Protestkultur

Bulgariens Studenten wachen früh auf

Von Stefan Monhardt |
Studenten haben über 20 bulgarische Universitäten besetzt und damit ein Forum kritischer Diskussion zurückerobert. Die "Aufgeweckten" wollen die untätigen Bürger im Land wachrütteln.
Es ist ein normaler Montagvormittag, doch die Tore zum Rektorat der Sofioter St.-Kliment-Ohridski-Universität sind verschlossen. Seit dem 25. Oktober wird die Hochschule von Studenten besetzt.
Vor den Gittern diskutieren Bürger angeregt, manche bringen sogar Lebensmittelpakete für die Besetzer mit. Zwei bulgarische Kamerateams werden von den Studenten abgewiesen. Sie wollen nicht mit denen sprechen, die für sie Organe der Desinformation und Parteipropaganda darstellen.
Am Zaun hängen Manifeste und Plakate. Besonders anschaulich zeigt das Bild einer Krake, wie Politik und Medien mit mafiösen Wirtschaftsstrukturen verquickt sind. Ein mächtiger Arm symbolisiert den dubiosen Unternehmer und Medienmogul Deljan Peewski, der von der neuen Regierung aus Sozialisten und sogenannter türkischer Minderheitenpartei vor einigen Monaten als Chef des Inlandsgeheimdienstes installiert werden sollte. Erst unter massivem Druck der Öffentlichkeit zog das Parlament die Ernennung zurück.
In einem Lokal gegenüber sitze ich mit dreien der Besetzer zusammen. Mina studiert Medienwissenschaft und arbeitet beim studentischen TV-Programm mit. Sie schildert, wie es nach einer Vorlesung von Dimitar Tokushev zum Eklat kam.
Der Juraprofessor ist zugleich Präsident des bulgarischen Verfassungsgerichts und mitverantwortlich für die problematische und denkbar knapp ausgefallene Entscheidung, dem bereits vereidigten, aber wieder abberufenen Peewski die Rückkehr ins Parlament zu ermöglichen, was die bulgarische Verfassung eigentlich ausschließt. Doch vor den Fragen seiner Studenten ergriff der höchste Richter lieber die Flucht, als sie zu beantworten.
Indem sie landesweit über 20 Universitäten besetzten, eroberten sich die jungen Leute öffentlich sichtbar ein letztes noch verbliebenes Forum kritischer Diskussion zurück. Sie fordern den Rücktritt der Regierung wie Tausende Bürger, die nun schon 160 Tage lang täglich demonstrieren. Aber sie wollen mehr. Sie nennen sich die "früh aufwachenden" Studenten.
Die Elite will nicht mehr auswandern
Und dieser Begriff hat in der Tradition Bulgariens eine besondere Bedeutung: Die früh Aufwachenden, die Aufgeweckten, das sind die, die die anderen, die Schläfer, wachrütteln. Es ist die Elite des Landes, die nicht länger auswandern möchte, um eine ökonomische, aber auch politische Chance zu bekommen. Ihnen geht es um neue Werte, um eine moralische Erneuerung, erklärt mir Kiril, der im Fach Zeitgeschichte promoviert.
Damit verbinden sie ganz konkrete Anliegen: nämlich die geregelte Aufarbeitung der Vergangenheit, die Zerschlagung alter Seilschaften und Parteikader sowie die Trennung von belasteten Politikern. Ein Bulgarien als "trojanisches Pferd Moskaus" lehnen sie ebenso ab wie alte Machtstrukturen unter europäischer Flagge.
Die aufgewachten Studenten wollen Transparenz schaffen und in einer mündigen Zivilgesellschaft mitwirken, die sich mit fantasievollen und intelligenten Protesten zu formieren beginnt.
Simeon, der Dritte am Tisch, kehrt gerade von einem Treffen mit dem deutschen Botschafter zurück. Es wird nicht viel gebracht haben. Denn der Diplomat hält sich nunmehr zurück, nachdem er sich im Sommer noch gemeinsam mit seinem französischen Kollegen in einer ungewöhnlich deutlichen Erklärung auf die Seite der Demonstranten gestellt und dafür eine harsche Reaktion der bulgarischen Regierung geerntet hatte.
Die Besetzer der Universitäten aber wollen weitermachen, bis diese Regierung zurückgetreten ist. Überall in Sofia ist auf Plakaten zu lesen: "Sorry for any inconvenience ‒ Bulgaria in reparation!"
Stefan Monhardt, geboren 1963, studierte Germanistik und Klassische Philologie in Tübingen und Pisa. Heute lebt er als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Er schreibt Lyrik und Essays, zuletzt erschien sein Gedichtband "Augenblicksgötter" (2007).
Stefan Monhardt
Stefan Monhardt© Bernhard C. Striebel
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