"Nieder mit den Mördern von Prag!"
Vor 50 Jahren stand sie vor einem DDR-Gericht: Die damals 20-jährige Bettina Wegner hatte in Berlin-Pankow Flugblätter verteilt, um die Niederschlagung des "Prager Frühlings" anzuprangern. Die spätere Liedermacherin bot der Staatsmacht die Stirn.
Es war "das Ende einer sozialistischen Utopie", wie der Historiker Martin Schulze Wessel sagt. Das Ende des Experiments Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Bis zum Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen am 21. August 1968 war die Tschechoslowakei weit über ihre Grenzen hinaus ein Land der Hoffnung gewesen.
Karl-Eduard von Schnitzler, der Chefkommentator des DDR-Staatsfernsehens, verkündete in seinem "Schwarzen Kanal:
"Sicherheit, Krieg und Frieden sind unteilbar und nicht an Glaubensbekenntnisse und Parteibücher gebunden. Und so erweist sich die politische, ökonomische und militärische Hilfsbereitschaft der Sowjetunion, der Deutschen Demokratischen Republik, Volkspolens und der ungarischen und bulgarischen Volksrepubliken als ein Dienst am Frieden für die Völker Europas."
Entsetzen über die gewaltsamen Ereignisse in Prag
Zu denen, die in der DDR hoffnungsvoll und dann entsetzt auf Prag geschaut hatten, gehörte 1968 die 20-jährige Schauspielstudentin Bettina Wegner. Schockiert vom Einmarsch verteilte die junge Mutter, die im Westfernsehen Bilder getöteter Zivilisten gesehen hatte, handgeschriebene Flugblätter in Berlin-Pankow.
Bettina Wegner wurde verhaftet, exmatrikuliert und musste sich vor dem Osterberliner Stadtgericht wegen "staatsfeindlicher Hetze" verantworten.
Die Verhandlung leitete Gerda Klabuhn, Vorsitzende Richterin des Politischen Strafsenats: "Wenn es also solche Dinge gegeben hat, dass von der Schusswaffe Gebrauch gemacht worden ist - ich meine, die sind ja nun schließlich nicht zum Vergnügen mit Waffen einmarschiert, sonst hätte man sich ja das alles ersparen können - so, und wann haben Sie denn nun mal überlegt, in welcher Art und Weise Sie auf diese Ereignisse reagieren wollen?"
Bettina Wegner: "Ja, also als am Morgen des 21. die Nachricht kam, da habe ich also nur ganz spontan gedacht: Das ist nicht richtig, das ist falsch, das ist gemein. Und da habe ich mir überlegt, dass ich was machen will. Also, wenn ich die Möglichkeit gesehen hätte, mich auf die Straße zu stellen und eine Rede zu halten, hätte ich es so gemacht. Aber, da habe ich gedacht, dann werde ich nicht zu Ende reden können."
Gerda Klabuhn : "Welche Losung hatten Sie verwandt?"
Bettina Wegner: "Viva Prag! Es lebe das rote Prag! Hoch Dubcek! Hände weg von Prag! Solidarität mit Prag! Glaubt nicht den Zeitungslügen, sonst werdet ihr mitschuldig. Deutsche raus aus Prag. Nieder mit den Mördern von Prag!"
Gerda Klabuhn: "Und was meinen Sie denn, welche Reaktionen derartige Losungen bei den Menschen hervorrufen konnten, die die Flugblätter fanden?"
Bettina Wegner: "Na, ich wollte, dass die Leute alle offen sagen, dass sie es nicht richtig finden. Und ich wollte auch, dass ich es sage! Dass ich es offen und laut gesagt habe, dass ich nicht einverstanden bin. Wenn sich die Leute innerhalb der DDR so äußern. Wenn sich dann die DDR, nach der Äußerung der Leute richtend, dort so äußert. Also, ich habe mir nicht eingebildet, dass es rückgängig gemacht wird."
Gerda Klabuhn: "Und wer sind die Mörder von Prag?"
Bettina Wegner: "Ich habe gemeint, die Leute, die die Leute erschossen haben, die ich in dem Film gesehen habe."
Gerda Klabuhn: "Na also, sagen Sie es doch, klipp und klar! Das sind also die militärischen Einheiten, die zum Schutze der CSSR dort einmarschiert sind, ja?"
Gerda Klabuhn: "Na also, sagen Sie es doch, klipp und klar! Das sind also die militärischen Einheiten, die zum Schutze der CSSR dort einmarschiert sind, ja?"
Vor Gericht ganz auf sich alleine gestellt
Bettina Wegner stand vor Gericht zu ihrer Haltung - auf sich allein gestellt, ohne Unterstützer, einer Willkürjustiz ausgesetzt. Nach Informationen des Spiegel-Journalisten Peter Wensierski waren damals weder Eltern noch Freunde der Angeklagten im Saal. "Als Zuschauer seien nur ein Dozent der Schauspielschule, die spätere Schriftstellerin Monika Maron sowie eine Handvoll Stasileute in der Verhandlung gewesen."*
Trotz des aggressiv-belehrenden Tons von Richterin und Staatsanwalt ließ sich die 20-Jährige nicht beirren.
Staatsanwalt: "Sie wollten zu den Ereignissen, und das waren Ihre Überlegungen bei der Herstellung der Flugblätter, Sie wollten bei den Ereignissen, wörtlich: 'Offen und ehrlich sagen', wie Sie denken über die Ereignisse in der CSSR, beziehungsweise über die Maßnahmen der fünf sozialistischen Staaten."
Bettina Wegner: "Ja."
Staatsanwalt: "So. Ist es das richtige Verhalten, dass jemand, der offen, ja, und ehrlich etwas sagen will, wie er denkt, dass er wie ein Dieb des nachts durch die Straßen der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik schleicht und dort solche verbrecherische, hetzerische Losungen verteilt?"
Bettina Wegner: "Soll ich antworten?"
Staatsanwalt: "Ist das ein ... oder sind Sie der Meinung, dass das ein offenes und ehrliches Verhalten ist?"
Bettina Wegner: "Ich habe vorhin schon versucht zu erklären, dass, wenn ich eine Möglichkeit gesehen hätte, mich auf die Straße zu stellen und laut zu sagen, was ich dazu meine und was ich davon halte, dann hätte ich diese Möglichkeit in Anspruch genommen. Ich wusste aber, dass es die nicht gibt. Und da ich nicht offen mich hinstellen kann und eine Rede halten, auf der Straße, habe ich gedacht: Na, dann verteilst du Blätterchen, wo du raufschreibst in Schlagworten, was du meinst."
Wegen "staatsfeindlicher Hetze" verurteilt
Bettina Wegner wurde wegen "staatsfeindlicher Hetze" verurteilt - zu einem Jahr und sieben Monaten auf Bewährung. Bewähren durfte sie sich in der Produktion des VEB Kombinats Elektro-Apparate-Werke Berlin-Treptow "Friedrich Ebert". Nach einem Jahr wurde ihr gestattet, sich im Zentralen Studio für Unterhaltungskunst zur freiberuflichen Sängerin ausbilden zu lassen.
Acht Jahre nach dem Einmarsch in Prag folgte 1976 die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR. Wieder zerstörte das SED-Regime die Hoffnung auf eine Humanisierung des realsozialistischen Systems. Wieder protestierte - gemeinsam mit anderen Künstlern – Bettina Wegner gegen das Vorgehen der Staatsmacht. Danach waren ihr höchstens noch Auftritte in evangelischen Kirchen möglich.
1983 kehrte Bettina Wegner, die seit 1974 von der Stasi als "feindlich-negative Person" überwacht wurde, der DDR den Rücken und ging nach West-Berlin.
Gerda Klabuhn, die Richterin, die Bettina Wegner 1968 verurteilt hatte, wurde nach der Wiedervereinigung wegen Rechtsbeugung und schwerwiegender Verstöße gegen die Menschenrechte zu einem Jahr und neun Monaten Haft verurteilt. Ohne Bewährung.
*Wir haben einen faktischen Fehler an dieser Stelle nachträglich korrigiert (26.10.2018)