Langzeit-Proteste in Israel

Das Schwenken der Flagge als brillianter Schachzug

Blick auf ein Meer israelischer Fahnen im Juni 2022, aufgenommen bei Protesten gegen die Justizreform in Tel Aviv.
Das Hissen von Fahnen proklamiert eine Gemeinschaft, eine Idee oder ein Ideal, meint David Ranan © IMAGO / ZUMA Wire / IMAGO / Eyal Warshavsky
Ein Kommentar von David Ranan · 26.06.2023
Indem die israelische Protestbewegung die Nationalflagge zu einem zentralen Symbol ihrer Demonstrationen gemacht hat, entzieht sie der Regierung die Deutungshoheit darüber, meint David Ranan. Eine Verunglimpfung der Demonstranten sei so schwieriger.
Die ungewöhnlich ausdauernde Demonstration des Volkswiderstands in Israel geht nun schon in die 25. Woche. Man könnte vieles zu den Demonstrationen sagen und natürlich darüber diskutieren, ob Israel jemals eine echte Demokratie war. Aber heute möchte ich vor allem über ein bestimmtes Phänomen sprechen: Das Schwenken der israelischen Flagge bei diesen Massendemonstrationen, ein ganz offensichtlich gut organisiertes Fahnentragen und -hissen: etwas, das ich zunächst als störend empfand, bei näherem Nachdenken aber als einen brillanten Schachzug verstehe.  
Das Hissen von Fahnen proklamiert eine Gemeinschaft, eine Idee oder ein Ideal. Wer die Fahne hisst, fordert zur Identifikation auf und will andere von der eigenen Sache überzeugen. Oft geht es auch um ein Ausgrenzen der Nicht-Dazugehörenden. Das Hissen und erst recht das Marschieren mit der Nationalflagge soll den Staat als Wert etablieren, die Flaggenträger mit dem Staat identifizieren oder das Gebiet, in dem die Flagge gehisst wird, als eigenes proklamieren.
Ein besonders krasses Beispiel ist der alljährliche "Jerusalem Flag Day"-Marsch, bei dem Horden von fahnentragenden jüdischen Extremisten, die oft "Tod den Arabern" skandieren, durch die 1967 eroberten muslimischen Viertel Ost-Jerusalems marschieren. Sie wollen damit ihren Anspruch auf jüdisches Eigentum an diesem Land unterstreichen. Diese nationalistische Provokation und Einschüchterung der lokalen palästinensischen Bevölkerung wird von den israelischen Regierungen genehmigt und von den israelischen Sicherheitskräften abgesichert.

Demonstranten entziehen Regierung Deutungshoheit

Warum also nutzen die Organisatoren der Anti-Regierungs-Demonstrationen ausgerechnet die Nationalflagge als einigendes Symbol? Zumal sich ihr Protest gegen die nationalistischste Regierung richtet, die das Land je hatte?

Indem die Protestbewegung die israelische Flagge zu einem zentralen Symbol ihrer Demonstrationen macht, entzieht sie der Regierung die Deutungshoheit über die Flagge. Es ist schwieriger diese Regierungsgegner, die nun „patriotische Fahnenschwenker“ sind, als „verräterische Linke" und Feinde Israels zu verunglimpfen.
Mit der raffinierten Idee, die Nationalflagge für sich zu beanspruchen, hat es die Anti-Regierungs-Protestbewegung zudem vielen erleichtert, sich den Demonstrationen anzuschließen. So können auch diejenigen mitmarschieren, die eigentlich rechte politische und nationalistische Ansichten teilen, denen Netanjahus illiberale und undemokratische Wende jedoch zu weit geht.

Proteste sind keine Menschenrechtsbewegung

Und während linksliberale Israelis die Hauptstütze der aktuellen Volksbewegung gegen die Regierung sind, ist das, was wir jetzt erleben, keine Menschenrechtsbewegung. Schließlich trägt diese Bevölkerungsgruppe seit vielen Jahren stillschweigend die Besatzung und die Siedlungen mit, obwohl sie sich theoretisch dagegen ausspricht. In ihrem Bemühen, Netanjahus Koalition und deren antidemokratische Vorhaben zu stoppen, wollen die israelischen Juden verhindern, dass ihre eigenen Rechte ausgehöhlt werden. Es gibt nur einen sehr kleinen harten Kern in Israel, der unermüdlich für eine echte Demokratie kämpft - eine Demokratie, die auch für die Palästinenser unter israelischer Herrschaft gelten würde.
Auch wenn es der imponierenden liberalen Bewegung gelingen sollte, unter anderem mit Hilfe der Nationalflagge, das fragile System der Gewaltenteilung in Israel zu retten: Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich in diesem Ausmaß für die Gleichberechtigung der Nicht-Juden im Land mobilisieren lassen.

David Ranan, geb. 1946, PhD, Kultur- und Politikwissenschaftler, wuchs in Israel und in den Niederlanden auf. Bei Dietz erschienen zuletzt: Kirche, Schuld und Synodaler Weg. Was Galileo, die Judenverfolgung und den Missbrauchsskandal verbindet (2023) und Sprachgewalt. Missbrauchte Wörter und andere politische Kampfbegriffe (2021). Er lebt und arbeitet in London und Berlin.

© Adi Halperin
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