Eine Million Bücher als mutmaßliches Raubgut
Die Zentral- und Landesbibliothek Berlin sucht nach NS-Raubgut in ihren Beständen. Gut eine Million Bücher sollen überprüft werden. Provenienzforscher Sebastian Finsterwalder sagt, bei Restitutionen gebe man Erinnerung zurück, nicht nur das Buch.
Wenn über die Rückgabe von Kulturgut berichtet wird, das in der NS-Zeit beschlagnahmt und geraubt wurde, handelt es sich meist um Bilder und Skulpturen, die von berühmten Künstlern geschaffen wurden und die einen sehr hohen Marktwert besitzen. Aber Menschen, die fliehen mussten, haben auch Bücher zurückgelassen.
Die Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) prüft seit 2002 ihre Bestände, ob es sich bei ihren Büchern um Raubgut handelt und, wenn ja, wie sie ein Buch restituieren kann. Seit 2009 widmen sich Mitarbeiter nur dieser Aufgabe. Der Historiker Sebastian Finsterwalder ist einer von inzwischen insgesamt drei Personen im Ressort Provenienzforschung. Ihre Aufgabe ist gigantisch: "Wir müssen tatsächlich mindestens 1,1 Millionen Bücher überprüfen. Die sind natürlich nicht alle geraubt, aber wir müssen sie trotzdem in die Hand nehmen", sagt Finsterwalder.
"Wir nehmen alles mit, was wir finden: Das kann von klaren Spuren wie Exlibris, Stempeln oder Autogrammen bis hin zu Nummern, handschriftlichen Eintragungen, Anmerkungen gehen."
Dann werde das in der öffentlich zugänglichen Datenbank lootedculturalassets.de aufgenommen, ein Projekt, das mit anderen Bibliotheken betrieben wird. Der Provenienz-Hinweis werde beschrieben und wenn es Anhaltspunkte für Personen gebe, würden diese genannt, und man gehe diesen nach.
Über 900 Bücher bislang zurückgegeben
Die größten Posten an eindeutigem NS-Raubgut stammten aus zwei Zugängen, sagt Finsterwalder. Der erste große Posten komme von der Berliner Stadtbibliothek, einer Vorgängereinrichtung der ZLB: Ein Ankauf von 40.000 Bänden aus den Wohnungen der deportierten Juden, angekauft 1943 über die Berliner Pfandleihanstalt. Der zweite größere Posten sei erst nach 1945 in die Bibliothek gebracht worden und stamme aus der sogenannten Bergungsstelle für wissenschaftliche Bibliotheken – einer Einrichtung des Berliner Magistrats, die nach dem Krieg sogenanntes "herrenloses Gut" aus der Stadt eingesammelt und auf bereits wieder funktionierende Bibliotheken verteilt habe.
Insgesamt konnten bisher etwas über 4000 Bücher eindeutig als NS-Raubgut identifiziert werden, wie Finsterwalder sagt. Restituiert worden seien seit dem Beginn der systematischen Forschung 2009 etwas über 900. Die genaue Zahl der Bücher, die schon überprüft worden sind, sei schwer zu beziffern. Mehrere Zehntausend seien es inzwischen, sagt Finsterwalder an anderer Stelle. Es könne durchaus sein, dass ein Buch schon erfasst sei, aber erst nach Jahren als Raubgut identifiziert werde.
Biografische Puzzleteile
Die Restitution finde dann in der Regel per Post statt, denn die Erben lebten oft weit weg wie in Südafrika, Neuseeland, Israel, den USA oder Südamerika. Manchmal seien sie auch noch in Berlin, Großbritannien oder andernorts in Europa zu finden.
"Davor sind wir meist in regem Austausch, denn das, was wir restituieren, ist nur auf der einen Seite das Objekt. Das Wichtigere ist normalerweise die Geschichte, die mit dem Objekt mitkommt."
In einem besonderen Fall, habe man Walter Lachmann noch sein eigenes Buch zurückgeben können, ein Kinderbuch, an das sich Lachmann auch noch erinnert habe. Normalerweise spreche man aber mit der Enkelgeneration oder noch jüngeren Nachkommen.
"Die wissen natürlich von einzelnen Büchern nichts, aber natürlich teilen uns die Leute mit, was das mit ihnen macht. Wir geben wirklich Erinnerung zurück, und nicht in erster Linie das Objekt. Oftmals fügt sich das dann für die Erben wie ein Puzzle zusammen – sie haben einen Teil der Geschichte, hauptsächlich nach der Emigration. Und wir – da wir in Berlin sitzen, Zugang zu Archiven haben, die Akten sind auf Deutsch – können das Puzzlestück liefern, was vor der Emigration, vor der Ermordung, vor dem Holocaust war."
"Washingtoner Erklärung" als Leitprinzip
Allerdings stamme nicht alles Raubgut aus jüdischem Besitz: Es könne auch Eigentum von Parteien, Freimaurern, Klöstern, linken Einrichtungen gewesen sein.
Wenn die Provenienzforscher keine Nachfolgeinstitution finden oder keine Erben, versuche man, sich an Punkt 9 der "Washingtoner Erklärung" zu halten: "Dass man Schritte unternehmen soll, eine möglichst faire und gerechte Lösung zu finden. Das ist relativ offen gehalten – man solle sich einen Ort überlegen, an dem die Bücher angemessen aufbewahrt werden. In relativ vielen Fällen haben wir da mit dem Centrum Judaicum zusammengearbeitet oder mit dem Leo-Baeck-Institut in New York."
Seit 2004 gebe es einen Arbeitskreis der Provenienz forschenden Bibliotheken. Beim letzten Treffen in Berlin seien es über 50 Teilnehmer gewesen aus Deutschland, Österreich, Frankreich und Norwegen: "Es werden Gott sei dank immer mehr – es sind immer noch nicht so viele, wie es eigentlich machen müssten. Denn tatsächlich müsste jede Bibliothek in Deutschland und Österreich, die einen Altbestand besitzt, diese Arbeit machen."
Anmerkung: Der Text wurde redaktionell überarbeitet.