Die alten Rebellen und die Energie von morgen
Die letzten Kernreaktoren sollen 2022 vom Netz gehen. Droht der Protestbewegung in Gorleben nun der Absturz in die Bedeutungslosigkeit? Unwahrscheinlich - denn die Anti-Atom-Veteranen verstehen sich heute als die eigentlichen Treiber der Energiewende.
Nur einen Steinwurf vom Erkundungsbergwerk Gorleben, nicht weit von der Stelle, wo Greenpeace das Aktionsschiff "Beluga" als monströses Mahnmal aufgebockt hat, bringt Susanne Ackermann, Pastorin aus Dannenberg, Dichtung von Dorothee Sölle zu Gehör.
"… die Autos füllen die Schrotthalden und wir pflanzen jede einen Baum!"
Seit 25 Jahren versammeln sich die älteren Kämpen und der jugendliche Nachwuchs an jedem Sonntag zum "Gorlebener Gebet". Es ist eine sehr christliche Form des Widerstands gegen die Atomkraft – und nur eine von vielen Spielarten, die hier im Wendland von politisch bewegten Bürgern ersonnen und erprobt wurden. Heute reisen Delegationen aus aller Welt in das von allem weit abgelegene Wendland, um mehr über die örtliche Streitkultur zu erfahren. Eine Streitkultur, die sich längst nicht darin erschöpft, dass Bürger eine ihnen unliebsame Entscheidung verhindern oder sabotieren wollen. Auch die Energiewende wird hier seit zwei Jahrzehnten vorgedacht und vorangetrieben.
"Die Drei aus Japan kommen möglicherweise auch. Und die Dozentin aus Indien hat uns erzählt, dass Gorleben ein Modell für die ganze Welt sei, weil wir 25 Jahre den langen Atem gehabt hätten - und die meisten Aufstände würden nach kurzer Zeit eingehen, weil sie sagen: 'Es hat ja doch keinen Zweck!'"
Positive Alternativen aufzeigen
Dem Treck der Bauern nach Hannover 1977 und dem Hüttendorf "Republik Freies Wendland" im Jahr darauf folgten bunte Kunstaktionen. Kreative aus Hamburg und Berlin siedelten bald am Zonenrand, führten ihren Kampf gegen die Kernkraft auch für eine bessere Welt und besuchen alljährlich im Sommer die "Kulturellen Landpartien". Störche steigen dann über den Kulturscheunen auf, Kunsthandwerker öffnen ihre Ateliers, Bio-Bauern erzählen aus ihrem Leben mit Hummeln, Schweinen, Hühnern.
"Die Hippies, die hier auch waren, die Landwirtschaft betreiben wollten, trafen auf die Künstler und auf ein weites Feld, sie haben sich gegenseitig befruchtet. Ich selbst bin auch in so ein Haus gezogen, das schon lange leer gestanden hatte. Und da konnten wir uns ausleben, hatten dann unsere ersten Solaranlagen auf's Dach gemacht. Die Nachbarn haben getöpfert oder gezimmert. Daraus ist dann im Zusammenhang mit dem Widerstand die Idee gekommen, positive Alternativen zu setzen: Bäume pflanzen, Spielplätze bauen, Kunst machen, Kultur machen, Musik machen. Das war immer unsere Antwort: nicht mit Totenköpfen und schwarzen Masken hier herumzulaufen, sondern positive Signale zu setzen, in Kunst, Kultur und Politik."
Das sagt Asta von Oppen, eine Aktivistin der ersten Stunde, mit breitem Grinsen im Gesicht. Für die Rechtshilfe Gorleben grub sie sich durch ungezählte Studien, Gutachten, Gesetzestexte. Eine ausgebildete Juristin ist von Oppen nicht. Erst das jahrelange Studium der juristischen Winkelzüge hat die Autodidaktin gestählt. Inzwischen hat ihre Arbeitsgruppe zahlreiche Bürgerklagen gegen die Atomanlagen unterstützt. Am Anfang, sagt von Oppen, war der Ungehorsam eines Grafens gegen die allmächtig scheinende Obrigkeit.
"Und dann hat er mir gesagt, das wäre nun einmal Fakt, dass die Wiederaufbereitungsanlage hier gebaut wird, und er hätte volles Verständnis dafür, dass ich das nicht so witzig fände. Aber in zwei Jahren redet da kein Mensch mehr drüber, genau wie bei den Kernkraftwerken…"
… erinnert sich Andreas Graf von Bernstorff an eine einschlägige Begegnung mit dem damaligen Landesvater Ernst Albrecht in den 70er-Jahren. Rund 30 Millionen Mark bot die niedersächsische Regierung damals dem konservativen Aristokraten für dessen Ländereien über dem Salzstock Gorleben. Doch dieser verzichtete überraschend auf das Geld, trat aus der CDU aus und ließ sich in seiner Rebellion auch von der Drohung mit Enteignung nicht beirren.
Ein Think Tank entwickelt neue Formen des Landlebens
"Ich glaube, wir haben doch gemeinsam erreicht, dass der Standort Gorleben als Endlager in der breiten Öffentlichkeit in Frage gestellt wird, auch wenn wir natürlich nicht so naiv sind, zu glauben, dass jetzt das Schicksal an Gorleben vorbei geht. Und die Politiker werden letzten Endes vielleicht doch tun, was auch die öffentliche Meinung ist. Ich mache mir jetzt auch Gedanken darüber: Wie sieht eigentlich die Zukunft aus, ist es so toll, dass wir wieder die ganzen Kohlekraftwerke anschmeißen? Und wie kann man eigentlich die Energiewende durchsetzen?"
In Gartow hat der Graf in eine Biogasanlage investiert, die Schwimmbad, Schule und Altenheim beheizt. Die Vertragsbauern liefern Grünschnitt und Klärschlämme. Nach einer Methode der Indios werden Überreste aus der Anlage genutzt, um auf kargen Äckern fruchtbaren Humus aufzubauen.
"Wenn man hier aufwächst, dann geht das Thema nicht an einem vorbei. Letzten Endes ist es ja ein alter Familienbetrieb. Und ich sehe mich eher als Treuhänder."
Auch Fried Graf von Bernstorff versteht sich mehr als Gestalter, denn als Verhinderer. Vor einigen Jahren hat der gelernte Betriebswirt den Großgrundbesitz der Familie übernommen. Der Junior folgt in den Spuren des Vaters – und denkt die Energiewende weiter. Gemeinsam mit Freunden hat er den Verein Wendezukunft ins Leben gerufen, ein Think Tank, der neue attraktive Formen des Landlebens entwickeln soll: Bürgerbeteiligung, Kreislauf, Vernetzung sind Leitgedanken. Der junge Graf investiert in eine Firma zur Nutzung von Holzenergie. Im familieneigenen Privatwald, dem größten Norddeutschlands, will er mit lokalen Partnern Windmühlen installieren.
"Unter anderem habe ich dann angefangen, aus Mist Wärme zu erzeugen. Mein Spruch war immer, gesund und zahlungsfähig zu bleiben. Und da hatte ich auch einen, der sich mit Windkraft auseinandergesetzt hatte. Der hat dann bei mir gewohnt, und dem habe ich dann geholfen, die Windkraftanlage zu bauen. Wir hatten eine Windkraftanlage da hinten am Kinderspielplatz - und da hat die Wasser gepumpt."
Erinnert sich Horst Wiese aus Gedelitz. Gastronom, Ökobauer, Energiewende-Pionier. Den ersten primitiven Apparaturen folgten technisch ausgereifte Lösungen. Autofahrer in der Modellregion konnten zum Beispiel aus der ersten Biogas-Tankstelle Deutschlands zapfen. Bei ihrer Stromversorgung setzen die Wendländer seit drei Jahren zu 100 Prozent auf die Erneuerbaren, vor allem Windkraft und Biogas.
Aus Bürgerprojekten werden Spekulationsobjekte
Gestritten wird noch immer mit Leidenschaft. Der Bio-Bauer Ulf Allhoff-Cramer wirbt für Erdverkabelung, wo immer das möglich ist. Die Sorgen der Bürger ernst nehmen, das bedeute auch, über den Nutzen großer Stromtrassen nachzudenken. Viel sinnvoller als überschüssigen Gas- und Kohlestrom in den Süden zu transportieren, seien Seekabel gen Norwegen, wo sich deutscher Windstrom in Stauseen speichern ließe. Ein selbst gebasteltes Atomfass ziert noch immer seinen betagten Trecker. Es erinnert den Landwirt daran …
"… dass wir jahrzehntelang in Deutschland eine Energie erzeugt haben, die höchstens für zwei Generationen scheinbar billigen Strom versprach, aber in Wirklichkeit die teuerste Energie aller Zeiten gewesen sein wird. Es ist großartig, dass wir in Deutschland jetzt den Atomausstieg beschlossen haben! Und wir brauchen genauso den Kohle-Ausstieg in ganz absehbarer Zeit und nicht die Situation, wie wir sie jetzt haben, dass wir einen Höchststand an regenerativer Energie haben, 25 Prozent, aber auch einen Höchststand an Kohlestrom."
Auf der "Energiewende-Demo" in Hannover warnt Jochen Stay mit Inbrunst davor, dem Lobbydruck der Energiekonzerne nachzugeben, den zarten Aufwind der Erneuerbaren mit Beschlüssen etwa zur Deckelung der Windkraft und zur verpflichtenden europaweiten Ausschreibung von Windkraftprojekten abzuwürgen. Auch im Wendland drängen die großen Planungsbüros auf den Markt, aus Bürgerprojekten werden Spekulationsobjekte, klagt Stay. Der Chef der Anti-Atom-Organisation "ausgestrahlt" fürchtet …
"… dass gerade die kleinen Bürger-Energiegenossenschaften große Schwierigkeiten bekommen werden, in Zukunft noch Kredite von der Bank zu bekommen. Und eigentlich nur noch große Projektierer, Energiekonzerne, dann riesige Projekte planen, dass die sich dann noch leisten können, ins Risiko zu gehen. Und das ist wirklich sehr schade, weil bisher diese 25 Prozent erneuerbare Energie, die wir in Deutschland haben und die wir in wenigen Jahren erreicht haben, das waren gerade die kleinen Akteure vor Ort, die das organisiert haben, dass eben Leute vor Ort Energiegenossenschaften gründen und selber Teil dieser Energiewende sein wollen."
Die spezielle Diskussionskultur im Wendland
Im November 2011 rollten im Wendland die vorerst letzten Castoren an. Bund, Länder und Parteien haben einen Neustart bei der Suche nach einem Endlager für hoch radioaktiven Atommüll versprochen. Die letzten Kernreaktoren sollen 2022 vom Netz gehen. Droht der bürgerlichen Protestbewegung nun der Absturz in die Bedeutungslosigkeit? Unwahrscheinlich, meint die grüne Europaabgeordnete Rebecca Harms. Sie lebt mit ihrem Mann und unter Gleichgesinnten im Wendland. Harms sagt, wer das Vertrauen der Bürger in den Atomausstieg und in die Energiewende sucht, der muss die Aktiven einbinden, ihr zähes Rebellentum, ihre Expertise, ihre vielen ungefragten Initiativen ernst nehmen.
"Ich denke, dass in der Auseinandersetzung um die Endlagersuche die Politik die Lüchow-Dannenberger manchmal zu sehr als Nervensägen ansieht. Und dass sie nicht sehen, was für ein Wissen einerseits hier abzuholen ist, und was auch für eine Diskussionskultur hier vorhanden ist. Ich glaube, dass man eine neue Standortsuche sehr viel besser in Deutschland etablieren kann, wenn man für das Suchverfahren auch auf die Mitwirkung und auf das Vertrauen der Bürger setzen kann."
Der größte gesellschaftliche Konflikt unseres Landes sei viel zu wichtig, sagt Rebecca Harms, um ihn Experten am Kartentisch zu überlassen.