Protesthymne in Belarus

Mit drei Schildkröten gegen die Staatsgewalt

05:54 Minuten
Der Gitarrist Pit Pawlow der belarussischen Band "N.R.M." steht mit einer Gitarre vor einer Polizeibarrikade.
Auch Pit Pawlow ist ganz vorne mit dabei, wenn es um Protest gegen Polizeigewalt geht. Von seiner Band "N.R.M." stammt das Lied der Stunde. © imago images / ITAR-TASS / Natalia Fedosenko
Von Sabine Adler |
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Seit August gehen die Menschen in Belarus auf die Straße. Sie demonstrieren gegen Wahlfälschung und Polizeigewalt. Dabei singen sie vor allem das Lied der drei Schildkröten: "Tri Tscherepachy". Die selbstironische Hymne macht den Menschen Mut.
Kurz vor Ihrer Verhaftung sangen der Präsidentschaftskandidat Viktor Babariko, sein Sohn Eduard und Maria Kolesnikowa, die Babarikos Wahlkampf leitete, noch vergnügt dieses Lied, das schon seit Jahren der Song der Opposition ist: "Drei Schildkröten" Eine Woche nach der gefälschten Wahlauszählung erklang auf den Demonstrationen der Ruf "Geh" in Richtung Alexander Lukaschenko, der den Wahlsieg an sich gerissen hatte. Und wieder wurde der Song "Tri Tscherepachy", "Drei Schildkröten", angestimmt.
Pawel Latuschko, der ehemalige Kulturminister, der die Regierung aus Protest verlassen hat, stand in der Menge und rief und sang mit: "Leute aus der Kulturszene waren die Pioniere der Protestbewegung gegen die Gewalt des Staates. Es waren die Theater, zuerst das Janka-Kupala-Theater, dann das Grodno-Theater, das Magilowskij-Theater, Musiker, Komponisten, Schriftsteller. Die Künstler, zum Beispiel die Schauspieler, sind entlassen worden, als sie die Gewalt kritisierten."

Auch der "Volnij-Chor" spendet Kraft

Studentinnen und Studenten versammelten sich im Treppenhaus der Belarussischen staatlichen Universität für Informatik und Radioelektronik, auch sie sangen die "Tri Tscherepachy". Wie das Lied von den "Drei Schildkröten" ist auch der "Volnij Chor", der Wellenchor, ein Phänomen dieser Proteste. Ganz überraschend taucht er mal in der Metro, mal im Einkaufszentrum auf. Das Ensemble trägt immer Maske, denn die Sängerinnen und Sänger wollen nicht erkannt und natürlich nicht festgenommen werden.
"Die Musiker treten in den Höfen und Hinterhöfen auf, wo sich die Leute zusammenfinden. Dafür sind schon Hunderte ins Gefängnis geworfen worden", sagt der Ex-Kulturminister Latuschko, der auch Botschafter in Frankreich und Spanien war.
Heute gehört er zum Koordinierungsrat und Antikrisenstab der Opposition, die sich in Warschau auf die Regierungsübernahme vorbereitet. Zum Zeitpunkt der Präsidentschaftswahl leitete er das älteste Theater in Belarus, das Janka-Kupala-Theater in Minsk.

Friedlicher Protest wurde blutig niedergeschlagen

"Als Kulturminister wollte ich zweimal zurücktreten – wegen der Zensur und der Repressionen. Das wurde abgelehnt. Ich gebe zu, ich bin nicht bis zum Äußersten gegangen. Als die Proteste begannen, kamen eines sehr frühen Morgens die ersten Leute aus den Gefängnissen und zeigten ihre Verletzungen, wie man ihnen mit Knüppeln ins Kreuz geschlagen und die Knochen gebrochen hat. Als Männer und Frauen von Vergewaltigungsversuchen mit Polizeiknüppeln berichteten, war es bei mir so weit. Das haben Leute erlebt, die absolut friedlich protestiert hatten", sagt Latuschko.
Gegen die Polizeigewalt trat der "N.R.M."-Gitarrist Pit Pawlow an. Singend schritt er auf eine festgeschlossene Reihe von Sicherheitskräften mit Helmen und Schutzschilden zu – ein Bild von ikonischer Bedeutung: der Musiker mit Gitarre vor einer Übermacht der Polizisten. Auch er sang von den "Drei Schildkröten".

Der Song ist eigentlich unpolitisch

Schon nach den Wahlen 2011 wurde der Song bei Protestkundgebungen angestimmt. Er stammt von Lavon Wolskij, dem Bandleader von "N.R.M.", die in den 1990er-Jahren die populärste Band überhaupt in Belarus war. Es war ihr größter Hit. Wolskij schrieb Text und Musik, verließ zwischenzeitlich die Gruppe, die aber zu den Protesten in diesem Sommer wieder zusammenfand.
Jetzt gelten die "Drei Schildkröten" auf jeden Fall als Volkslied, für viele auch als Hymne. Die "Tri Tschepachy" sind ein Muss bei den Hoffesten in Minsk, wo sich die Menschen versammeln und in kleinen Gruppen zu Demonstrationen starten, die seit August ununterbrochen stattfinden.
Das Lied hat wie der Volnij Chor, der Wellenchor, eigentlich keine politische Aussage. Die "Drei Schildkröten" sind selbstironisch. Auf Belarussisch wird erzählt, dass die Welt auf den Panzern von drei Schildkröten ruht. Dieser Unsinn erinnert die Menschen an die Lügen Lukaschenkas.
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