David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in der Philosophie des Geistes und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Wem darf man das öffentliche Sprechen verbieten?
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Schon wieder haben Studierende eine Vorlesung des Wirtschaftsprofessors und AfD-Gründers Bernd Lucke gestürmt. Aktionen wie diese können unter Umständen gerechtfertigt sein, meint David Lauer. Er würde aber die Messlatte dafür deutlich höher anlegen.
"Kein Recht auf Nazi-Propaganda!" – So skandierten die Aktivisten, die die Vorlesung des AfD-Mitbegründers und Ökonomieprofessors Bernd Lucke an der Uni Hamburg sprengten. Dem ist nicht zu widersprechen. Nazi-Propaganda ist ebenso wie jede Form rassistischer oder sexistischer Beleidigung keine Meinungsäußerung, sondern eine Straftat.
Taugt dieser Satz aber als Begründung dafür, Lucke am Sprechen zu hindern? Kaum. Lucke hatte nicht die Absicht, sich politisch zu äußern. Er wollte über sein wissenschaftliches Fach sprechen. Vermutlich hätte er dazu Sinnvolles und darunter auch manches Wahre zu sagen gehabt. Ein wahrer Satz aber wird nicht falsch dadurch, dass ein Unsympath ihn ausspricht. Das ist die in der Logik begründete Trennung zwischen dem, was gesagt wird, und der Person, die es sagt.
Dies nicht zu berücksichtigen, führt zu einem Fehlschluss, der als argumentum ad hominem bezeichnet wird. Witzbolde nennen es auch das argumentum ad Hitlerum: Die Auffassung X wird oder wurde von Person Y vertreten, zum Beispiel von Hitler; Person Y ist mir zuwider, also muss die Auffassung X falsch sein. So kann man aber nicht argumentieren. Eine moralisch zweifelhafte Person mag besonders viele falsche Überzeugungen haben, aber diese Überzeugungen sind nicht deshalb falsch, weil sie von dieser Person vertreten werden.
Nicht jeder darf zu allem sprechen
Sieht man näher hin, argumentieren die Aktivisten auch gar nicht auf diese Weise. Wahrheit oder Falschheit spielen für sie gar keine Rolle. Sie würden verhindern wollen, dass Lucke an der Universität spricht, selbst wenn er dort nur Dinge sagte, denen sie zustimmen können. Kann man so etwas rechtfertigen? Ja, unter bestimmten Umständen kann man das. Dabei hilft das Konzept der drei Geltungsansprüche, das Jürgen Habermas in seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" entwickelt hat.
Jeder Sprechakt, so Habermas, lässt sich in drei Hinsichten als angemessen oder unangemessen beurteilen. Wir können erstens bewerten, ob die Sprecherin wahrhaftig ist, also überhaupt meint, was sie sagt. Wir können zweitens bewerten, ob das, was sie sagt, wahr oder sachangemessen ist. Wir können drittens bewerten, ob sie überhaupt in der Position ist, den fraglichen Sprechakt vorzubringen. Eine Person kann nämlich durch ihr Handeln die Berechtigung zu gewissen Sprechakten verlieren, auch wenn diese inhaltlich sachangemessen sind.
Etwa dann, wenn jemand mir wegen eines Fehlverhaltens Vorwürfe macht, zugleich aber dieses Fehlverhalten selbst noch viel ungenierter an den Tag legt als ich. Man würde dieser Person entgegnen: "Ich akzeptiere, dass du in der Sache recht hast, aber gerade von dir muss ich mir das nicht sagen lassen." Was die Person sagt, ist wahr, doch hat sie die Autorität verwirkt, diese Wahrheit zu vertreten. In solchen Fällen ist es berechtigt, zu sagen: Ich will und muss mir das nicht anhören.
Das Recht auf öffentliche Rede verwirkt man nicht leicht
Klar ist allerdings auch, dass diese Art von Argument keinen Freibrief dafür liefert, jemanden daran zu hindern, überhaupt in der Öffentlichkeit zu sprechen. Denn das Argument setzt immer noch einen Zusammenhang zwischen der Angemessenheit eines Sprechakts und seinem Inhalt voraus. Man kann Personen, die sich entsprechend diskreditiert haben, die Legitimation absprechen, sich zu bestimmten Themen zu äußern.
Etwas ganz anderes ist es jedoch, jemanden so zu behandeln, als habe er insgesamt das Recht verwirkt, öffentlich um Gehör für eigene Standpunkte zu werben, egal welche. Sicher gibt es Fälle, in denen auch dies gerechtfertigt ist. Angesichts der Ereignisse in Hamburg jedoch muss man sagen, dass mit diesem schärfsten aller diskurspolitischen Schwerter dieser Tage zu leichtfertig herumgefuchtelt wird.