Gegensatz zum Protestantismus weniger als ein Viertel der Linksterroristen katholische Wurzeln hatte. Der evangelische Probst Johann Hinrich Claussen mit einem selbstkritischen Erklärungsversuch:
"Vielleicht ist überhaupt der Protestantismus ideologieanfälliger als der Katholizismus. Der Katholizismus ist durch eine starke Institution, die ja ganz klare Regeln hat (...) auch davor gefeit, allzu schnell irgendwelchen Zeitgeistern aufzusitzen. Das macht ihn manchmal ein bisschen altertümlich, aber schützt ihn auch.
Diese starke Institution haben wir nicht als Protestanten, insofern sind wir stärker versucht, uns auf irgendwelche Ideologie draufzusetzen, und die Hoffnung damit zu verbinden, die Menschen für uns zu gewinnen."