Prozess gegen Pussy Riot spiegelt Zustand russischer Gesellschaft
Der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin hat den Prozess gegen die Punkband Pussy Riot als Lackmustest für die russische Gesellschaft bezeichnet. Die Machthaber entwickelten Angst vor der Revolution, andererseits habe das Volk nach wie vor Angst vor den Mächtigen. Dennoch reife die Bereitschaft zum Protest heran.
Andreas Müller: "Ein Toter legte sich schlafen, Aufs kahle, weiße Bett. Vorm Fenster Schneegestöber, So friedlich, still und nett…" Mit diesen Gedichtzeilen des russischen Dichters Alexander Blok beginnt der neue Roman von Vladimir Sorokin – "Der Schneesturm".
Sorokin, der vielen Kritikern als bedeutendster russischer Romancier der Gegenwart gilt, erzählt eine – offensichtlich im 19. Jahrhundert angesiedelte - Geschichte von Garin dem Landarzt, der so schnell wie möglich in ein Dorf gelangen muss, um einen wichtigen Impfstoff zu überbringen. Dort, in diesem Dorf, wütet eine mysteriöse Seuche. Doch diese Reise wird zu einem Trip voller Merkwürdigkeiten – ob Garin ankommt, lassen wir an dieser Stelle erst einmal offen.
Bei mit ist jetzt der Autor dieses Romans, Vladimir Sorokin, zu Gast. Guten Tag!
Vladimir Sorokin: Guten Tag!
Müller: Diese Zeilen von Blok, die Sie Ihrem Roman voranstellen, kann man die als Zustandsbeschreibung der aktuellen Situation in Russland lesen?
Sorokin: Da stellen Sie gleich eine metaphysische Frage. Eigentlich hat sich das russische Leben seit vielen hundert Jahren nicht mehr geändert. Und besonders im Winter spürt man das. Der Winter ist eigentlich so eine russische Zeitmaschine: Wenn man zehn Kilometer von Moskau entfernt ist und auch in einen Schneesturm gerät, so findet man sich im 19. Jahrhundert bestenfalls wieder und schlimmstenfalls im 16. Jahrhundert.
Müller: Die deutsche Journalistin Kerstin Holm hat kürzlich eine Reportage, einen Band mit Reportagen mit Impressionen aus Russland veröffentlicht, "Moskaus Macht und Musen". Und sie zeichnet darin, wie eine Kritikerin meinte, furchterregende Panoramen. Die Gesellschaft sei durchdrungen von Gewalt, Künstler allesamt desillusioniert, man fühle sich an die, Zitat, "sadistischen Alltagsvisionen Vladimir Sorokins" erinnert. Wollten Sie diesem Alltag entkommen, und haben Sie Ihre Geschichte deshalb im Schneesturm, also im 19., vielleicht sogar 16. Jahrhundert platziert?
Sorokin: Das ist eigentlich sehr genau beobachtet. Eigentlich, das moderne Leben Russlands, eins zu eins, also in der Sprache des Realismus zu beschreiben, ist eigentlich sehr langweilig. Man wird es sowieso nicht hinkriegen, dieses russische Leben eins zu eins, also direkt zu beschreiben. Da hilft eben nur eine Zeitmaschine, das heißt also, die Beschreibung aus der Vergangenheit oder aus der zukünftigen Perspektive. Russland lässt sich eigentlich am besten in der Sprache der Groteske beschreiben. So wie das Gogol oder Charms gemacht haben. Ich kenne keinen einzigen wirklich gelungenen russischen Roman, der mit realistischen Mitteln das russische Leben beschrieben hätte.
Müller: Interessanterweise steckt ja dieses Buch voller Anspielungen auf die Gegenwart, was für mich jetzt auch Sinn hat, wenn Sie sagen, im Winter reicht es, zehn Kilometer von Moskau entfernt zu sein, man gerät in einen Schneesturm und betritt sozusagen eine Zeitmaschine. Aber es hat natürlich auch groteske Züge, groteske Momente. Das zieht sich in den Erfindungen, die Sie da haben, ein seltsames Auto, das von 50 kleinen Pferden betrieben wird et cetera, so durch. Die Groteske tatsächlich dann als Methode, um klarzukommen mit der russischen Realität 2012?
Sorokin: Wenn man an "Die toten Seelen" von Gogol denkt, wo eigentlich das russische Leben des 19. Jahrhunderts genauso mit den Mitteln der Groteske beschrieben worden sind, können wir jetzt feststellen, so viel Zeit ist verstrichen, aber wir denken, wenn wir an die Archetypen Russlands denken, eigentlich in diesen Gestalten. Wir stellen uns Russland so vor, wie sie da beschrieben worden ist. Deswegen finde ich, dass die Sprache der Groteske eine sehr reiche Sprache ist.
Müller: Der Unterschied zwischen den Metropolen und der Provinz in Russland ist gewaltig. Auf dem Lande scheint man tatsächlich noch im 19. Jahrhundert zu leben. Ihr Held Garin findet aber, etwa in den Armen einer schönen Müllerin, ein wenig Trost. Andererseits dräut über allem stets der Schneesturm. Die Provinz bietet auch kein Refugium mehr vor dem Wahnsinn der Metropole. Russland – alles ist vorbei?
Sorokin: Als Iwan der Schreckliche im 16. Jahrhundert die Staatsmacht beziehungsweise den Staat aufgebaut hat, so hat er sozusagen eine Pyramide aufgestellt. Also oben war die Hauptstadt und unten, die Basis, war die Provinz. Und so hat sich eigentlich die Struktur, diese Konstruktion gar nicht geändert. Damals war es Iwan der Schreckliche, der hoch zu Ross geritten ist, und heute ist es Putin, der mit Mercedes fährt – aber der Sinn und die Konstruktion sind dieselben.
Und eine riesige Schlucht trennt einen Provinzler, einen aus der Provinz, und einen hauptstädtischen Beamten. Deswegen ist es auch ein sehr reichhaltiger Fundus, ein großes Geschenk für einen Schriftsteller, diese Konstellation, weil die Beziehungen, das Verhältnis zwischen einem Provinzler und einem hauptstädtischen Menschen sind schon seit Jahrhunderten schon, das ist schon die Groteske, wie sie kann nur sein. Und da braucht man sich ja gar nicht viel einfallen zu lassen als Schriftsteller. Man muss einfach nur ab und an in dieser Groteske sozusagen gewisse stilistische Korrekturen einfügen. Und dadurch, wie man das macht, unterscheiden sich die Schriftsteller untereinander.
Müller: Wieder spielen bei Ihnen die Chinesen eine Rolle. Die sind noch brutaler, noch skrupelloser, aber auch vitaler seltsamerweise als die russischen Protagonisten. Werden die Chinesen eines Tages den Laden Russland übernehmen?
Sorokin: Ich bin sicher, in 20 oder sogar zehn Jahren wird die zweite Sprache Russlands nicht eben Englisch, sondern Chinesisch sein. Man muss nicht unbedingt auf Sibirien hingucken, also selbst in Moskau gibt es sehr, sehr, sehr viele Chinesen, also ganz zu schweigen von Sibirien und fernem Osten. Das freut mich eigentlich, wenn man das genau sieht. Weil die Bevölkerung in Sibirien, also die russische Bevölkerung vor allem, ist komplett dem Alkohol verfallen und stirbt eigentlich aus nach all diesen Schrecknissen des 20. Jahrhunderts. Und die Chinesen bringen sich mit ihrer Energie und Vitalität und ihrer Lebenslust und -durst und ihrer Tüchtigkeit ein, und aus den russisch-chinesischen Familien kommen ganz gesunde und hübsche Kinder hervor. Und das lässt einen hoffen.
Müller: Sie hören Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem russischen Schriftsteller Vladimir Sorokin. In einigen Beispielen der aktuellen russischen Science-Fiction-Literatur, ich will da mal Dmitri Gluchowski mit "Metro 2033" sowie Aleksei Bobl und Andrei Levitski mit "Tekhnotma – Das wüste Land" werden garstige, post-apokalyptische, dystopische Szenarien entworfen. Russland ist vergiftet. Sie beschreiben mitunter einen psychedelischen Trip in Ihrem neuen Roman. Ein Trip, der sich auch schwerlich bewohnen lässt. Ist das die russische Gegenwartsliteratur?
Sorokin: Ja, tatsächlich, das ist eine der möglichen Perspektiven, um Russland zu sehen. Das ist tatsächlich die Gegenwartsliteratur. Und heutzutage schreibt man wirklich sehr viele Anti-Utopien. Das ist einfach so, und das hat tatsächlich auch mit der jüngsten Entwicklung und Geschichte zu tun. Es hat mit der Enttäuschung was zu tun. Zum anderen hat es ja natürlich damit zu tun, dass man des morgigen Tages nicht sicher ist und dass man auch Angst vor der Zukunft hat.
Also eigentlich beschäftige ich mich seit Längerem schon damit, wenn man an den "Himmelblauen Speck" zurückdenkt, das ist ja auch eine Anti-Utopie gewesen. Und für mich liegt es eigentlich daran, dass es im Wesen des russischen Menschen ist, sozusagen immer zerrissen zu sein zwischen den Erinnerungen an die Vergangenheit und den Hoffnungen an die Zukunft. Darin steckt ja auch eine gewisse Metaphysik des russischen Lebens.
Müller: Vor diesem Hintergrund will ich Sie natürlich auch zu den Ereignissen um Pussy Riot befragen. Es hat Protest gegen den Prozess, es hat Solidarität mit und für die Künstlerinnen gegeben. Kann in dem Land, über das wir gerade lange gesprochen haben, eine echte Protestkultur gedeihen oder siegt die Angst?
Sorokin: Genau dieses Phänomen von Pussy Riot und der Prozess gegen sie ist so wie ein Lackmuspapier, das genau das zeigt, wie der aktuelle Zustand der russischen Gesellschaft momentan ist. Zum einen zeigt das tatsächlich, dass die Macht, dass die Machthaber eine gewisse Nervosität entwickeln, dass sie Paranoia entwickeln, Angst vor der Revolution entwickeln. Andererseits besteht nach wie vor im Volk, also in der Bevölkerung, diese Angst vor den Mächtigen, vor der Macht, aber auch, dass diese Bereitschaft zum Protestieren, zum Protest, auch heranreift sozusagen. Wenn man aber die Kulturszene Russlands nimmt, so kann man feststellen, dass es sehr – also dass dieser Prozess um Pussy Riot sehr viel Leben wieder hineingebracht hat. Alles, vieles ist in Bewegung gekommen seitdem.
Müller: Sie selbst sind vor etwa zehn Jahren ins Visier des Systems geraten, weil mit ihrem Roman "Der Himmelblaue Speck" angeblich Pornografie verbreitet wurde. Wie haben Sie vor diesem Hintergrund, das selbst auch schon einmal erlebt zu haben, den Prozess gegen Pussy Riot erlebt?
Sorokin: Bei mir verlief alles viel milder eigentlich. Ich wurde nicht verhaftet und nicht ins Gefängnis geworfen. Das war nur der Anfang der Putinschen Ära. Wenn die damalige Geschichte mit mir also heute passiert wäre, dann ginge das ganz, ganz schlimmer aus.
Müller: In Ihrem Roman "Der Tag des Opritschniks" wurden Sie zu einem politischen Schriftsteller, grob gesagt. Sie schrieben die Schreckensvisionen eines russländischen Reiches im Jahr 2027. Durch eine große Mauer ist das Land vom Westen abgetrennt. Eine allmächtige Leibgarde des Kreml-Chefs terrorisiert die Bevölkerung. Sie haben es ein bisschen gerade angedeutet: Wie gefährdet ist der politische Schriftsteller Sorokin heute in Russland?
Sorokin: Also ich kann mich selbst nicht wirklich als einen politischen Schriftsteller bezeichnen. Aber wenn man an diesen Roman denkt, so hätte ich tatsächlich nicht erwartet, dass dieser Roman solche Diskussionen und so ein Echo hervorrufen würde, dass es dann bis heute noch immer wieder zitiert wird. Das ist gang und gäbe geworden inzwischen, dass ich Anrufe bekomme von Freunden oder Bekannten aus dem Anlass von irgendwelchen Ereignissen, sei es in der Duma oder im Kreml. Ich werde angerufen, und die sagen zu mir, das ist genauso passiert wie bei dir im Roman beschrieben worden war. Als Schriftsteller freut es mich natürlich, aber als Bürger bin ich sehr traurig darüber.
Müller: Vielen Dank, Vladimir Sorokin! Der Roman "Der Schneesturm" ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 17,99 Euro. Heute und morgen Abend liest Vladimir Sorokin in Hamburg. Und das Gespräch übersetzte für uns Aleksej Khairetdinov.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sorokin, der vielen Kritikern als bedeutendster russischer Romancier der Gegenwart gilt, erzählt eine – offensichtlich im 19. Jahrhundert angesiedelte - Geschichte von Garin dem Landarzt, der so schnell wie möglich in ein Dorf gelangen muss, um einen wichtigen Impfstoff zu überbringen. Dort, in diesem Dorf, wütet eine mysteriöse Seuche. Doch diese Reise wird zu einem Trip voller Merkwürdigkeiten – ob Garin ankommt, lassen wir an dieser Stelle erst einmal offen.
Bei mit ist jetzt der Autor dieses Romans, Vladimir Sorokin, zu Gast. Guten Tag!
Vladimir Sorokin: Guten Tag!
Müller: Diese Zeilen von Blok, die Sie Ihrem Roman voranstellen, kann man die als Zustandsbeschreibung der aktuellen Situation in Russland lesen?
Sorokin: Da stellen Sie gleich eine metaphysische Frage. Eigentlich hat sich das russische Leben seit vielen hundert Jahren nicht mehr geändert. Und besonders im Winter spürt man das. Der Winter ist eigentlich so eine russische Zeitmaschine: Wenn man zehn Kilometer von Moskau entfernt ist und auch in einen Schneesturm gerät, so findet man sich im 19. Jahrhundert bestenfalls wieder und schlimmstenfalls im 16. Jahrhundert.
Müller: Die deutsche Journalistin Kerstin Holm hat kürzlich eine Reportage, einen Band mit Reportagen mit Impressionen aus Russland veröffentlicht, "Moskaus Macht und Musen". Und sie zeichnet darin, wie eine Kritikerin meinte, furchterregende Panoramen. Die Gesellschaft sei durchdrungen von Gewalt, Künstler allesamt desillusioniert, man fühle sich an die, Zitat, "sadistischen Alltagsvisionen Vladimir Sorokins" erinnert. Wollten Sie diesem Alltag entkommen, und haben Sie Ihre Geschichte deshalb im Schneesturm, also im 19., vielleicht sogar 16. Jahrhundert platziert?
Sorokin: Das ist eigentlich sehr genau beobachtet. Eigentlich, das moderne Leben Russlands, eins zu eins, also in der Sprache des Realismus zu beschreiben, ist eigentlich sehr langweilig. Man wird es sowieso nicht hinkriegen, dieses russische Leben eins zu eins, also direkt zu beschreiben. Da hilft eben nur eine Zeitmaschine, das heißt also, die Beschreibung aus der Vergangenheit oder aus der zukünftigen Perspektive. Russland lässt sich eigentlich am besten in der Sprache der Groteske beschreiben. So wie das Gogol oder Charms gemacht haben. Ich kenne keinen einzigen wirklich gelungenen russischen Roman, der mit realistischen Mitteln das russische Leben beschrieben hätte.
Müller: Interessanterweise steckt ja dieses Buch voller Anspielungen auf die Gegenwart, was für mich jetzt auch Sinn hat, wenn Sie sagen, im Winter reicht es, zehn Kilometer von Moskau entfernt zu sein, man gerät in einen Schneesturm und betritt sozusagen eine Zeitmaschine. Aber es hat natürlich auch groteske Züge, groteske Momente. Das zieht sich in den Erfindungen, die Sie da haben, ein seltsames Auto, das von 50 kleinen Pferden betrieben wird et cetera, so durch. Die Groteske tatsächlich dann als Methode, um klarzukommen mit der russischen Realität 2012?
Sorokin: Wenn man an "Die toten Seelen" von Gogol denkt, wo eigentlich das russische Leben des 19. Jahrhunderts genauso mit den Mitteln der Groteske beschrieben worden sind, können wir jetzt feststellen, so viel Zeit ist verstrichen, aber wir denken, wenn wir an die Archetypen Russlands denken, eigentlich in diesen Gestalten. Wir stellen uns Russland so vor, wie sie da beschrieben worden ist. Deswegen finde ich, dass die Sprache der Groteske eine sehr reiche Sprache ist.
Müller: Der Unterschied zwischen den Metropolen und der Provinz in Russland ist gewaltig. Auf dem Lande scheint man tatsächlich noch im 19. Jahrhundert zu leben. Ihr Held Garin findet aber, etwa in den Armen einer schönen Müllerin, ein wenig Trost. Andererseits dräut über allem stets der Schneesturm. Die Provinz bietet auch kein Refugium mehr vor dem Wahnsinn der Metropole. Russland – alles ist vorbei?
Sorokin: Als Iwan der Schreckliche im 16. Jahrhundert die Staatsmacht beziehungsweise den Staat aufgebaut hat, so hat er sozusagen eine Pyramide aufgestellt. Also oben war die Hauptstadt und unten, die Basis, war die Provinz. Und so hat sich eigentlich die Struktur, diese Konstruktion gar nicht geändert. Damals war es Iwan der Schreckliche, der hoch zu Ross geritten ist, und heute ist es Putin, der mit Mercedes fährt – aber der Sinn und die Konstruktion sind dieselben.
Und eine riesige Schlucht trennt einen Provinzler, einen aus der Provinz, und einen hauptstädtischen Beamten. Deswegen ist es auch ein sehr reichhaltiger Fundus, ein großes Geschenk für einen Schriftsteller, diese Konstellation, weil die Beziehungen, das Verhältnis zwischen einem Provinzler und einem hauptstädtischen Menschen sind schon seit Jahrhunderten schon, das ist schon die Groteske, wie sie kann nur sein. Und da braucht man sich ja gar nicht viel einfallen zu lassen als Schriftsteller. Man muss einfach nur ab und an in dieser Groteske sozusagen gewisse stilistische Korrekturen einfügen. Und dadurch, wie man das macht, unterscheiden sich die Schriftsteller untereinander.
Müller: Wieder spielen bei Ihnen die Chinesen eine Rolle. Die sind noch brutaler, noch skrupelloser, aber auch vitaler seltsamerweise als die russischen Protagonisten. Werden die Chinesen eines Tages den Laden Russland übernehmen?
Sorokin: Ich bin sicher, in 20 oder sogar zehn Jahren wird die zweite Sprache Russlands nicht eben Englisch, sondern Chinesisch sein. Man muss nicht unbedingt auf Sibirien hingucken, also selbst in Moskau gibt es sehr, sehr, sehr viele Chinesen, also ganz zu schweigen von Sibirien und fernem Osten. Das freut mich eigentlich, wenn man das genau sieht. Weil die Bevölkerung in Sibirien, also die russische Bevölkerung vor allem, ist komplett dem Alkohol verfallen und stirbt eigentlich aus nach all diesen Schrecknissen des 20. Jahrhunderts. Und die Chinesen bringen sich mit ihrer Energie und Vitalität und ihrer Lebenslust und -durst und ihrer Tüchtigkeit ein, und aus den russisch-chinesischen Familien kommen ganz gesunde und hübsche Kinder hervor. Und das lässt einen hoffen.
Müller: Sie hören Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem russischen Schriftsteller Vladimir Sorokin. In einigen Beispielen der aktuellen russischen Science-Fiction-Literatur, ich will da mal Dmitri Gluchowski mit "Metro 2033" sowie Aleksei Bobl und Andrei Levitski mit "Tekhnotma – Das wüste Land" werden garstige, post-apokalyptische, dystopische Szenarien entworfen. Russland ist vergiftet. Sie beschreiben mitunter einen psychedelischen Trip in Ihrem neuen Roman. Ein Trip, der sich auch schwerlich bewohnen lässt. Ist das die russische Gegenwartsliteratur?
Sorokin: Ja, tatsächlich, das ist eine der möglichen Perspektiven, um Russland zu sehen. Das ist tatsächlich die Gegenwartsliteratur. Und heutzutage schreibt man wirklich sehr viele Anti-Utopien. Das ist einfach so, und das hat tatsächlich auch mit der jüngsten Entwicklung und Geschichte zu tun. Es hat mit der Enttäuschung was zu tun. Zum anderen hat es ja natürlich damit zu tun, dass man des morgigen Tages nicht sicher ist und dass man auch Angst vor der Zukunft hat.
Also eigentlich beschäftige ich mich seit Längerem schon damit, wenn man an den "Himmelblauen Speck" zurückdenkt, das ist ja auch eine Anti-Utopie gewesen. Und für mich liegt es eigentlich daran, dass es im Wesen des russischen Menschen ist, sozusagen immer zerrissen zu sein zwischen den Erinnerungen an die Vergangenheit und den Hoffnungen an die Zukunft. Darin steckt ja auch eine gewisse Metaphysik des russischen Lebens.
Müller: Vor diesem Hintergrund will ich Sie natürlich auch zu den Ereignissen um Pussy Riot befragen. Es hat Protest gegen den Prozess, es hat Solidarität mit und für die Künstlerinnen gegeben. Kann in dem Land, über das wir gerade lange gesprochen haben, eine echte Protestkultur gedeihen oder siegt die Angst?
Sorokin: Genau dieses Phänomen von Pussy Riot und der Prozess gegen sie ist so wie ein Lackmuspapier, das genau das zeigt, wie der aktuelle Zustand der russischen Gesellschaft momentan ist. Zum einen zeigt das tatsächlich, dass die Macht, dass die Machthaber eine gewisse Nervosität entwickeln, dass sie Paranoia entwickeln, Angst vor der Revolution entwickeln. Andererseits besteht nach wie vor im Volk, also in der Bevölkerung, diese Angst vor den Mächtigen, vor der Macht, aber auch, dass diese Bereitschaft zum Protestieren, zum Protest, auch heranreift sozusagen. Wenn man aber die Kulturszene Russlands nimmt, so kann man feststellen, dass es sehr – also dass dieser Prozess um Pussy Riot sehr viel Leben wieder hineingebracht hat. Alles, vieles ist in Bewegung gekommen seitdem.
Müller: Sie selbst sind vor etwa zehn Jahren ins Visier des Systems geraten, weil mit ihrem Roman "Der Himmelblaue Speck" angeblich Pornografie verbreitet wurde. Wie haben Sie vor diesem Hintergrund, das selbst auch schon einmal erlebt zu haben, den Prozess gegen Pussy Riot erlebt?
Sorokin: Bei mir verlief alles viel milder eigentlich. Ich wurde nicht verhaftet und nicht ins Gefängnis geworfen. Das war nur der Anfang der Putinschen Ära. Wenn die damalige Geschichte mit mir also heute passiert wäre, dann ginge das ganz, ganz schlimmer aus.
Müller: In Ihrem Roman "Der Tag des Opritschniks" wurden Sie zu einem politischen Schriftsteller, grob gesagt. Sie schrieben die Schreckensvisionen eines russländischen Reiches im Jahr 2027. Durch eine große Mauer ist das Land vom Westen abgetrennt. Eine allmächtige Leibgarde des Kreml-Chefs terrorisiert die Bevölkerung. Sie haben es ein bisschen gerade angedeutet: Wie gefährdet ist der politische Schriftsteller Sorokin heute in Russland?
Sorokin: Also ich kann mich selbst nicht wirklich als einen politischen Schriftsteller bezeichnen. Aber wenn man an diesen Roman denkt, so hätte ich tatsächlich nicht erwartet, dass dieser Roman solche Diskussionen und so ein Echo hervorrufen würde, dass es dann bis heute noch immer wieder zitiert wird. Das ist gang und gäbe geworden inzwischen, dass ich Anrufe bekomme von Freunden oder Bekannten aus dem Anlass von irgendwelchen Ereignissen, sei es in der Duma oder im Kreml. Ich werde angerufen, und die sagen zu mir, das ist genauso passiert wie bei dir im Roman beschrieben worden war. Als Schriftsteller freut es mich natürlich, aber als Bürger bin ich sehr traurig darüber.
Müller: Vielen Dank, Vladimir Sorokin! Der Roman "Der Schneesturm" ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 17,99 Euro. Heute und morgen Abend liest Vladimir Sorokin in Hamburg. Und das Gespräch übersetzte für uns Aleksej Khairetdinov.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.