Proteste im Libanon

Alte Probleme, neuer Zusammenhalt?

23:02 Minuten
Nach einem gescheiterten Versuch, Politikern den Zugang zum Parlament zu versperren, wo sie über die Annahme der neuen Regierung des Libanon abstimmen werden stärkt sich ein regierungskritischer Demonstrant mit einem traditionellen libanesischen Sandwich, ein zweiter mit Gasmaske und Palästinenser-Tuch schaut auf sein Handy. Im Hintergrund brennt ein Bauzaun.
An Mundschutz und Kleidung, die vor Tränengas schützt, mussten Protestierende in Beirut lange Zeit nicht denken. © Getty Images / Sam Tarling
Von Julia Neumann  · 17.02.2020
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An einen politischen Neuanfang im Libanon glaubt kaum ein Demonstrant. Auch die Regierung von Hassan Diab wird von der alten Elite gestützt. Doch könnten Leid und Wut der Menschen in dem gespaltenen Land ein neues Wir-Gefühl entstehen lassen.
"Nieder mit den Banken", sprüht der 21-jährige Riad mit roter Farbe an die Wand einer Bank in Beirut. Es ist ein nasskalter Tag Mitte Januar und um die Zentralbank im Zentrum der libanesischen Hauptstadt haben sich aus Protest viele Jugendliche versammelt. Sie tragen dunkle Kapuzenpullis, einige haben Schals um ihre Gesichter gebunden oder tragen einen Mundschutz aus Papiervlies.
"Ich protestiere, weil dieses ökonomische Modell den Banken dient, nicht aber den Leuten", sagt Riad. "All unsere Steuern gehen an die reiche Klasse. Wir aber finden nicht mal Jobs. Wir haben davon genug, wir wollen eine Regierung, die den Menschen dient, der Unterschicht, nicht den reichsten ein Prozent."

Schwerste Wirtschaftskrise seit Ende des Bürgerkriegs

Riad hat Wirtschaft studiert, wie aber so viele gut ausgebildete Menschen im Libanon findet er keine Arbeit. Das Land steckt in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Ende des Bürgerkriegs vor 30 Jahren. Die Protestierenden haben genug vom korrupten Verhalten der Politiker, die seit dem Ende des Krieges fest im Sattel der Macht sitzen.
An Mundschutz und Kleidung, die vor Tränengas schützt, mussten Protestierende lange Zeit nicht denken. Denn zunächst entlud sich die Wut über die Misswirtschaft in Protesten, die an eine Party erinnerten: Ghettoblaster auf Autodächern und DJs auf provisorischen Bühnen beschallten öffentliche Plätze mit Musik. Jung und Alt, Arme und Menschen aus der dünnen Mittelschicht zeigten sich –seit Oktober letzten Jahres – auf den Straßen vereint unter der libanesischen Flagge. So auch die 57-jährige Lya Sabban, die mit ihrer Tochter gemeinsam auf die Straße ging.
Sie erzählt: "Die Regierung und die Politiker jeglicher Konfessionen haben uns Angst eingeflößt und die Menschen anhand ihrer Religionen gespalten. So haben sie nach dem Bürgerkrieg einfach weitergemacht. Doch jetzt ist es Zeit, dass wir uns von dieser Angst befreien und eine neue Kette der Freude und Liebe schaffen."
Friedliche Demonstrationen, Märsche und Streiks brachten schließlich die Regierung unter Ministerpräsident Saad el Hariri zu Fall. Seine Familie hält Anteile an einer der größten Banken des Libanon, Hariri galt als Symbol der neoliberalen Politik, die die Menschen nun entschieden ablehnen.

"Politiker halten Anteile an Banken"

Doch auch nach Hariris Rücktritt bleibt ein System, das in die Taschen der Armen greift und die Banken bevorzugt, erklärt der politische Analyst Nizar Hassan:
"Bankiers hatten schon immer den größten Einfluss auf die Wirtschaftspolitik im Libanon. Sie sind eng mit den Politikern verbandelt: Politiker halten Anteile an Banken, und die meisten Minister, die wir nach dem Bürgerkrieg hatten, waren Bänker. Die Politik der Zentralbank bevorzugt das Interesse der Banken. Generell sind Bankiers die neue Bourgeoisie, die nach dem Bürgerkrieg zur herrschenden Elite wurde. Und die Hariri-Familie repräsentiert diesen Zusammenschluss der neuen Bourgeoisie: Banken, Immobiliengeschäfte und Bauträger. Die Wirtschaftspolitik hat diesen Sektoren genützt, die aber nichts produzieren, das wir exportieren könnten."
Der Geldautomat und die Fenster einer Bankfiliale in der Innenstadt Beiruts sind zerstört.
Die Wut entlädt sich: Zerstörte Bankfiliale in der Innenstadt Beiruts.© Julia Neumann
Anfang diesen Jahres schlugen die kreativen und relativ friedlichen Proteste schließlich um: in Gewalt. Die Wut entlädt sich auch auf die Banken. Protestierende schlagen Fensterscheiben von Bankfilialen mit Steinen ein, demolieren Bankautomaten oder sprühen wie der arbeitssuchende Riad an deren Wände.
Die Polizei und das Militär ihrerseits reagieren harsch. Sie schmeißen Tränengaskanister auf Protestierende und zielen mit Schreckschussgewehren direkt auf Hände und Köpfe der Menschen. An dem negativen Höhepunkt der Ausschreitungen benennt der neue designierte Ministerpräsident Hassan Diab am 21. Januar eine Regierung.
Sie besteht aus unbekannten Technokratinnen und Technokraten – so hatten es sich die Protestierenden gewünscht. Doch gleich nach der Bekanntgabe versammeln sich die Menschen vor dem Parlamentsgebäude, um erneut zu protestieren.

"Wir sind seit 100 Tagen auf der Straße"

Die 22-Jährige Jana Youssef hat zwei Monate lang aus Protest in der Innenstadt gezeltet. Was hält sie von der neuen Regierung? "Darf ich fluchen?", fragt sie. "Das ist scheiße! Wir sind seit 100 Tagen auf der Straße, ich habe zwei Monate hier geschlafen. Ich habe viel gelitten. Wir leiden an Hunger. Ich habe meinen Job verloren, die meisten von uns hier haben ihre Jobs verloren. Und die hören nicht auf uns. Wir sind total gegen diese dumme Regierung. Die verteilen immer noch die Macht untereinander. Das ist überhaupt nicht das, wonach wir verlangt haben. Das sind keine Technokraten, und die wissen, dass es keine Technokraten sind."
Hassan Diab ist zwar Universitätsprofessor, er und seine Ministerriege sind Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen. Ein Neuanfang ist es aber nicht, denn die neuen Köpfe sind eng mit der alten Elite verbandelt. Regierungschef Diab war bereits von 2011 bis 2014 Bildungsminister im Kabinett Hariris. Der neue Wirtschaftsminister Raoul Nehme ist Geschäftsführer der Bank Med – an der die ehemalige Ministerfamilie Hariri die größten Anteile hält.
Um einen Zusammenbruch zu verhindern, hat die Regierung Reformen verabschiedet. Dazu gehören Zinssenkungen, eine progressive Einkommensteuer und Steuererhöhungen. Doch die Bevölkerung kann die schmerzhaften wirtschaftlichen Einschnitte kaum tragen.
Nizar Hassan schlägt deshalb vor, an das Vermögen der Millionäre und Multimillionäre zu gehen – die es im Libanon durchaus gibt. Er sagt: "Die Wirtschaft sollte den Leuten nicht den Anreiz geben, ihr Geld auf ein Konto zu verfrachten und da liegen zu lassen. Wir sollten die Menschen ermutigen, das Geld im produktiven Sektor zu investieren. Aber wenn man das heutzutage macht, ist man ein bisschen dumm, weil es profitabler ist, das Geld zur Bank zu bringen und Zinsen zu kassieren. Also sagen wir: Warum beschlagnahmen wir nicht Teile des Geldes, das die Reichen durch zu hohe Zinsen gemacht haben?"

Tausende haben ihre Jobs verloren

Selbst wenn die Regierung im Libanon nun anfangen würde, die Einkunftsquellen der Reichen zu kappen: Die Menschen leiden schon jetzt. Viele Kleinunternehmen mussten schließen, Tausende haben in den vergangenen vier Monaten ihre Jobs verloren. Gleichzeitig steigen die Preise für Medizin, Benzin und Lebensmittel.
"Das größte Problem ist, dass es nicht genügend US-Dollar im Wirtschaftskreislauf gibt", sagt Nizar Hassan. Das libanesische Pfund war seit 1997 an den Dollar gekoppelt, mit der Rate 1500 Lira für einen Dollar. Jetzt ist die Rate bei 2300 Lira – die libanesische Währung verliert an Wert auf dem Markt. Das heißt, das Ersparte der Menschen verliert knapp 40 Prozent an Wert."
Doch auch das ist ein Problem, dass die Reichen im Libanon nicht betrifft, denn sie haben ihr Geld ohnehin in Dollar angelegt. Für dieses angelegte Geld gab es ordentlich Zinsen, denn es gewährte die Stabilität der libanesischen Währung. Doch die Banken geben kaum mehr Dollar aus. Nur noch 100 Dollar bekommen die Menschen pro Woche – selbst dann, wenn sie ursprünglich Dollar auf das Konto eingezahlt haben.
Deshalb sind die Menschen wütend und frustriert. Einige haben sich von den Straßen entfernt. Manche wollen der Regierung eine Chance geben, andere haben keine Kraft mehr. Das Chaos der Proteste, die wirtschaftlich schlechte Lage und die Ungewissheit der Zukunft schlagen auf das Gemüt der Menschen. Vor allem in der nördlichen Stadt Tripoli, in der die Arbeitslosenrate bei über 50 Prozent liegt.

"Wir hören den Protestierenden zu"

Zu Besuch in der Praxis von Ghina Hajar in Tripoli. Sie ist Psychotherapeutin und leistet in den unsicheren Zeiten psychosoziale Unterstützung – und zwar ohne dafür Geld zu verlangen. Ghina Hajar sagt: "Ich habe darüber nachgedacht, was ich für die Revolution beisteuern kann, um die Proteste zu unterstützten. Ich habe mit Freunden geredet und daraus ist die Idee entstanden, auf dem Nour Platz in Tripoli einen kleinen Platz einzurichten, auf dem wir aktiv zuhören. Wir hören den Protestierenden zu, die unter dieser Situation leiden."
Ghina Hajar sitzt auf einem Sessel.
Therapeutin Ghina Hajar leistet psychosoziale Unterstützung.© Julia Neumann
Gemeinsam haben sie neben dem Protestplatz ein weißes Zelt aufgebaut. Jeden Tag sitzt dort jemand, um den Menschen zuzuhören. Wer weitere psychologische Hilfe braucht, dem bietet Ghina Hajar vier kostenlose Therapiesitzungen an. "Manchmal lachen sie, manchmal weinen sie. Manchmal werden sie wütend oder sind depressiv.", sagt sie. "Sie denken, die Situation sei abscheulich und dass sie das Geld nicht aufbringen können. Wir sind da, um über all diese Gefühle zu sprechen und zuzuhören."
Die Idee, Menschen zuzuhören und sich für ihre Erlebnisse und Traumata zu interessieren, scheint simpel. Sie ist aber revolutionär in einem Land, in dem sich religiöse Gruppen von 1975 bis 1990 gegenseitig bekämpft haben. In dem der Bürgerkrieg nie aufgearbeitet und die Thematik aus den Geschichtsbüchern verbannt wurde – aus Angst vor einem neuen Bürgerkrieg. Die Traumata des Krieges kommen bei dem Chaos auf der Straße und in den unsicheren Zeiten wieder zum Vorschein.
Auf dem Nour Platz in Tripoli haben sich monatelang Protestierende versammelt. Auf einer seitlichen Freifläche neben dem Platz haben Aktivistinnen und Aktivisten Zelte aufgestellt. An den regnerischen Tagen im Februar flachen die Proteste ab. Doch ein Zelt ist voller Menschen: Es ist das Zelt, in dem der 29-Jährige Obeida Takriti mit einem Mikrofon steht.
Er erzählt: "Ich habe diesen Platz geschaffen, es war vorher nicht mal ein Zelt, wir haben uns hier neben dem Baum getroffen. Aufgrund des schlechten Wetters haben wir ein Zelt aufgebaut. Wir haben bisher ich glaube 230 Sitzungen organisiert – wahrscheinlich mehr Aktivitäten als im ganzen Libanon zusammen. Seit dem dritten Tag der Revolution haben wir keinen Tag ausgesetzt."
Aktivist Obeida steht mit einem Mikrofon in einer Gruppe von Menschen.
Aktivist Obeida mit Diskutierenden im Zelt auf dem Nour Platz in Tripoli© Julia Neumann
Im Libanon leben 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. Bisher haben die Machthabenden die Vorurteile und Ängste gegen die jeweils "anderen" genutzt, um Klientelpolitik zu betreiben. Die politische Macht wird durch ein Proporzsystem verteilt: Der Präsident ist immer ein Christ, der Regierungschef Sunnit und der Parlamentssprecher immer ein Schiit. Das neu gewonnene Volksgefühl ist deshalb so wichtig, weil es eine Einheit und Politisierung von unten schafft.

Beziehungspflege für ein neues Wir-Gefühl

Takriti, der Politik studiert hat, sieht deshalb die Diskussionen als praktische politische Willensbildung: "Man hört hier viele unterschiedliche Perspektiven, es gibt Streitereien, Argumentationen, oder Konsens. Ich glaube das ist die wahre Form von Politik: Es geht nicht nur um intellektuelle, juristische oder wirtschaftliche Diskussionen, sondern darum, Beziehungen zueinander aufzubauen und zu überlegen, wie wir sie in Zukunft pflegen."
Kann das neue Wir-Gefühl im Libanon wirklich zum Neuanfang führen? Zunächst wurden nur die politischen Köpfe in der ersten Reihe ausgetauscht. Und es ist fraglich, ob sich ein Volk, das jahrelang entlang konfessioneller Linien gelebt hat, auf eine unabhängige Regierung einigen kann. Eines bleibt jedoch bestehen: Die Menschen haben über Klassen und Religionen hinweg verstanden, dass sie dieselben Probleme haben. Sie halten zusammen und bestärken sich gegenseitig.
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