Proteste im Iran
Teheran am 8. Oktober 2022: Seit Wochen protestieren Iranerinnen und Iraner gegen die brutal durchgesetzten Sittenvorschriften der islamischen Republik. © AFP
"Das Kopftuch ist die Berliner Mauer des Regimes"
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Mutige Frauen führen im Iran die Proteste an. Nach dem Tod einer jungen Frau in der Haft der Sittenpolizei fordern sie den Rücktritt der Regierung. Der Druck der Straße auf das Regime sei so groß wie lange nicht, sagt der Schriftsteller Sama Maani.
"Frau - Leben - Freiheit!", so lautet die Parole der Proteste im Iran. Frauenrechte stehen im Zentrum der Bewegung, die auch maßgeblich von Frauen angeführt wird, sagt Sama Maani, österreichischer Schriftsteller mit iranischen Wurzeln. Bei den Protesten, ausgelöst durch den Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in Polizeigewahrsam, geht es um das Schicksal des Regimes, so Maani:
"Es gibt keine Forderungen an das Regime, sondern es geht darum, dass die Menschen sagen: Wir wollen diese islamische Republik nicht."
Kopftuch im Zentrum der Proteste
Mahsa Amini war von der sogenannten Sittenpolizei verhaftet worden, weil sie ihr Kopftuch angeblich nicht gemäß den islamischen Vorschriften trug. Die Kopftuchfrage ist dementsprechend der Dreh- und Angelpunkt der Proteste, sagt Maani. Er zitiert einen Ausspruch der iranisch-amerikanischen Frauenrechtlerin und Journalistin Masih Alinejad:
"Das Kopftuch ist die Berliner Mauer dieses Regimes. Wenn der Kopftuchzwang fällt, wird das Regime fallen."
Maani erinnert daran, dass im Iran 1905 eine liberale Revolution stattfand: Diese "konstitutionelle Revolution" habe eine relativ säkulare, liberale Verfassung nach belgischem Vorbild durchgesetzt, die - zumindest pro forma - bis 1979 Geltung hatte, so Maani.
Islamische "Konterrevolution" von 1979
Mit der Revolution von 1979, die zur Gründung der "islamischen Republik" führte, setzten sich dann Kräfte durch, für die der Grundsatz der Gleichheit aller Menschen mit ihrem Verständnis des Islams unvereinbar sei, sagt Maani. Unterschiede zwischen Männern und Frauen, Muslimen und Andersgläubigen wurden religiös begründet und so vertieft.
Gegen diese "Konterrevolution" formierte sich seither regelmäßig Widerstand, so Maani - zuletzt 2009 und in den Jahren 2017 und 2019, als Proteste blutig niedergeschlagen wurden.
Bei den Warnungen der gegenwärtigen Machthaber, das Land drohe zu "zerfallen" und im Bürgerkrieg zu versinken, wenn sie es nicht weiterhin zusammenhielten, handle es sich um nichts als "Gräuelpropaganda", sagt Maani. Tatsächlich erlebe er die jetzigen Proteste als starkes Symbol der Einigkeit im Vielvölkerstaat Iran.
Solidarität im Vielvölkerstaat
Maani macht darauf aufmerksam, dass das Motto der Protesbewegung "Frau - Leben - Freiheit" seinen Ursprung im irakischen Kurdistan habe. Im ganzen Iran werde dieser Ruf inzwischen wiederholt, teilweise auch in kurdischer Sprache - aus Maanis Sicht ein deutliches Zeichen dafür, "dass es eine Solidarität zwischen den Ethnien gibt".
Ganz entscheidend für die Entwicklung des Landes werde der künftige Einfluss der Religion sein, so Maani. Umfragen aus jüngster Zeit hätten gezeigt, dass diejenigen, die sich eindeutig zum muslimischen Glauben bekennen und dem Islam auch eine entscheidende Rolle für ihre Identität und Lebensführung zuschreiben, in der Bevölkerung Irans inzwischen eine Minderheit darstellen.
Ein Regime auf wackligen Füßen
70 Prozent der Bevölkerung rechnen sich demnach nicht dem schiitischen Islam zu, 60 Prozent betrachten sich überhaupt nicht als Muslime. Zahlen, die unsere Grundannahmen über Menschen in islamisch geprägten Gesellschaften auf den Kopf stellen, sagt Maani: Sie machten deutlich, "auf welch wackligen Füßen das Regime steht".
Obwohl es zudem "erdrückende Hinweise" darauf gebe, "dass die überwiegende Mehrheit - 80, 90 Prozent der Menschen, gegen das Regime sind", sitze die iranische Regierung bislang fest im Sattel, so Maani. Schließlich verfüge sie noch über eine ausreichend große Minderheit von Anhängern, "die fanatisch sind, die bereit sind, für dieses Regime zu töten aber auch zu sterben".
Diese Unterstützer seien "organisiert und bis an die Zähne bewaffnet". Manche im Land hoffen deshalb darauf, dass Teile der Armee sich auf die Seite der Bevölkerung schlagen, sagt Maani. Teile der Erdölarbeiter, einer Schlüsselindustrie, seien bereits in den Streik getreten. Aber welcher Erfolg der "Beinahe-Revolution" der iranischen Frauen und der Männer, die sich ihrem Protest anschließen, beschieden ist, bleibt ungewiss.