Proteste im Iran

Es geht nicht darum, eine Kopie des Westens zu werden

Iranische Demonstranten setzen ihre Schals in Brand, während sie am 1. Oktober 2022 in Teheran eine Straße entlang marschieren. Das Bild wurde mit einer Handykamera aufgenommen.
Protest in Teheran, aufgenommen mit einer Handykamera: Der westliche Blick konzentriert sich auf Aspekte, die man zu verstehen glaubt, kritisiert Jasamin Ulfat-Seddiqzai. © Getty Images / Contributor
Ein Kommentar von Jasamin Ulfat-Seddiqzai |
Sie verbrennen Kopftücher, tanzen mit offenen Haaren auf der Straße: Die Bilder der Proteste im Iran wirken auf viele, als kämpften junge Frauen für die Freiheit, so zu leben wie wir im Westen. Doch das greift zu kurz, meint Jasamin Ulfat-Seddiqzai. 
Seit Jahrzehnten wird das iranische Regime im Westen als Unrechtsstaat eingeschätzt, deswegen verwundert es, dass die Reaktionen auf die aktuellen Proteste so mager ausfallen. Natürlich betrauert man den Tod von Jina* Amini, bewundert den Mut der jungen Protestierenden, verurteilt die Gewalt der Revolutionsgarden.
Doch jetzt, wo die Proteste einen nachweislichen Effekt auf das Regime haben, schielt die Welt nur noch mit einem Auge hin. Im Iran geht es nicht mehr darum, ein paar Freiheiten zu erkämpfen, es geht um die Systemfrage.
Doch Umsturz bedeutet Unruhe, fast scheint es, als käme das Timing der iranischen Freiheitsbewegung für die westliche Welt gerade ungelegen.

Oberflächliche Betrachtung mit westlichem Blick

Also konzentriert man sich auf Aspekte, die man zu verstehen glaubt: Frauen, die ihre Kopftücher verbrennen und ihre neue Freiheit tanzend feiern. In einem Instagram-Talk erklärte Außenministerin Baerbock „Das könnten wir sein!“, stellt damit eine Nähe zu den iranischen Frauen her, die auch über Äußerlichkeiten funktioniert.
Es impliziert, dass dort moderne Frauen für ihre Freiheit kämpfen, weil sie so leben wollen wie wir im Westen. Aber stimmt das wirklich?
Tatsächlich ist der Kampf der iranischen Frauen kein simpler Protest für mehr westliches Leben. So legen sie nicht nur das Kopftuch ab, sie schneiden sich auch die Haare und setzen damit ein Zeichen nicht nur gegen das islamische, sondern gegen alle Formen des Patriarchats, auch das westliche.
Im Kampf gegen das Regime schließen sich verschiedene Gruppen und Schichten der iranischen Gesellschaft zusammen. Männer verteidigen Frauen, die von der Sittenpolizei bedrängt werden. Streikende Öl-Arbeiter scheinen sich mit den Protestierenden zu solidarisieren. Ethnische Minderheiten führen den Kampf gegen das Regime an.

Vielschichtigkeit erschwert Darstellung des Konflikts

Das alles muss noch lange nicht zum Erfolg führen. Aber es zeigt die Vielschichtigkeit dieses Protests, der nicht in einfache westliche Erklärungsmuster passen mag. Junge iranische Menschen wollen ihr Land nach ihren eigenen Vorstellungen und mithilfe ihrer eigenen Kultur gestalten. Es geht nicht darum, eine billige Kopie des Westens zu werden.
Gerade diese Vielschichtigkeit macht die Darstellung des Konflikts in westlichen Medien und Denkstrukturen schwierig. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum die Proteste – obwohl sie für Freiheit kämpfen – im freiheitsliebenden Westen so stiefmütterlich behandelt werden.
Geht es hier gegen das Kopftuch, ist der Protest vielleicht sogar anti-islamisch? Einige rechte Aktivisten versuchen, die Bilder brennender Kopftücher zu missbrauchen, um in Europa gegen Einwanderung zu hetzen. Oder hat der Protest überhaupt nichts mit dem Islam zu tun? Das wiederum behaupten einige linke Aktivisten.

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Beide Darstellungen sind falsch. Die Jugend in islamisch-geprägten Kulturen hat verstanden, dass ein Ausspielen von eher säkularen und eher religiös geprägten Gruppen am Ende nur hilft, die alten Herrschaftsstrukturen zu erhalten.
Derzeit setzen sich junge Migrantinnen, die im Westen selbst das Kopftuch tragen, dafür ein, dass die Frauen im Iran es abnehmen können. So wie säkulare Migrantinnen ohne Kopftuch sich dafür eingesetzt haben, dass man es im Westen tragen darf. Der gemeinsame Nenner ist, dass Frauen selbst über ihre Bekleidung, ihr Leben entscheiden sollen.

Den Protest selbst erzählen und einordnen

Egal, ob es um Rassismus, Diskriminierung oder alte Machtstrukturen geht: Immer mehr Migrant:innen in Europa und den USA haben verstanden, dass sie sich nicht nach westlichen Narrativen in vermeintlich gut oder schlecht integrierte Migranten auseinanderdefinieren lassen dürfen. Dass sie ihren Protest selbst erzählen und einordnen müssen, damit die Nuancen nicht untergehen.
Wer sich gegen rechtsextreme Narrative wehrt, ist nicht automatisch für ein Mullah-Regime. Und wer sich gegen das Mullah-Regime wehrt, ist nicht automatisch anti-muslimisch. Die Jugend aus islamisch geprägten Kulturen findet gerade ihre Stimme, und die klingt nicht so, wie man sie sich im Westen lange Zeit vorgestellt hat.

*Anmerkung der Redaktion: Der hier verwendete kurdische Name wurde von den staatlichen Behörden nicht anerkannt, stattdessen erhielt Jina den Namen Mahsa.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai lehrt und forscht an der Universität Duisburg-Essen zu britischer Literatur im 19. Jahrhundert. Ihre Schwerpunkte sind Orientalismus, Stereotypenbildung und Männlichkeitsbilder, insbesondere im Kontext der Anglo-Afghanischen Kriege, über die sie derzeit ihre Dissertation schreibt. Ihre journalistischen Texte behandeln Xenophobie, Frauen im Islam und erschienen in der „taz“ und der „Rheinischen Post“.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai posiert für ein Pressebild.
© privat
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