Proteste im Iran

Nicht alle Mullahs unterstützen das Regime

12:29 Minuten
Mohsen Kadivar sitzt mit anderen Männern zusammen.
Auf Reformkurs: Mohsen Kadivar ist einer der profiliertesten geistlichen Kritiker des iranischen Systems. © picture alliance / dpa / Abedin Taherkenareh
Armin Eschraghi im Gespräch mit Julia Ley · 11.12.2022
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Medial wirkt es oft so, als gäbe es im Iran nur zwei Lager: die regierende schiitische Geistlichkeit und das Volk, das sich gegen sie wehrt. Doch es gibt auch Kleriker, die das Regime scharf kritisieren, sagt der Islamwissenschaftler Armin Eschraghi.
Julia Ley: Seit Mitte September gehen im Iran Tausende Menschen, vor allem Frauen, auf die Straße. Sie nehmen öffentlich das Kopftuch ab und protestieren gegen die religiöse Bevormundung durch den Staat.
Über diese Proteste und die Rolle der schiitischen Geistlichen dabei kann ich jetzt mit Armin Eschraghi sprechen. Er lehrt Islamwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und forscht dort zu zeitgenössischen religiösen Entwicklungen im Iran.

Regimekritik von Religionsgelehrten

Herr Eschraghi, in Deutschland nimmt man das ja oft so wahr: Die Mullahs – also die schiitischen Geistlichen – stehen auf der einen Seite, nämlich auf der des Staates, des Systems. Und die Laien, die normalen Menschen sozusagen, stehen auf der anderen Seite. Stimmt das? Oder gibt es auch Geistliche, die im Iran gerade Widerstand leisten?
Armin Eschraghi: Tatsächlich ist es wie so oft: Wenn man ein bisschen genauer hinschaut, dann differenziert sich das sehr aus. Und ja, man wundert sich dann, wenn man schaut und feststellt, dass tatsächlich ein großer Teil der Kritik auch gerade von Klerikern kommt – also wirklich von ausgebildeten Religionsgelehrten mit Turban und Bart, die sich gegen das Regime aussprechen, die sich entweder gegen Verstöße gegen die Menschenrechte, also gegen einzelne Maßnahmen des Regimes, aussprechen oder sogar die religiöse Legitimation der Islamischen Republik insgesamt in Frage stellen.
Armin Eschraghi trägt ein offenes kariertes Hemd und lächelt in die Kamera.
Kritik an der iranischen Regierung kommt auch aus den Reihen schiitischer Geistlicher, betont der Islamwissenschaftler Armin Eschraghi© privat
Ley: Sie haben es schon gesagt: Ein großer Teil der Kritik kommt von Geistlichen. Aber kann man denn eigentlich sagen, wie viele Geistliche das in etwa sind? Also, ist das eine kleine Minderheit der Gelehrsamkeit oder vielleicht sogar eine Mehrheit?
Eschraghi: Wirkliche Statistiken dazu sind mir nicht bekannt, insofern ist es tatsächlich schwer, von Mehrheiten und Minderheiten zu sprechen. Aber was Fakt ist, ist, dass die Idee einer islamischen Republik – man bezeichnet sie oft ein bisschen verkürzt als „Gottesstaat“ oder eine Theokratie – dass die eine Abkehr ist von Jahrhunderten der zwölferschiitischen Theologie.

"Gottesstaat" unter Legitimationsdruck

Dieser Zweig der Zwölfer-Schia, dem im Iran zumindest formal die Mehrheit der Bevölkerung angehören, der ist eigentlich von Haus aus eher quietistisch aufgestellt. Das heißt, man erwartet eine Herrschaft erst als Ereignis am Ende der Zeit. Nämlich dann, wenn der Heilsbringer, der Mahdi –das Pendant zum Messias – wenn der kommt, dann wird er einen solchen Staat errichten.
Und davor betrachten sie das weder als Pflicht noch als irgendwie erwünscht, einen solchen Staat zu haben, einen Gottesstaat. Insofern ja, das sind fundamentale Probleme der Legitimation, mit denen sich diese Islamische Republik von Beginn an auseinandersetzt – unabhängig davon jetzt, wie viele der Tausenden von Klerikern jetzt tatsächlich gegen diese Staatsform sind.
Das ist schwer zu sagen, weil die ja auch nicht einheitlich aufgestellt sind, sondern es gibt auch Hierarchien und unterschiedliche Schulen, Denkschulen, Strömungen innerhalb der Geistlichkeit, sodass es letztlich schwer ist, das ganz konkret zu beziffern.

Nutznießer des Systems

Ley: Was bringt die kritischen Geistlichen eigentlich dazu, sich jetzt gegen das Regime aufzulehnen? Man würde ja erstmal denken, das Regime basiert ja auf dieser Kaste der Geistlichen. Die profitieren doch davon?
Eschraghi: Ja, und der Verdacht steht auch im Raum, dass deswegen sehr viele sich zumindest nicht kritisch äußern, weil sie letztlich Nutznießer dieses Systems sind.
Wenn wir jetzt nach den Gründen fragen, warum könnte man trotzdem dagegen sein, dann gibt es eben zum Beispiel die Ansicht, dass diese Gängelung der Menschen, also dieser Zwang, der ja vom Regime ausgeübt wird, sich an die Regeln der Religion zu halten – keinen Alkohol zu trinken, eine bestimmte Kleiderordnung zu befolgen, zu bestimmten Zeiten zu fasten –, dass dieser Zwang die Menschen eigentlich sogar eher von der Religion wegbringt.

Zwang entfremdet die Menschen vom Glauben

Das ist eines der Hauptargumente, das wir hören seitens der kritischen Geistlichen: Der religiöse Zwang, der religiöse Totalitarismus hat die Menschen dem wahren Glauben entfremdet. Und es wird da wirklich offen gesprochen davon, dass die iranische Gesellschaft sich zu einem großen Teil vom Islam abgewandt habe. Und dafür machen dann diese kritischen Geistlichen eben das politische System verantwortlich.

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Ley: Wie nehmen das die Demonstranten denn jetzt wahr, wenn sich da kritische Geistliche auch öffentlich gegen das Regime positionieren? Ist das aus deren Wahrnehmung überzeugend?
Eschraghi: Mein Eindruck und der Eindruck, glaube ich, auch vieler anderer ist, dass es für die Demonstranten inzwischen keine Rolle mehr spielt, wie sich die Geistlichkeit oder bestimmte Geistliche zu ihren Protesten oder überhaupt zu Fragen des Alltags äußern. Die Geistlichkeit spielt im Alltag der jungen Generation keine Rolle mehr.
Für viele spielt die Religion insgesamt keine Rolle mehr, und insofern ja verhallen sowohl Befürworter des Regimes als auch Kritiker des Regimes letztlich weitgehend ungehört. Die Zeiten, in denen man als religiöser Prediger mit religiösen Slogans noch Massen bewegt hat im Iran, die gehören der Vergangenheit an.

Säkulare Forderungen

Ley: Das heißt auch: Die Menschen, die da jetzt auf die Straße gehen, die versuchen gar nicht mehr, ihre Forderungen oder Positionen religiös zu legitimieren?
Eschraghi: So ist es. Wir haben bei den Protesten 2009/2010 immer noch erlebt, dass Menschen auf Slogans von der Revolution 1979 zurückgriffen. Markantestes Beispiel: Dass sie "Allahu Akbar" – "Gott ist größer" oder "Gott ist der Größte" – gerufen haben. Inzwischen sehen wir das gar nicht mehr.
Es gibt keine Slogans, die gerufen werden, die irgendwie eine religiöse Verankerung erkennen lassen, die religiöse Bilder benutzen würden, die versuchen, religiöse Gefühle noch anzusprechen, sondern das scheinen gänzlich säkulare Forderungen zu sein.

Von Anfang an gab es kritische Geistliche

Ley: Sie haben ja vorhin schon erwähnt, dass diese kritische Tradition innerhalb der Geistlichkeit eigentlich auch gar nicht so neu ist. Denn es gab schon einige Jahre nach der islamischen Revolution kritische Geistliche, die sich von ihr abgewendet haben, selbst wenn sie sie vielleicht am Anfang noch unterstützt haben. Und einige argumentieren dann auch geradezu radikal progressiv, also jetzt mal im Kontext des Irans gesprochen, zum Beispiel für universelle Menschenrechte. Können Sie da vielleicht mal ein Beispiel geben: Wie argumentieren sie das denn dann aus der islamischen Tradition heraus?
Eschraghi: Ja, man muss vielleicht noch dazusagen, dass die die Kritik der Geistlichkeit sogar schon vor der Revolution begonnen hat. Also, nicht alle waren der Meinung, dass dieses System überhaupt installiert werden sollte. Und der Gründer der Islamischen Republik, Ajatollah Khomeini, hatte damals auch beileibe nicht die gesamte Geistlichkeit und alle hochrangigen Geistlichen auf seiner Seite.
Aber jetzt in den letzten etwa 25 Jahren, also seit etwa Mitte, Ende der 1990er-Jahre hat sich ja regelrecht eine Reformschule – oder mehrere Reformschulen – herausgebildet. Einer der Gründungsväter kann man sagen, eine Galionsfigur, war Hossein Ali Montazeri, ein sehr hochrangiger Rechtsgelehrter, der auch politisch sehr einflussreich war zu Beginn. Er ist ein enger Weggefährte von Khomeini gewesen und hätte sein Nachfolger werden sollen, hat sich aber letztlich dann, insbesondere wegen seiner vehementen öffentlichen Kritik an Menschenrechtsverletzungen, gegen das Regime gestellt und wurde dann unter Hausarrest gestellt und isoliert.

Die Quellen des Glaubens neu lesen

Und in seiner Tradition dann gibt es eine Generation von Gelehrten, Mohsen Kadivar zum Beispiel. Die haben sich der Frage gestellt: Wie ist das Verhältnis von Religion und Politik einerseits und wie ist das Verhältnis von Religion und Menschenrechten andererseits? Also welche Antwort können wir auf die Herausforderungen der Moderne geben und gleichzeitig das mit dem Glauben in Einklang bringen? Das ist, glaube ich, die Ausgangsfrage, der man da nachgegangen ist.
Und vielleicht das Zweite, wovon man ausgeht, ist, dass man sagt: Der politische Islam, die Theokratie, das löst diese Probleme nicht. Darunter leidet sowohl der Staat und das Volk, also die säkularen Belange, als auch die Religion nimmt dann Schaden. Also sie sagen: Das muss auf jeden Fall getrennt werden. Die Sphäre des Religiösen und des Politischen muss auf jeden Fall voneinander getrennt werden.
Hossein Ali Montazeri, mit glatt rasiertem Kopf und weißem Bart, schaut ernst zur Seite.
Der schiitische Geistliche Hossein Ali Montazeri (1922 - 2009) war designierter Nachfolger von Revolutionsführer Khomeini, bis er wegen öffentlicher Kritik an der iranischen Regierung in Ungnade fiel.© picture alliance / AP / Hasan Sarbakhshian
Ja, aber wie kommt man jetzt dazu zum Beispiel universale Menschenrechte mit dem Glauben in Einklang zu bringen? Indem man tatsächlich die Quellen des Glaubens ganz neu liest und indem man sie historisch-kritisch liest. Also indem man sagt, wenn etwas vor 1400 Jahren zur Zeit des Propheten so gehandhabt wurde, muss das nicht auch 1400 Jahre später genau so gehandhabt werden.
Ein ganz zentraler Begriff ist die Gerechtigkeit. Dann sagt man zum Beispiel, Gerechtigkeit wurde vielleicht in Saudi-Arabien vor über tausend Jahren auf eine bestimmte Art genüge getan. Aber heute, in dieser Zeit und einem anderen Ort auf der Erde, müssen wir andere Wege finden.

Härte des Regimes gegen Kritiker

Ley: Also, man legt sozusagen den Fokus vielleicht mehr auf die Werte und die Normen im Koran als auf die konkreten Handlungsanweisungen und Rechtsvorschriften. Was mich noch interessieren würde: Wie reagiert denn die Regierung jetzt heute auf diesen inner-klerikalen Protest?
Eschraghi: Also jetzt zum Beispiel jüngst im November hat sich der Staatspräsident Raisi enttäuscht geäußert, öffentlich beklagt, dass sich so wenige Religionsgelehrte für das Regime aussprechen und hinter das System stellen. Er unterstellt ihnen, dass sie wohl Angst hätten vor Kampagnen in den sozialen Medien. Auch der oberste Führer Chamenei ist dem Vernehmen nach recht unzufrieden mit dem Ausmaß der Unterstützung.
In der Vergangenheit ist man seitens des Regimes nicht davor zurückgeschreckt, selbst hochrangige Geistliche unter Hausarrest zu stellen und auch Gewalt gegen sie anzuwenden. Das haben wir am Beispiel von Montazeri gesehen, einst zweiter Mann im Staat, dann in Ungnade gefallen und bis an sein Lebensende unter Hausarrest gestellt.
Das Regime kennt also da letztlich keine Grenzen. Wenn es darum geht, Kritiker zu beseitigen, dann spielt es keine Rolle, ob die aus dem Lager der Mullahs sind oder aus irgendeinem anderen Lager.

Auf dem Weg zu einem säkularen Iran

Ley: Das macht jetzt natürlich nicht gerade Hoffnung. Dennoch würde ich zum Abschluss gerne noch mal einen Blick in die Zukunft richten. Sie sind natürlich kein Hellseher aber was glauben Sie denn, wohin der Iran sich entwickeln könnte, wenn die Proteste doch Erfolg haben am Ende? Wird Religion in einem zukünftigen Staat noch eine Rolle spielen oder wird das eher ein völlig säkularer Staat werden?
Eschraghi: Nach allem, was sich jetzt erkennen lässt, sind die Proteste sehr breit gestreut. Sie sind auf Einheit ausgerichtet. Sie sind von keiner bestimmten Ideologie getrieben und, soweit man das jetzt sagen kann, deutet alles darauf hin, dass wir auf einen säkularen Iran zusteuern, auf ein freiheitliches System, auf ein demokratisches System, in dem Religion politisch – also im Sinne einer Herrschaftsideologie – keine Rolle mehr spielen wird, in dem die Religion aber frei sein wird.
Also, wir steuern sicher nicht auf ein antiislamisches System zu, bei dem dann Moscheen geschlossen und Kopftücher verboten werden. Aber die Religion wird auf jeden Fall aus der Politik deutlich zurückgedrängt werden. Das ist zumindest die Ansicht vieler Beobachter.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Literatur zum Thema

Mohsen Kadivar: "Gottes Recht und Menschenrechte. Eine Kritik am historischen Islam"
Übersetzt und mit einer Einleitung von Armin Eschraghi
Herder Verlag, Freiburg 2017
192 Seiten, 19 Euro

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