Proteste in Russland

Die Wut der jungen Generation

Junge Demonstranten in Moskau rufen Slogans bei einer der landesweiten Anti-Korruptions-Protestkundgebungen in Russland
Junge Demonstranten in Moskau bei einer der landesweiten Anti-Korruptions-Protestkundgebungen in Russland © Imago
Stefan Meister im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Der Russlandexperte Stefan Meister sieht in den Demonstrationen in Russland vom Wochenende den Beginn einer neuen Art von Protesten: spontan und nicht organisiert. Vor allem junge Leute gingen auf die Straße - aus Wut über die Arroganz der Eliten.
Anders als bei den Massenprotesten 2011/12 seien die jüngsten Demonstrationen nicht von führenden liberalen Oppositionellen organisiert worden, sagt Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Vielmehr stehe nun Alexej Nawalny im Hintergrund - mit seinem Video über mutmaßlichen Immobilienbesitz von Ministerpräsident Medwedew. Russland stecke nicht nur in einer Wirtschaftskrise, sondern schränke auch die Freiheiten seiner Bürger immer mehr ein. Das führe zu einer Wut über die Arroganz und Korruption der eigenen Eliten:
"Hier geht es auch um die Zukunft der jungen Generation. Man hat Korruption bisher bis zu einem gewissen Maße toleriert - jeder ist korrupt in diesem Land und die Eliten insbesondere - aber dass jetzt auch noch die Freiheiten eingeschränkt werden, so massiv für junge Menschen, und gleichzeitig sich die Elite weiter so bereichert, das treibt eben gerade die junge Generation so auf die Straße."

Noch keine große Mehrheit gegen Putin

Dennoch wird dies nach Einschätzung Meisters noch keinen Niederschlag bei den Präsidentschaftswahlen 2018 finden. Es gebe noch keine große Mehrheit gegen Putin. Aber die Frustration über das System werde "irgendwann auch Putin selbst fokussieren", meint der Experte - nämlich "wenn das politische Klima sich weiter so verschlechtert, der Druck auch auf die Bevölkerung so wächst, die Angst (sich) weiter verbreitet".
Über den Oppositionsführer Nawalny sagt Meister: Er sei Nationalist, Populist, kenne sich im Internet aus und führe eine neue Art von Kampagnen. Momentan sei er der Einzige. Allerdings: "Da wird es auch noch neue Personen geben, die wachsen werden aus diesem Staat, aus dieser Gesellschaft heraus."

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Das waren die massivsten Proteste seit vielen Jahren in Putins Reich am Wochenende in Moskau und in vielen anderen Städten Russlands. Zehntausende sind da auf die Straßen gegangen, um gegen Korruption und Bereicherung zu protestieren, und Anlass war ein Internetvideo, das zeigte, wie Ministerpräsident Medvedev Weingüter und Yachten besitzen soll, die von zweifelhaften wohltätigen Stiftungen verwaltet werden. Keines gehört offiziell dem Ministerpräsidenten, so sagt das dieses Internetvideo, aber er soll sich mit Hilfe von Strohmännern ein riesiges Immobilienreich geschaffen haben. Medvedev hatte sich ja stets als liberal gegeben und der Korruption den Krieg erklärt. Stimmen nun die Recherchen der oppositionellen Stiftung zur Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny, dann ist auch Medvedev längst Teil der korrupten russischen Elite, und genau daran entzündeten sich die Proteste und Demonstrationen, und der bekannteste Oppositionsführer – Sie haben es in den Nachrichten gehört – Alexej Nawalny wurde gestern zu 15 Tagen Haft verurteilt, andere auch. Trotzdem gab es diese Proteste. Sind die nur ein Aufflammen oder sind sie nachhaltig – das will ich jetzt von Stefan Meister wissen. Er ist Programmleiter für Osteuropa, Russland und Zentralasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Schönen guten Morgen!
Stefan Meister: Guten Morgen!
Billerbeck: Da sieht man in einem Video die riesigen Ausmaße parkähnlichen Grundbesitzes und Immobilien, die angeblich dem Ministerpräsidenten zugeordnet werden können, und schon gibt es Proteste und zwar vielerorts. Ist das der Beginn einer neuen Protestwelle?
Meister: Also es ist auf jeden Fall der Beginn eines neuen Protestes, einer neuen Art von Protest und auch einer neuen Gruppe, die protestieren. Wir sehen eben nicht mehr, wie in den 2011er- und 2012er-Demonstrationen – das sind ja die letzten großen Massendemonstrationen gewesen –, führende Oppositionsköpfe, die – also liberale Oppositionsköpfe –, die hier die Demonstrationen organisieren, sondern wir sehen Alexej Nawalny als denjenigen, der im Hintergrund sozusagen diese Korruption aufgedeckt hat, aber dann sind es vor allem junge Leute. Es sind spontane Demonstrationen. Es ist eine ganz andere Generation, die hier demonstriert mit neuen Ausdrucksformen auch des Protestes. Also es ist eher was Spontanes, es ist nichts organisiertes, es ist eine Wut, ein Aufflammen über diese Arroganz und Korruption der eigenen Eliten, aber ich würde nicht sagen, dass das neue Massendemonstrationen sind, die organisiert sind, die politische Ziele haben, sondern es ist erst mal nur eine Wut vielleicht einer bestimmten Generation, die die Leute hier auf die Straße getrieben hat.
Billerbeck: Ich habe mir dieses Video angeschaut von Nawalny. Das war ja auch gemacht für die Internetgeneration: sehr schnell, sehr schnell gesprochen, sehr schnell gedreht, mit ganz vielen Informationen. Diese neue Protestgeneration, die Sie da schildern, oder Wutgeneration, ist die dadurch angefixt, also hat die gar keine Angst vor der Staatsmacht?

Es geht um die Zukunft der jungen Generation

Meister: Die hat einerseits nicht so viel zu verlieren, also sie hat kein Eigentum, sie hat keine Kredite, sie hat kein Besitz, also sie hat erst mal nichts zu verlieren, und dann geht es um ihre Zukunft. Also wir sehen ja Russland, was tief in der Wirtschaftskrise steckt, und wir sehen gleichzeitig einen Staat, der immer mehr die Freiheiten auch seiner Bürger einschränkt, sei es im Internet, seien es auch Reisemöglichkeiten, eben weil man nicht mehr die Mittel hat. Also ich glaube, hier geht es auch um die Zukunft der jungen Generation. Man hat Korruption bisher bis zu einem gewissen Maße toleriert, jeder ist korrupt in diesem Land und die Eliten insbesondere, aber dass jetzt auch noch die Freiheiten eingeschränkt werden, so massiv für junge Menschen und gleichzeitig sich die Elite weiter so bereichert, ich glaube, das treibt eben gerade diese junge Generation auf die Straße.
Billerbeck: Nun hatte man ja eigentlich den Eindruck, dass weite Teile der russischen Bevölkerung auf Putins Kurs getrimmt sind. Haben wir uns da geirrt?
Meister: Das ist zumindest das, was uns das Regime glauben hat lassen wollen, also auch, was das Regime die Bevölkerung hat glauben lassen wollen. Ich meine, diese Umfragen von über 80 Prozent, das ist irgendwo auch fiktiv. Sie können Leute sicher auf der Straße fragen, und keiner wird zugeben, dass er dann vielleicht Putin doch nicht wählen würde. Also ich würde jetzt nicht grundsätzlich sagen, dass eine große Mehrheit gegen Putin ist, ich würde auch immer noch sagen, Teil der Leute ist möglicherweise auch ... würde Putin unterstützen oder sieht Putin auch für alternativ los an, aber es ist eben auch eine Frustration über dieses System, eine Frustration, worin sich Russland entwickelt, die im Moment noch nicht auf Putin umschlägt, und die wird auch nicht 2018 zu den Präsidentschaftswahlen umschlagen, aber sie wird, wenn diese ökonomische Situation so weitergeht, wenn das politische Klima sich weiter so verschlechtert, der Druck auch auf die Bevölkerung so wächst, die Angst so weiter verbreitet wird, wird eben auch die Wut auf das System Putin irgendwann sich auch auf Putin selbst fokussieren. Also ich würde eben diese Zahlen ... ich habe diese Zahlen immer mit Vorsicht genossen, die ihm von über 80 Prozent Zustimmung zugesagt hatten.
Billerbeck: Alexej Nawalny – ich habe es vorhin gesagt –, der das ja angeregt hat mit diesem Video, auf das ja diese Proteste da zurückgehen, mit seiner Stiftung zur Korruptionsbekämpfung, der ist ja eine charismatische Figur. Ist er da die Ausnahme oder sind da noch anderen Oppositionelle, wenn wir eben den Blick auf die Wahlen 2018 werfen?

Nawalny weiß, wie man mit Internet umgeht

Meister: Nawalny ist letztlich die neue Generation Opposition. Also er ist eben nicht Teil dieser alten, zum Teil aus den 80ern-, aber vor allem 90er-Jahren stammenden liberalen Opposition, die vielleicht zwei, drei Prozent der Russen wählen würden, sondern er ist ein Nationalist, er ist ein Populist, er weiß, wie er mit Internet umgeht, er hat mit Crowdfunding zu den Bürgermeisterwahlen, zu den letzten Bürgermeisterwahlen in Moskau über 30 Prozent gewonnen, ganze neue Formen von Kampagnen. Also im Moment ist er eher der einzige. Also er ist ja eher einer der wenigen Figuren, die diese neue Generation auch von Nationalisten, nicht unbedingt pro-westlich eingestellt, aber gegen Korruption, sehr russisch auch, also sehr nationalistisch in Teilen. Also da ist er schon eher der einzige, aber er ist eben eine neue Generation, und ich denke, da wird es auch noch neue Personen geben, die wachsen werden aus diesem Staat oder aus dieser Gesellschaft heraus.
Billerbeck: Einschätzungen waren das von Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik über die Proteste gegen Korruption in Moskau und anderen russischen Städten am Wochenende. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Meister: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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