Proteste

Ukraine ist nicht nur Kiew

Proteste in Kiew.
Nicht einer Meinung: die ukrainische Gesellschaft ist voller Widersprüche. © picture alliance / dpa
Moderation: Ute Welty |
"Janukowitsch ist ganz klar ein Repräsentant des Ostens", sagt der Dokumentarfilmmacher Jakob Preuss. Er sieht in dem Land viele politische Strömungen, die Kiew nicht repräsentiert.
Ute Welty: Wer Ukraine sagt, meint eigentlich Kiew. Unser Blick scheint sehr fokussiert auf die Vorgänge in der Hauptstadt. Auf Proteste bei Schnee und Eis auf Plätzen, auf Gespräche an runden Tischen, auf die Spiele zwischen Bande in Brüssel und Berlin. Aber wie tickt die Ukraine wirklich zwischen Bindung an Russland und der Annäherung an die EU? Jakob Preuss kann da Auskunft geben, Dokumentarfilmer und Ukraine-Kenner – guten Morgen!
Jakob Preuss: Schönen guten Morgen!
Welty: In Ihrem bekanntesten und vielleicht wichtigsten Film geht es um Bergbau, Fußball und Oligarchentum – sind das die drei Elemente, die die ukrainische Gesellschaft ausmachen?
Preuss: Nein, das kann man, glaube ich, auch nicht so sagen. Das ist wirklich das, was den Osten ausmacht. Da muss man schon sagen, das ist schon sehr anders, in Donezk zu sein und in Lemberg. Da sind ganz andere Einflüsse. Sowohl die Wirtschaft, wie gesagt, im Osten ist es der Bergbau, Kohle, Stahl, im Westen ist es die Landwirtschaft. Wenn man an der Grenze mit Polen ist, übrigens da noch viel ärmer im Westen, jedenfalls im ländlichen Gebiet, als im Osten, wo wenigstens etwas Industrie ist. Der Fußball ist überall. Aber auch da muss man sagen, dass natürlich mit der Mannschaft Schachtar Donezk und Dnjpr Dnjpropetrowsk das eher die großen Städte im Osten sind, die diese wichtigen Fußballvereine haben, auch da wieder, weil da mehr Geld ist, um diese Vereine hochzupäppeln.
Welty: Und wie kommt das alles in Kiew an?
Preuss: Kiew ist halt wirklich die Mitte, sowohl geografisch als auch dann halt sozusagen kulturell. Da sind natürlich die Leute aus der Regierung, die ja sehr viel jetzt aus den großen Städten im Osten kommen, da sind natürlich auch viele Menschen aus dem Westen hingegangen. Da geht natürlich auch jeder hin, dem vielleicht seine Heimatstadt zu klein geworden ist. Kiew ist relativ offen, ist relativ international, ist auch in diesem Sprachenkonflikt, den es ja durchaus gibt, also vielleicht auch gar kein Konflikt, aber es ist nun so in der Tat, dass man in Donezk fast nur russisch hört und in Lemberg sehr viel ukrainisch.
Das ist in Kiew wirklich gemischt, und Kiew ist auch wirklich die intellektuelle Stadt. Deswegen zentriert sich da alles. Kiew ist auch die Stadt, wo wirklich die meisten Leute am offensten sind und eigentlich auch dazu bereit sind, diese Teilung zu überwinden. Das ist leider wirklich in Donezk und Lemberg oft so, dass man doch sehr einseitige, oft auch radikale Stimmen hört.
Das Abkommen bringt nicht viel
Welty: Wo in diesem Dreieck der geografischen und kulturellen Art würden Sie Präsident Janukowitsch verorten und seine Politik?
Preuss: Janukowitsch ist ganz klar ein Repräsentant des Ostens. Er kommt ja auch selber aus Donezk, aus dem Donezka Oblast. Das ist ja wirklich schon auffällig, wie viele der wichtigen Politiker auch aus dieser Ecke kommen. Der reichste Mann der Ukraine, Rinat Achmetow, der ja auch eine Rolle in meinem Film spielt, kommt da auch her. Er ist da also wirklich ganz klar zu verorten. Das geht ja so weit, wenn dann so jemand nach Lemberg fährt, dann wird ihm nicht ein besonders schöner Empfang gemacht. Das muss man einfach anerkennen, es wird ja jetzt öfter mal gesagt, dass diese Teilung gar nicht so richtig existiert, das ist schon falsch. Man muss die sehr ernst nehmen, die ist auch geschichtlich gewachsen.
Es gibt große Unterschiede. Was falsch ist, ist jetzt zu sagen, die einen sind nur prorussisch im geostrategischen Sinn, die anderen sind nur prowestlich. Natürlich darf man auf keinen Fall sagen, die einen sind die Guten oder die anderen sind die Bösen, das wäre wirklich durch eine völlig falsche Brille gesehen.
Welty: Ist aber eher ein europäischer Reflex.
Preuss: Das ist leider ein europäischer Reflex. Ich glaube, das liegt daran, dass wir, das ist wirklich fast noch ein bisschen Kalter-Krieg-Rhetorik, dass man sich da auch gar nicht drauf einlassen will. Ich habe auch heute, also in den letzten Wochen noch mit Freunden in Donezk gesprochen, die halt auch wirklich sagen, na ja, ob das jetzt so sinnvoll ist für uns, dieses Abkommen mit der EU zu unterschreiben, da sind wir nicht sicher. Also, viele Leute haben dieses Abkommen nicht gelesen, sie wissen nicht genau, was da drin steht. Sie glauben auch nicht daran, dass es für sie persönlich eine Verbesserung bedeutet, sondern eher für die Oligarchen, was wahrscheinlich auch stimmt.
Die Leute, die wirtschaftliche Macht haben, um von so was überhaupt zu profitieren. Aber insgesamt sagen sie, unsere Wirtschaft ist noch gar nicht so weit, wir sind näher an Russland, wir sind von der Entwicklung viel näher an Russland. Wir sind abhängig von Russland, ob man das nun will oder nicht, weil das muss man auch im Osten sagen, es gibt schon sehr viele Leute, die wollen eine unabhängige Ukraine, die wollen jetzt nicht sozusagen geschluckt werden von Russland, aber die sagen, es ist wahrscheinlich einfach sinnvoller, es bringt uns nicht viel, dieses Abkommen zu machen, und das ist jetzt gar nicht was Antieuropäisches, sondern mehr ein rationaler Gedankengang.
Und deswegen muss man da erst mal innehalten und sagen, nicht jeder, der sich jetzt vielleicht wünscht, dieses Abkommen nicht unbedingt sofort zu unterzeichnen, ist ein Gegner europäischer Werte. Und auf der anderen Seite muss man auch sehen, das ist ja jetzt auch bei uns in den Medien öfter gesagt worden, im Westen gibt es Kräfte, die will man wirklich nicht als europäisch bezeichnen. Da gibt es ganz starke rechtsradikale Kräfte, die auch diesen Konflikt versuchen, in so einer Wiederholung des Zweiten Weltkrieges zu machen, wo in der Westukraine Nationalisten mit deutschen Truppen also gegen die Sowjettruppen gekämpft haben. Das ist ja leider bis heute ein Problem. Als Lenin da jetzt in Kiew gestürzt wurde, gab es dann Vorschläge, da Bandere hinzustellen, ein Nationalist im Zweiten Weltkrieg, der halt mit den Deutschen gekämpft hat.
Und da gibt es Kräfte im Westen, wo man ganz deutlich sagen muss, das hat nichts mit Europa zu tun. Deswegen bin ich auch froh, dass gestern die sich also an einen Tisch gesetzt haben, denn insgesamt ist die Regierung meiner Ansicht nach korrupt und teilweise auch kriminell, aber auch die Opposition hat keinen wirklichen Plan. Und deswegen ist in dieser Situation wahrscheinlich wirklich das Beste, man setzt sich hin und schaut, wie man aus dieser Situation wieder heraus kommt.
"Es gibt viele Kräfte im Land, die müssen alle gehört werden"
Welty: Wobei da ja nicht so richtig viel bei rumgekommen ist.
Preuss: Nein. Da ist wohl an diesem ersten Abend nicht viel bei rumgekommen, aber ich glaube trotzdem, dass man das schon mal als einen ersten Schritt sehen muss. Es ist ja auch interessant, wie die Oligarchen dazu stehen. Rinat Achmetow hat also gestern sogar selbst auf seiner Webseite – kann man übrigens auch auf Deutsch nachlesen, in drei Sprachen – ein persönliches Statement zu der Situation im Land gegeben. Das ist relativ untypisch.
Die Oligarchen halten sich ja dann doch oft sehr zurück, was so ganz konkrete politische Meinungsäußerungen angeht. Und die haben deutlich gesagt: auf keinen Fall Gewalt. Die Ukraine hat europäische Werte, wir müssen gute Verhältnisse zur EU und aber auch zu Russland haben. Aber vor allem unterstrichen: keine Gewalt. Es gibt viele Kräfte im Land, die müssen alle gehört werden. Wir müssen uns zusammensetzen, sowohl der Präsident als auch die Opposition müssen sich dazu bereit erklären. Und dann passierte das auch. Ich will jetzt nicht sagen, dass er da bestimmen konnte, das ist sicherlich – auch wollte er auch auf diesen Zug aufspringen. Aber das zeigt, und das finde ich jetzt auch erst mal eine beruhigende Nachricht, dass die großen Player, die da jetzt sind, wohl alle gesehen haben, das wird nicht mit Gewalt zu regeln sein.
Welty: Der Dokumentarfilmer und Ukrainekenner Jakob Preuss im Deutschlandradio Kultur. Ich danke sehr für dieses Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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