Ladiniens später Stolz auf Gilbert & George
Das Duo Gilbert & George gehört zu den radikalsten und wichtigsten Performance-Künstlern. In Gilberts Heimat, im italienischen Gadertal, tat man sich lange schwer mit der Provokationskunst des homosexuellen Paares.
Zur Kunst geht es ganz nach oben. Erst den Berg hoch zum Schloss, dann weiter über die schmalen Steintreppen im Innern der mittelalterlichen Ritterburg. Im dicken, quadratischen Wehrturm des Museums Ladin verstecken sich Brauchtum und Kultur des aufrechten Dolomitenvolks der Ladiner.
Selbstinszenierungen zu zweit
Durch enge Gänge geht es zur Gegenwart: In einem fensterlosen Burgzimmer zittert ein Video über einen Fernseh-Bildschirm. Darauf zu sehen: zwei ältere Herren in klassischen Anzügen.
"Singing Sculpture, 1972-1991", erklärt Katharina Moling vom Museum.
Gilbert Prousch, das ist der kleinere Mann auf dem Video, im taubenblauen Anzug. Der andere, im beigen Jackett, das ist der Brite George Passmore. So kennt das internationale Kunstpublikum die beiden aus ihren Selbstinszenierungen, bei denen sie immer zu zweit auftreten.
"Gilbert und George sind ja bekannt für die lebenden Skulpturen. Und das sieht man hier im Video. Gilbert & George, die auf einem Podest stehen und ab und zu eine Bewegung machen."
Sie sind sehr froh im Ladininischen Museum, dass sie eine Arbeit des Künstler-Duos aus London ergattert haben.
"Ja, absolut, wir sind stolz darauf, dass Gilbert aus dem Gadertal kommt."
Schwieriges Verhältnis zur Heimat
Umgekehrt ist das nicht so. Zumindest gibt Gilbert Prousch fast immer nur vage "aus den Dolomiten" als Herkunft an.
"Denn er hat verboten, dass eine Arbeit von ihm ins Gadertal kommt", sagt Renate Pizzinini. Die Kunstsammlerin wollte vor vielen Jahren ein Werk von Gilbert & George kaufen. Mit der Tate-Gallery war alles perfekt – bis der Künstler den Verkauf stoppte. Wer Genaueres über Gilbert Prouschs kompliziertes Verhältnis zu seiner Heimat erfahren will, muss zu Renate Pizzinini bis ans Ende des Tals fahren. Da, wo die Straße anfängt, sich über den im Winter tiefverschneiten Pass hinüber nach Gröden zu schlängeln, in Colfosco, hat sie ihre Kunstgalerie "Renée". Sie gehört derselben Generation an wie Prousch.
"Gilbert ist ja in St. Martin geboren, und er hat zuerst die Kunstschule in Gröden gemacht und dort hat er angefangen zu schnitzeln. Und da hat er eine Madonna geschnitzelt, und die hat man in St. Martin, seinem Heimatdorf, bei den Prozessionen, die hier üblich sind, durchs Dorf getragen. Und wo der Pfarrer rausgekriegt hat, dass sie zwei Homos sind, dann hat er sie nicht mehr tragen lassen."
So war das in den 1950er-, 1960er-Jahren, in diesem durch und durch katholischen Landstrich zwischen Brenner, Bozen und Belluno.
"Wissen Sie, Gadertal ist das christlichste Tal Südtirols. Und bestimmte Sachen für die Ladiner ist ein bisschen zu provokativ."
"Lüstern, depressiv, blutrünstig"
Homosexualität war damals nicht nur in den einsamen Bergtälern Südtirols ein Tabu. Gilbert & George, die aus radikaler Selbstentblößung eine Kunstform gemacht haben, beschreiben sich selbst als "ungesund, zotiger Gesinnung, exzentrisch, lüstern, depressiv, blutrünstig, stur, pervertiert und gut. Wir sind Künstler."
"Er hat sich mit George stundenlang auf einem Stöckerl hingestellt, den Körper angemalt und ein Lied vielleicht hundertmal gesungen. Dann haben sie sich auf die eine Seite gedreht und dann auf die andere Seite, aber immer das gleiche Lied gesungen."
Katharina Moling vom Museum Ladin kennt noch eine andere Geschichte von dem verschmähten Madonnen-Schnitzer, der zum internationalen Kunst-Star wurde:
"Es gab eine Ausstellung in München, und da hat man einen Bus organisiert und die Gadertaler sind rausgefahren und haben sich die Kunst angeschaut. Und teilweise waren Leute ziemlich schockiert, weil sie haben ja Bilder, wo sie mit Scheiße und so – zu schockierend."
Gerade, was die Kritik an Religion, repressiver Moral und Diskriminierung angeht. Was der 1943 geborene Gilbert Prousch als Jugendlicher in der konservativen Umgebung erdulden musste, darüber hat er nie direkt Auskunft gegeben. Wie befreiend der Umzug von St. Martin nach London - nach einigen Studien-Semestern in München - gewesen sein muss, klingt nur gelegentlich in Interviews an:
"I was the lost boy who came from abroad, I couldn't speak English. We are lonely people."
Zu Lebzeiten der Mutter kam er jedes Jahr ins Gadertal
In Colfosco führt uns die Sammlerin Renate Pizzinini durch ihre Galerie und ihr "Art-Hotel", dessen Gänge, Treppenhäuser, Speisesäle mit Kunst aus aller Welt vollgehängt sind. Dass sie für ihre üppige Sammlung kein Werk von Gilbert & George ergattern konnte, ärgert sie spürbar bis heute:
"Da habe ich ihm aber schöne Briefe geschrieben, er soll sich nicht so beeinflussen lassen, von was die Leute sagen. Denn besonders die Jungen, die achten da nicht mehr drauf, und die würden sich unwahrscheinlich freuen, wenn er wieder in die Gegend kommen würde und im Gadertal mal wieder auch besuchen würde."
Aber Gilbert Prousch, mittlerweile 72 Jahre alt, zeigt offenbar kaum Interesse an den Tälern seiner Kindheit:
"So lange die Mutter gelebt hat, ist er jedes Jahr gekommen. Und das Schöne war, da hat er sich angezogen wie die Bauern, ganz einfach, ist in die Gaststätte gegangen, hat dort ein Glas Wein getrunken. Aber seit die Mutter gestorben ist, ist er nicht mehr gekommen. Uns tut das wundern, denn er sollte eigentlich drüber hinweg sein."
Sagt die weltgewandte Dame aus Colfosco. Als wir uns verabschieden, spricht sie ein eleganter Herr, formvollendet mit leichter Verbeugung, als "Signora Pizzinini" an. Ein Hotelgast aus Großbritannien, dem Akzent nach. Senfgelber Sakko, distinguierte Erscheinung... Genau so sehen heute George Passmore und Gilbert Prousch bei ihren seltenen öffentlichen Auftritten aus.