Die Unzufriedenheit nimmt zu
23:26 Minuten
Seit Wochen fordern Demonstranten in Israel den Rücktritt Benjamin Netanjahus, der wegen Betrugs, Untreue und Bestechlichkeit angeklagt ist. Auch Fahrlässigkeit in der Coronakrise wird ihm vorgeworfen. Unterdessen wächst die Armut im Land.
"Vermögen, Herrschaft, Unterwelt", skandieren die Demonstranten in der Jerusalemer Innenstadt. Es ist Samstagabend und wieder sind, wie schon seit Wochen, Tausende gekommen. Die Demonstrationen nahe dem Amtssitz von Benjamin Netanjahu sind zum Symbol für die landesweiten Proteste geworden.
Auch in Tel Aviv gibt es regelmäßig Kundgebungen und an jedem frühen Samstagabend stehen überall im Land Menschen mit schwarzen Flaggen, einem Erkennungszeichen der Demonstranten, an Straßenkreuzungen und auf Autobahnbrücken.
Was sie eint, ist ihre Forderung: Benjamin Netanjahu, Israels Regierungschef unter Korruptionsanklage, soll zurücktreten. Auf der Demonstration ist an diesem Amt auch der 27 Jahre alte Itay. Ja, sagt er, ich bin aus Protest gegen Netanjahu hier, aber es geht ihm auch um mehr:
"Ich möchte es nicht an einem Mann festmachen. Netanjahu ist schuld an dieser Lage, aber die zentrale Botschaft, die von hier ausgehen soll, ist, dass wir ein anderes Land wollen, in dem man der Führung vertrauen kann. Ich bin Student hier in Jerusalem, finde gerade keinen Job und es ist sehr schwer, weil der Markt immer kleiner wird."
Kritik am Krisenmanagement
Wegen der durch die Coronapandemie ausgelösten Wirtschaftskrise hat Itay keinen Nebenjob mehr, um sein Studium zu finanzieren. So wie ihm geht es gerade vielen vor allem jungen Leuten in Israel. Jeder aus dieser Altersgruppe im Land kennt gerade jemanden, der oder die wieder zu den Eltern ziehen musste, weil man sich die eigene Wohnung nicht mehr leisten kann. Die Arbeitslosigkeit schnellte in Folge der Pandemie von etwas mehr als 3 auf rund 21 Prozent.
Der Vorwurf der Demonstranten: Das Krisenmanagement der Regierung ist schlecht und planlos, weil der Regierungschef nur an sein eigenes politisches Überleben denkt.
Proteste gegen Netanjahu gibt es schon lange, aber in der Coronakrise gehen nun immer mehr Israelis gegen ihren Premier auf die Straße. Auf der Demo in Jerusalem sieht man Familien mit Kindern, sehr viele junge Leute und auch einige Ältere. Die 53 Jahre alte Ravid beteiligt sich schon lange an den Protesten:
"Die jüngeren Leute kommen jetzt auch wegen des Lebensunterhalts, weil sie plötzlich begreifen, dass die Korruption auch sie betrifft. Alles beginnt dort: Korruption führt dazu, dass sich niemand um die Menschen kümmert."
Netanjahu sieht Demonstrationen als Regelbruch
Der, dessen Aufgabe das Kümmern ist, geht breit lächelnd in ein Restaurant in der Kleinstadt Ramle. "Wir lieben Dich, Bibi", rufen ein paar Fans vor der Tür. Drinnen spricht Benjamin Netanjahu, Spitzname Bibi, sofort die Chefin des Lokals an und fragt, ob sie den staatlichen Zuschuss erhalten hat, der dem Betrieb durch die Coronakrise helfen soll.
"Haben wir. Vielen Dank, sehr geehrter Herr Ministerpräsident. Wir lieben Sie! Möge Gott Sie beschützen", sagt die Frau.
Dass viele Israelis sich diesem Wunsch momentan wohl eher nicht anschließen würden, führt Netanjahu öffentlich nicht auf sein Management der Coronakrise zurück. Er sieht die Proteste als politisch motivierten Versuch, ihn zu stürzen.
Am Tag vor seinem öffentlichkeitswirksamen Blitzbesuch im Schnellrestaurant bricht der Frust über die Demonstrationen aus Netanjahu heraus. Am Rande einer Kabinettssitzung schimpft der 70-Jährige mehrere Minuten lang. Natürlich hat jeder das Recht zu demonstrieren, sagt der Regierungschef, "dennoch sehe ich hier, im Namen der Demokratie, einen Versuch, diese Demokratie zu zertrampeln. Bei diesen Kundgebungen ist der totale Regelbruch zu beobachten. Sie sind Brutkästen für das Coronavirus. Es gibt Regeln, die nicht beachtet werden."
Die Abstandsregeln werden bei den Demonstrationen nicht eingehalten, die in Israel auch im Freien geltende Maskenpflicht schon. Für Netanjahu sind die Teilnehmer Linke und Anarchisten – aufgehetzt von Medien, die eine Kampagne gegen ihn betreiben.
"Es gab noch nie eine so einseitige Mobilisierung. Ich könnte es sowjetisch nennen, aber es sind eher nordkoreanische Verhältnisse, wie die Demonstranten durch die Medien begünstigt werden."
Aus Verzweiflung im Hungerstreik
Früher Vormittag im Amore Mio. Das italienische Lokal ist eine Institution in Tel Aviv. Shlomi Salomon und seine Frau Susanna haben es vor rund 20 Jahren gegründet. In normalen Zeiten geht das Geschäft sehr gut. Während der ersten Coronawelle war das Amore Mio dann geschlossen. Ende Mai öffneten sie wieder. Dann kam die zweite Pandemiewelle und es kam jener Freitagmorgen, an dem Shlomi den Glauben in Israels Regierung endgültig verlor. Um vier Uhr morgens fiel die Entscheidung, die Restaurants noch am gleichen Nachmittag zu schließen.
"In diesem Moment ist etwas in mir zerbrochen, und ich beschloss, in den Hungerstreik zu treten – aus Protest gegen die Regierung, die so etwas mit uns macht. Und dann, am Nachmittag, hieß es überraschend, dass wir doch aufmachen könnten. In der Zwischenzeit hatte ich die eingekaufte Ware an meine Mitarbeiter verteilt, denn es wäre ja schade gewesen, das alles wegzuwerfen. Danach konnte ich natürlich nicht mehr arbeiten, und das Restaurant blieb zu. Am Sonntag machten wir dann ganz normal auf, und am Montag hieß es wieder, dass wir schließen sollten. Das ist wirklich nicht normal."
An jenem Freitag trat der 58-Jährige in den Hungerstreik und er ging abends auch nicht nach Hause. Shlomi übernachtete im Lokal. Das planlose Krisenmanagement der Regierung führte bei Shlomi dazu, dass sich monatelang aufgestauter Frust Bahn brach. Schon durch die Lokal-Schließung während der ersten Coronawelle habe er enorme Verluste gemacht, erzählt der Wirt.
"Aber erst jetzt, nach vier Monaten, kriegen wir Kompensationszahlungen von der Regierung und auch das erst, nachdem wir, die Selbständigen, viel Druck gemacht haben. Nicht alle haben die Hilfen schon bekommen. Es gibt Selbstständige, die seit März warten und immer noch nichts erhalten haben. Nichts. Diese Leute haben nichts, sie können sich nicht mal Essen leisten."
Schon 2011 gab es Protestwellen
Gerade viele Selbständige wie Gastronomen, kleine Dienstleister und Einzelhändler sind weitgehend auf sich gestellt. Die staatliche Unterstützung kam für viele zu spät und fiel zu gering aus. Wer durch Tel Avivs Innenstadt läuft, sieht zahlreiche Geschäfte, die nach der ersten Coronawelle nicht mehr aufgemacht haben. In den Straßen mit den höchsten Ladenmieten sei jedes zweite Geschäft zu, sagt Shlomis Frau Susanna. Sie winkt einer jungen Frau zu, die gerade das Lokal verlässt. Die hat hier früher mal gearbeitet und nun wegen Corona keinen Job mehr, erzählt Susanna.
"Auf einmal ist sie arbeitslos und sie ist nur ein Fall – eine, die morgens aufsteht und plötzlich keine Miete mehr zahlen und auch nicht im Supermarkt einkaufen kann. Sie ist nun schon seit drei, vier Monaten ohne Job. Wie oft kann man mit 35, 36 noch zu seinen Eltern laufen und fragen, ob man bei ihnen wohnen kann? Und sie dann auch noch um Geld bitten? Davon gibt es hunderttausende zurzeit in Israel und deswegen brennt hier alles. Ich erinnere nur an die Proteste 2011 auf dem Rothschild-Boulevard. Das war die erste große Explosion. Einige Dinge wurden verbessert, aber dann geriet alles in Vergessenheit. Und jetzt kommt alles wieder hoch."
Die Armut nimmt zu
Im ersten Stock eines Bürogebäudes im Süden von Tel Aviv führt ein langer Gang durch das Hauptquartier des Wohlfahrtsverbandes Latet. In Büros koordinieren hauptberufliche Mitarbeiter und Freiwillige die Hilfe für Bedürftige in ganz Israel. Latet ist ein Dachverband, der mit lokalen Partnern unter anderem Lebensmittelhilfe organisiert. "Corona hat unsere Arbeit verändert", schildert Naama Yardeni, die Direktorin für Hilfsprogramme.
"Aktuell haben wir doppelt so viele Anfragen. 100 Prozent mehr als vor der Krise. Während des Lockdowns in der ersten Welle hatten wir noch sehr viel mehr Anfragen, aber in der Praxis kümmern wir uns nun um 10.000 zusätzliche Familien, die auf unseren Empfängerlisten stehen und Lebensmittelhilfe bekommen."
Schon vor Corona lebten 18 Prozent der Familien in Israel offiziellen Statistiken zufolge unter der Armutsgrenze, erklärt Naama Yardeni. Nun rutschen viele weitere ab, sagt sie. "Manche Familien haben in dieser Krise nicht genügend Reserven. Sie bekamen den Kopf vorher knapp über Wasser und konnte kleine Ausfälle kompensieren. Eine Krise dieser Art kann schnell dazu führen, dass diese Familien nicht mehr zurechtkommen."
Hohe Lebenshaltungskosten
Dass die wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie viele Israelis nun so hart und vor allem so schnell treffen, hat für Naama Yardeni auch mit grundsätzlichen Problemen zu tun wie den hohen Lebensmittelpreisen.
"Tatsächlich sind die Preise in Israel sehr hoch und liegen bei Lebensmitteln zum Teil 20 Prozent über dem Durchschnitt aller anderen OECD-Länder. Das wirkt sich natürlich aus, wenn eine Familie auf einmal gar kein Einkommen mehr hat oder nur noch einen Teil davon."
Vollbeschäftigung erst wieder in vier Jahren
Israel werde die Wirtschaftskrise überwinden, ist sich der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler John Gal sicher. Für einen Teil der Menschen, die ihren Job verloren haben, werde die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt aber sehr schwierig.
"Menschen, die Arbeit hatten, aber keine Ersparnisse und damit kein Sicherheitsnetz. Ihre Perspektive ist sehr problematisch, denn es gibt Schätzungen, wonach der Status der Vollbeschäftigung, den wir hatten, erst in vier Jahren wieder erreicht werden kann. Für viele dieser Leute wird es sehr schwer, wieder einen Job zu finden."
Der Frage nach der politischen Alternative zu Benjamin Netanjahu werden sich die Israelis vielleicht schon in den nächsten Monaten stellen müssen – an der Wahlurne. Die Koalition zwischen der Likud-Partei des Premierministers und dem Bündnis Blau-Weiß ist nur wenige Monate nach ihrer Bildung tief zerstritten und ihre Zukunft ungewiss.