Frauen-Proteste im Iran

Das seltsame Schweigen der Linken

05:04 Minuten
Eine Demonstrantin hält ein Plakat mit dem Bild von Mahsa Amini. Die Menschen versammelten sich in Marseille, um die Frauen und das iranische Volk zu unterstützen.
Kampf für Frauenrechte im Iran: Das Konterfei von Mahsa Amini ist in zahlreichen Protesten weltweit sichtbar. © IMAGO / ZUMA Wire / IMAGO / Gerard Bottino
Ein Kommentar von Arnd Pollmann |
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„Frau, Leben, Freiheit“ – die Proteste im Iran gehen weiter. Hierzulande finden sie jedoch keine große Beachtung. Besonders die Zurückhaltung in der Linken fällt auf. Warum tut ausgerechnet sie sich schwer mit dem iranischen Befreiungskampf?
Das politisch progressive Lager hätte derzeit wahrlich jeden Grund, den Freiheitskampf der iranischen Frauen zu feiern. Es ist dies der Kampf gegen eine antimoderne, patriarchale, antisemitische Mullah-Diktatur. Ein emanzipatorischer Aufstand – in der Tradition der Aufklärung – gegen Bevormundung, Unterdrückung, Ohnmacht.

Intellektuelle Befangenheit

Umso irritierender die seltsam befangen wirkende Reserve vieler progressiver Intellektueller und Akademiker:innen hierzulande. Weite Teile der Intelligenzija scheinen mit sich selbst beschäftigt - mit ihrem Verhältnis zum vormals linken Pazifismus etwa oder aber mit Abweichlern wie Precht und Welzer.
Die Reaktionen reichen von lautem Schweigen über verkrampft wirkende Solidarisierungsbekundungen bis hin zu theoretischen Verrenkungen. Und die progressive Fraktion der Ampelregierung lässt im Dunkeln, was sie unter „feministischer Außenpolitik“ versteht.
Porträt von Arnd Pollmann.
Die Skepsis gegen Herrschaftswissen sollte nicht zu einem unkritischen Werterelativismus führen, meint der Philosoph Arnd Pollmann© privat
Das ist nicht einfach Desinteresse. Es handelt sich um den verlegenen Ausdruck einer unausgegorenen Beziehung zur Aufklärung.
Diese Aufklärung hat historisch gleich zwei zentrale Denkbewegungen in Gang gesetzt: Da ist zum einen ihr Einsatz für den autonomen Vernunftgebrauch im Dienste von Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Menschenrechten. Und da ist zum anderen ein grassierender Skeptizismus: Hüten wir uns vor den Verkündern ewiger Wahrheiten sowie vor jenen, die einem sagen wollen, wie man zu leben hat!

Widersprüchliche Aufklärung

Ursprünglich richtete sich diese aufklärerische Skepsis gegen das Diktat traditioneller, religiöser Dogmen. Heute hat man es oft mit einer Absage an jede Anmaßung überlegenen Wissens und weltanschaulicher Gewissheit zu tun. Nehmen wir die sogenannten westlichen Werte: Sind auch diese nicht bloß imperiales „Herrschaftswissen“ der weißen, besitzenden Klasse, Resultat historischer Unterdrückung?
Diese Kritik ist wichtig. Aber sie führt kurzschlussartig zu einem eklatanten Widerspruch innerhalb der Aufklärung. Man kann nicht beides haben: ein starkes Plädoyer für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte - und doch zugleich die relativistische Weigerung, eine jeweils bestimmte politische Gewissheit als für alle Menschen verbindlich zu akzeptieren.
Mit Blick auf die iranische Realität drückt sich dieser Widerspruch in der beklommenen Weigerung aus, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen. Denn wer möchte sich schon gern den Vorwurf einfangen, interkulturell anmaßend, ja, islamophob zu sein?

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Dieses Schweigen erinnert ungut an die Kölner Silvesternacht von 2015, als ein juveniles Patriarchat auf extrem verstörende Weise übergriffig wurde. Auch damals fiel es den meisten schwer, einen aufgeklärten Feminismus mit einer ebenso aufgeklärten Weltoffenheit zu vereinbaren.
Hinzu kommt, dass die iranischen Frauen nunmehr in Eigenregie und nicht gegen, sondern oft auch mit ihren Männern ausdrücklich für „Freiheit“ kämpfen. Sie wollen sich nicht länger von einem übermächtigen Kollektiv sagen lassen, wie sie zu leben haben. Wenn man aber hierzulande zwei lange Corona-Jahre damit beschäftigt war, allzu individualistische Freiheitsbedürfnisse verächtlich zu machen, dann fehlen einem aktuell vielleicht die kritischen Maßstäbe.
Die Herausforderung liegt darin, skeptisch zu bleiben und sich doch zugleich ein Plädoyer für universelle Wertansprüche zuzutrauen. An diesem Punkt muss sich die Aufklärung über sich selbst aufklären, sonst bleibt sie auf halbem Wege in Platons Höhle stecken.

Ideologische Unpünktlichkeit

„Progressiv“ zu sein, ist etwas anderes, als sich selbstgerecht in weltabgewandter Denkfaulheit zu suhlen. Man kritisiert dann gern die Ewiggestrigen, kommt aber selbst zu spät zur Party.
Oder, um es mit Immanuel Kant zu sagen: Aufklärung ist immer auch der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unpünktlichkeit.
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