Prozess gegen früheren SS-Mann Oskar Gröning

"Wir ermitteln solange wie möglich"

Menschen mit einem Banner mit der Aufschrift "Solidarität mit den Opfern des Naziterrors" in den Händen stehen am 21.04.2015 vor der zum Gerichtssaal umfunktionierten Ritterakademie in Lüneburg (Niedersachsen). 70 Jahre nach Ende der Nazi-Diktatur steht der frühere SS-Mann Oskar Gröning in Lüneburg vor Gericht. Die Anklage wirft ihm Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Auschwitz vor - in mindestens 300.000 Fällen.
Demonstranten am Tag des Prozessauftakts gegen SS-Mann Oskar Gröning in Lüneburg © picture alliance / dpa / Philipp Schulze
Staatsanwalt Thomas Will im Gespräch mit Nana Brink |
Wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen steht der frühere SS-Mann Oskar Gröning ab heute vor Gericht. Dieser Prozess sei ein wichtiges Signal, sagt Thomas Will, Staatsanwalt und stellvertretender Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen.
Thomas Will, erster Staatsanwalt und stellvertretender Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, hat vor dem Prozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning auf die Bedeutung dieses Verfahrens für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen hingewiesen.
Dieser Prozess sei ein wichtiges Signal und zeige, dass man solange wie möglich ermittle, sagte Hein im Deutschlandradio Kultur. Es sei wichtig, eine Tat vor Gericht zu bringen:
"Es ist auch wichtig für die Jetzt-Zeit. Die Arbeit der Zentralen Stelle ist auch im Fokus der internationalen Welt, wo es darum geht: 'Wie löst man Konflikte nach Beendigung dieser Konflikte, Massentötungen? Wie haben es beispielsweise die Deutschen gemacht?'"
Versagen der deutschen Justiz?
Hein verwies darauf, dass es seit den sechziger Jahren eigentlich "stillschweigender Konsens" in der Staatsanwaltschaft gewesen sei, sogenannte "Funktionsgehilfen ohne konkrete Tat" relativ unbehelligt zu lassen. Auf die Frage, ob die deutsche Justiz versagt habe, entgegnete Hein:
"Das müssen Rechtshistoriker feststellen. Wir in der jetzigen Generation von Juristen haben die Notwendigkeit gesehen, als wir den Fall Demjanjuk ermittelt haben - das war so etwa 2008 -, dass wir das durchbrechen müssen."
Der Prozess gegen Oskar Gröning beruhe auf umfangreichen Recherchen, erläuterte Will. Nach der Verurteilung von Demjanjuk habe sich seine Behörde sehr intensiv auf die weiteren Vernichtungslager und insbesondere auch auf das KZ Auschwitz-Birkenau konzentriert:
"Tausende von Personen wurden überprüft. Darunter auch die jetzt angeklagte Person."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Die Anklage lässt einem den Atem stocken: Sie wirft einem früheren SS-Unterscharfführer Beihilfe zum Mord in bis zu 300.000 Fällen im Lager Auschwitz vor, und darum wird es in diesem Prozess gehen.
Jutta Niggemann berichtete, und es stellt sich natürlich die Frage: Warum hat das so lange gedauert? Dass es diese Anklage überhaupt gibt, ist das Verdienst der hartnäckigen Recherchen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Staatsanwalt Thomas Will ist dort stellvertretender Leiter. Guten Morgen, Herr Will!
Thomas Will: Frau Brink, guten Morgen!
Brink: Bevor wir zum Prozess kommen: Was ist die Aufgabe der Zentralen Stelle?
Will: Die Zentrale Stelle ist eine Vorermittlungsbehörde, das heißt, sie ist keine Staatsanwaltschaft. 1958 wurde die Behörde gegründet von allen Landesjustizverwaltungen der Bundesländer als, ja, wie will ich sagen, als besondere Behörde, die es eigentlich gar nicht so geben sollte in der Justiz, als Bindeglied zwischen ausländischen Taten und den örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften.
Stillschweigender Konsens in der Staatsanwaltschaft
Brink: 1985 gab es ja schon mal Ermittlungen gegen den früheren SS-Unterscharfführer Oskar Gröning. Warum kam es da zu keiner Anklage?
Will: Es ist, ja, man kann sagen, seit den 60er-Jahren stillschweigender Konsens gewesen – das ist heute zu diagnostizieren – bei den Staatsanwaltschaften, dass man allgemeine oder Funktionsgehilfen ohne konkrete Tat relativ unbehelligt lässt.
Brink: Das heißt, er ist ein Funktionsgehilfe. Was heißt das?
Will: Es ist jemand, der das Gesamtgefüge mit aufrechterhalten hat, der durch seine Einzeltätigkeit zum Gelingen des gesamten Planes, also die Massentötung von hunderttausenden von Menschen, beigetragen hat. Ich will jetzt nicht den konkreten Fall ansprechen, sondern eben vielleicht ein Wachmann im Konzentrationslager.
Brink: Also würden Sie sagen, dass die Justiz da versagt hat?
Will: Das müssen Rechtshistoriker feststellen. Wir in der jetzigen Generation von Juristen haben die Notwendigkeit gesehen, als wir den Fall Demjanjuk ermittelt haben so etwa 2008, dass wir das durchbrechen müssen.
Umfangreiche Recherchen für den Prozess
Brink: Warum jetzt nach 30 Jahren die Anklage? Sie haben ja unendlich viel recherchiert.
Will: Es ist sehr viel recherchiert worden. Nachdem Iwan Demjanjuk, John Demjanjuk verurteilt wurde (2011) haben wir uns sehr intensiv konzentriert auf die weiteren Vernichtungslager und insbesondere auch das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Tausende von Personen wurden überprüft, darunter auch die jetzt angeklagte Person, der Angeklagte.
Brink: Wo recherchieren Sie für so eine Anklage? Wie schwer ist das, nach 70 Jahren?
Will: Wir haben zunächst ein eigenes, sehr umfangreiches Archiv mit 1,7 Millionen Karteikarten. Wir recherchieren aber auch bundesweit und darüber hinaus, auch im Ausland. Es gibt hier zum Beispiel das Bundesarchiv, das Militärarchiv, sehr verschiedene Anlaufstellen. Wir haben sehr weitgehende Kontakte auch zu Historikern und anderen Kollegen im Ausland.
Brink: Kristallisiert sich dann irgend so ein Fall raus, der jetzt zur Anklage gebracht worden ist oder wie muss ich das verstehen, Ihre Recherche?
Will: Zunächst wird ermittelt der Nachkriegsverbleib der in Betracht kommenden Personen. Die Personen, die als lebend festgestellt werden, werden dann genauer von uns untersucht. Wir haben dann im Ende des Jahres 2013 30 Verfahren an deutsche Staatsanwaltschaften abgegeben, von diesen 30 Verfahren sind 11 noch nicht eingestellt, und von diesen 11 Verfahren ist das heute beginnende Verfahren eines.
Brink: Hat Sie das enttäuscht, dass es so lange gedauert hat, wenn man sich so lange mit dieser Geschichte beschäftigt?
Will: Das ist für mich jetzt nicht der Fall, weil wir ja die letzten Jahre sehr intensiv damit beschäftigt waren und ja eigentlich auch Ermittlungserfolge erzielt haben.
Das Alter des Angeklagten interessiert den Juristen nicht
Brink: Wird der Fall Gröning einer der letzten sein, auch wenn man das Alter des Angeklagten in Betracht zieht, 93 Jahre?
Will: Das kann sein. Ich bin hier seit etwa zehn Jahren tätig, und von Anfang an hat mich dieses Prädikat des jeweiligen Falles als der letzte Fall begleitet. Das kann sein, muss es aber nicht.
Brink: Ist das für Sie keine Kategorie, also auch als Jurist nicht?
Will: Was meinen Sie mit Kategorie?
Brink: Na ja, dass Sie sagen, okay, der ist schon so alt, deshalb recherchieren wir gar nicht mehr, sondern Sie gucken sich den Fall an und ...
Will: Ja, es ist zunächst aus juristischer Sicht nicht erforderlich, dass wir das Alter anschauen. Wir sind von Gesetzes wegen beauftragt, Mord verjährt nicht, und die Feststellung der Verhandlungsfähigkeit ist dann Frage der Staatsanwaltschaft beziehungsweise der Ärzte.
Professionelle Distanz
Brink: Lässt einen diese Thematik bei diesen ganzen Recherchen unberührt? Also es ist völlig klar: Als Jurist müssen Sie sehr nüchtern den Fakten folgen. Wie geht einem das dann persönlich? Nimmt man das mit nach Hause?
Will: Persönlich gewöhnt man sich grundsätzlich an, dass man eine professionelle Distanz wahrt, das gelingt leider nicht immer, aber doch weitgehend.
Brink: Wie ist es bei Ihnen in diesem Fall, bei diesen Recherchen?
Will: Wir haben schon sehr lange an diesen Konzentrationslagern gearbeitet. Es ist nicht anders möglich, als diese Sache dann einfach sachlich zu sehen.
Brink: Was macht das so wichtig, dass solche Prozesse noch geführt werden? Wir haben ja zu Beginn unseres Gesprächs auch ein Opfer gehört, die hat gesagt, es geht hier gar nicht so sehr um die Strafe, es geht hier um das Urteil.
Eine Tat muss vor Gericht gebracht werden
Will: Das sind auch meine Erfahrungen aus den Opfer- und Überlebendenkreisen. Dasses ganz wichtig ist, ein Verfahren, eine Tat vor Gericht zu bringen, dass es weniger um die Vollstreckung geht. Es ist auch wichtig für die Jetzt-Zeit. Die Arbeit der Zentralen Stelle ist auch im Fokus der internationalen Welt, wo es darum geht: Wie löst man Konflikte nach Beendigung dieser Konflikte, Massentötungen, wie haben es beispielsweise die Deutschen gemacht? Ich will hier uns kein Ruhmesblatt anheften, aber ich denke, es ist ein wichtiges Signal, zu zeigen: Wir ermitteln, so lange es geht.
Brink: Und Sie geben die Erfahrungen auch weiter?
Will: Wir geben diese Erfahrungen auch weiter, wenn sie gefragt sind.
Brink: Staatsanwalt Thomas Will, der stellvertretende Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Danke, Herr Will, dass Sie die Zeit für uns heute hatten!
Will: Ich danke Ihnen!
Brink: Und heute beginnt in Lüneburg der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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