Prozess gegen Hauptkriegsverbrecher

Als Nürnberg zur Chiffre wurde

04:14 Minuten
Nürnberger Prozesse, 1. Reihe v.l. Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel dahinter 2. Reihe: Erich Raeder, Baldur von Schirach, Fritz Sauckel.
Führungsriege der NS-Diktatur auf der Anklagebank: Die Richter taten damals das, was ein Gericht tun soll, so Markus Ziener. © imago images / ITAR-TASS
Überlegungen von Markus Ziener · 19.11.2020
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Ein Bild, das nachwirkt: Ganz vorne sitzen die Nazi-Größen wie Göring, Heß und Keitel in Nürnberg auf der Anklagebank. Dieses Ereignis ist auch 75 Jahre später ein eminent wichtiges Symbol der Rechtsstaatlichkeit, meint der Journalist Markus Ziener.
Als Chefanklägerin Fatou Bensouda im Oktober in die sudanesische Hauptstadt Khartum reiste, ging es erneut um den ehemaligen Präsidenten des Landes, Umar al-Bashir. Seit 2008 liegt gegen Baschir ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes vor. Doch eine Auslieferung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers an das Gericht in Den Haag verzögert sich weiter.
Dabei ist das, was Baschir vorgeworfen wird, kaum in Worte zu fassen: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen. Begangen in der südlichen Region Darfur mit Hunderttausenden Toten.

Rechtsstaat statt Siegerjustiz

Die Verbrechen, die Baschir zur Last gelegt werden, klingen vertraut - es sind die gleichen, die vor 75 Jahren den Verantwortlichen des Nazi-Regimes vorgeworfen wurden. Göring, Heß, Ribbentrop und rund 20 andere Nazi-Größen mussten sich ab November 1945 vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg verantworten. Sie hatten den Tod von Millionen Menschen auf dem Gewissen.
Was die vier Alliierten trotz des unermesslichen Leids in Nürnberg versuchten, war, gerecht zu sein. Sie billigten damit den Angeklagten das zu, was diese ihren Feinden nie gewährten: Einen fairen Prozess, bei dem das Urteil nicht schon vorher feststeht.
Chefankläger Robert Jackson bezeichnete dieses Vorgehen als eines der größten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt habe. Gerechtigkeit statt Rache, Rechtsstaat statt Siegerjustiz.

Das Signal war gesetzt

Als schließlich ein knappes Jahr später in Nürnberg die Urteile gesprochen wurden, lag halb Europa noch in Schutt und Asche. Die Urteile, die aus dem Nürnberger Justizpalast nach außen drangen, wurden zur Kenntnis genommen, überwiegend mit Zustimmung. Viele Deutsche empfanden das Strafmaß - zwölf Todesurteile, sieben Gefängnisstrafen und drei Freisprüche - gar als zu milde.
Doch das Signal war gesetzt. Am Nürnberger Beispiel orientierten sich jetzt auch andere. Zunächst folgten weitere Prozesse gegen hochrangige Nationalsozialisten, gegen SS-Einsatzgruppen, gegen die Verantwortlichen für den Holocaust in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen.
Dann, später, in den 90er-Jahren die Tribunale zum ehemaligen Jugoslawien, zu Ruanda und Kambodscha. Schließlich die Gründung des Strafgerichtshofs in Den Haag, der 2002 seine Arbeit aufnahm und der seit 2012 von Fatou Bensouda aus Gambia geführt wird. In allen Fällen berufen sich die Gerichte und Tribunale auf das Nürnberger Vorbild, darauf, dass Gewalt nicht mit Gegengewalt, sondern mit den Mitteln des Rechtsstaats begegnet werden soll.

Niedere Reflexe überwinden

Die Geschichte von Nürnberg ist eine schöne Geschichte. Weil sie einen glauben lässt, dass die Menschheit am Ende doch Fortschritte macht. Dass sie es schafft, niedere Reflexe zu überwinden, dass Rache und Vergeltung nicht die Oberhand bekommen und dass es die Vernunft ist, die schließlich siegt.
Die Wahrheit jedoch ist ernüchternder. Wie nie zuvor in den letzten Jahrzehnten ist der Rechtsstaat Pressionen ausgesetzt. Juristen werden ernannt und ausgetauscht, um den Herrschenden gefällig zu sein. Unbeugsame Richter werden unter Druck gesetzt, um der Macht zu dienen.
Der Bericht über die Rechtsstaatlichkeit, den die Europäische Union vor wenigen Wochen erstmals vorgelegt hat, zeichnet ein düsteres Bild. Polen und Ungarn, aber auch Kroatien, Rumänien, die Slowakei und Bulgarien werden als Problemfälle genannt, weil dort die Unabhängigkeit der Gerichte in Gefahr ist. Und das ausgerechnet in Europa, auf jenem Kontinent, der im letzten Jahrhundert schon ein Übermaß an Rechtlosigkeit erlebt hat.

Bis heute ein wichtiges Beispiel

An die Nürnberger Prozesse zu erinnern bleibt deshalb auch nach so vielen Jahren eminent wichtig. Die Prozesse waren ein Leuchtturm nach dunkler Zeit - und sind es bis heute. Die Richter haben seinerzeit das getan, was ein Gericht tun soll. Fakten sammeln, Zeugen anhören, Anklage und Verteidigung Raum geben.
Unabhängige Gerichte sind eine Brandmauer gegen das Verdrehen und gegen die Bildung von Mythen und Legenden. Sie sind es heute wie vor 75 Jahren.

Markus Ziener, ist Autor, Journalist und Hochschulprofessor in Berlin. Er war Korrespondent in Moskau und Washington und berichtete mehrere Jahre aus dem Mittleren Osten.


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