Wie in einem Brennglas der Gesellschaft
Der Schock war groß, als nach einer Prügelattacke der 17-jährige Niklas in Bad Godesberg starb. Heute beginnt der Prozess gegen zwei Verdächtige. Der örtliche Pfarrer Wolfgang Picken erzählt, wie Bevölkerung und Politik einen konstruktiven Weg gefunden haben, mit den Folgen der Tat umzugehen.
Vor dem Bonner Landgericht beginnt heute der Prozess gegen zwei junge Männer, die im Verdacht stehen, die Schuld an dem gewaltsamen Tod des 17-jährigen Niklas zu tragen, der im vergangenen Mai bei einer Prügelattacke in Bonn-Bad Godesberg starb. Einer soll Niklas getötet haben, der andere ist als Mittäter angeklagt. Beide Beschuldigte bestreiten die Tat und saßen bisher in Untersuchungshaft.
Sorge vieler Eltern
"Der Protest vor Ort war so stark, dass die Politik eigentlich gar nicht anders konnte, als sich nochmal neu mit dem Fall auseinanderzusetzen", sagte der Pfarrer Wolfgang Picken aus dem Bonner Stadtteil Bad Godesberg im Deutschlandradio Kultur. Die Bevölkerung sei über den Vorfall extrem betroffen gewesen, zumal er sich mitten im Stadtzentrum ereignete. Es sei vor allem Eltern so vorgekommen, als hätte diese brutale Tat jederzeit auch ihr Kind treffen können.
Schere zwischen Arm und Reich
Der Pfarrer sagte, die Medien hätten offengelegt, dass es soziale Spannungen in der Gesellschaft gebe, die zu dem Fall beigetragen hätten. Picken sprach von einer "Schere zwischen Arm und Reich" und zwischen Jugendlichen, die einen Zugang zu Bildung hätten und Jugendlichen ohne diesen Zugang. "Wir erleben hier in Bad Godesberg ein Konfliktpotential wie in einem Brennglas der Gesellschaft", sagte Picken. Das sei geradezu stellvertretend für das ganze Land. Es gebe in Godesberg viele Leute mit sehr viel Geld und viele Leute, die da nicht mehr mitkämen." Gerade bei jungen Leuten gebe es viel Aggression, die sich in solchen Gewalttaten entladen könne.
Kompliment für die Politik
Lobende Worte fand der Pfarrer für die lokale Politik, die auf die Ereignisse schließlich angemessen reagiert habe. Nach anfänglichem Zögern hätten Oberbürgermeister und Polizeipräsidentin von Bonn das Thema zur Chefsache erklärt und zu einem Runden Tisch eingeladen. "Ich habe das so auch noch nicht erlebt, dass die Spitze einer ganzen Stadt mit allen Dezernenten zu dieser Runden Tisch Veranstaltung kommen sollte, um zu schauen, was müssen wir direkt tun", sagte er.
Es gebe eine stärkere Polizeipräsenz und neue Lichtkonzepte in Bad Godesberg, aber auch ein langfristiges Programm zur Gewaltprävention. Kontaktbeamte der Polizei suchten sehr gezielt den Kontakt zu Jugendlichen. "Man muss wirklich sagen, es hat sich etwas getan, es ist etwas in Bewegung gekommen", sagte Picken.
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Der Ort, an dem der 17-jährige Niklas so heftig verprügelt worden ist, dass er später daran gestorben ist, der ist bis heute zu erkennen. Ein Holzkreuz markiert das Rondell im Bonner Stadtteil Bad Godesberg, das zum Tatort und dann kurz darauf auch zum Gedenkort geworden ist. Da stehen Schulfotos, Kinderfotos und mit einem Filzstift hat da jemand draufgeschrieben: "Niklas R.I.P unvergessen". In der Nacht auf den 7. Mai 2016 hat sich an diesem Ort ja nach Lage der Dinge Dramatisches abgespielt, und zwar ist Niklas so schwer getreten worden, dass er wie gesagt danach an diesen Folgen gestorben ist. Und heute beginnt der Prozess. Wolfgang Picken ist Pfarrer in Bad Godesberg, einen schönen guten Morgen!
Wolfgang Picken: Einen wunderschönen guten Morgen!
Brink: Wie hat denn Bad Godesberg, wie haben die Menschen dort auf diesen Fall reagiert, und wie reagieren sie bis heute?
Picken: Die Bevölkerung hier in Bad Godesberg ist extrem betroffen, was sicherlich zum einen daran liegt, dass dieser Ort, an dem Niklas gestorben ist, direkt im Mittelpunkt der Stadt sich befindet, in der Nähe des Bahnhofs. Gefühlt geht da jeder Godesberger mehrfach am Tag entlang, eigentlich ist jedem damit klargeworden: Diese plötzliche und brutale Tat hätte einen persönlich immer treffen können. Und ich denke, besonders betroffen, fast versteinert zu dem Zeitpunkt, als diese Tat geschah, waren Eltern, die alle genau wussten: Es hätte auch ihr Kind sein können auf dem Weg zur Schule, auf dem Weg von einer Party oder Feier. Und das hat zu einer großen Solidarität auch mit der Mutter beigetragen und ein extremes Bedürfnis hier vor Ort wachgerufen, dass sich etwas im Stadtteil ändern muss, damit diese Angst um die eigenen Kinder und um sich selbst nicht immer mit einem geht.
Brink: Dann war ja doch nicht alles in Ordnung in diesem Stadtteil, denn die Politik hat ja erst versucht eigentlich, den Fall herunterzuspielen. Hat sich das geändert?
Picken: Ja, also, ich denke, das ist glaube ich eine ganz normale Reaktion, die wir als Bürger ja kennen und die wir ja auch nicht sehr von der Politik lieben, dass man zunächst immer versucht, deutlich zu machen, es ist alles irgendwie so wie immer und es hätte auch woanders passieren können. Aber der Protest vor Ort war so stark, dass die Politik eigentlich gar nicht anders konnte, als sich noch mal neu mit dem Fall, der Situation auseinanderzusetzen. Es gab ja auch vor einem Dreivierteljahr dann eine große Unterstützung der Medien, die das mit aufgedeckt haben, es gibt eine Geschichte hinter dieser Geschichte, es gibt soziale Spannungen – natürlich nicht nur in Bad Godesberg, überall in der Gesellschaft –, über die wir gerne hinwegschauen. Eine …
Soziale Spannungen und Agression
Brink: Was sind das für soziale Spannungen, damit wir das verstehen können?
Picken: Das ist eine Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Jugendlichen, die einen Zugang zu Bildung haben und nicht zu Bildung haben, das ist sicherlich auch noch mal eine große Spannung zwischen Kulturen und Religionen, und wir erleben hier in Bad Godesberg ein Konfliktpotenzial wie in einem Brennglas der Gesellschaft. Man könnte sagen, vielleicht stellvertretend auch für das ganze Land kommt das hier besonders zum Ausdruck.
Wir haben hier in Bad Godesberg sehr viele Leute mit sehr viel Geld und sehr viele Leute, die einfach nicht mehr mitkommen in dieser Gesellschaft, und es gibt viel Frustration bei jungen Leuten, die sich dann in Aggression und solchen Dingen entladen kann. Und deshalb ist es wichtig, dass man genauer hinschaut und sieht, was können wir präventiv tun, was müssen wir direkt tun, damit solche Dinge nicht wieder passieren können.
Brink: Hat das auch eine Rolle gespielt – und das ist ja dann auch irgendwie thematisiert worden –, dass einer der mutmaßlichen Täter ein gebürtiger Italiener mit marokkanischen Wurzeln ist?
Picken: Ja, es hat natürlich immer wieder so den Blick auf diese Frage gegeben, also ist da … So der Klassiker: Spielt Migrationshintergrund eine Rolle? Aber ich sage, gerade der Fall, dass es jemand ist mit europäischen und mit afrikanischen Wurzeln, hat so ein bisschen diese Torte, das als populistisches Moment aufzugreifen, genommen. Also, wir stehen eigentlich alle ratlos dazu, sowohl Europäer als auch Afrikaner, Muslime wie Christen sind eigentlich durch den Fall betroffen.
Und das ist eigentlich auch wirklich eine große Chance, diese Situation, dieser Fall eignet sich nicht für die klassischen Klischees. Und man kann auch beobachten, in Bad Godesberg hat das auch nicht zu so einer polarisierenden Debatte mit Blick auf Ausländer oder Muslime geführt, sondern da ist Gott sei Dank eine sehr nüchterne Auseinandersetzung gewesen.
Mehr Polizei und ein Präventionskonzept
Brink: Was ist denn passiert – Sie haben es angedeutet – nach diesem Fall, im Stadtbild, in der Gesellschaft als Reaktion darauf?
Picken: Also, hier muss man jetzt sagen, dass man eigentlich der Politik ein großes Kompliment machen muss, nachdem am Anfang dieser Zögerer da war, hat die Politik, haben der Oberbürgermeister und die Polizeipräsidentin von Bonn das zur Chefsache gemacht. Es gab einen runden Tisch, ich habe das so auch noch nicht erlebt, dass die Spitze einer ganzen Stadt mit allen Dezernenten zu diesen Runder-Tisch-Veranstaltungen kommen sollte, um zu schauen, was müssen wir direkt tun, was müssen wir nachhaltig und langfristig auf die Beine bringen?
Jetzt hat es also eine stärkere Präsenz von Polizei, mehr Kontrolle gegeben, zusätzliche Ordnungsbeamte, seit Anfang Januar gibt es sogenannte Polizei-Jugend-Kontaktbeamte, die wirklich gezielt auf jugendliche Gruppen zugehen, um ihnen gar nicht erst dunkle Räume zu geben oder sie auch ein bisschen in diesem Gruppenbildungsprozess zu stören. Es gibt Rückschnitt, neue Lichtkonzepte, es gibt für die ganze Stadt Bonn ein Präventionskonzept, das in Erarbeitung ist, dass wir wirklich versuchen, die Frage, wie gehe ich mit Aggression, wie gehe ich mit Frustration um, schon vom Kindergarten an als durchgängiges Konzept bis zur weiterführenden Schule zu organisieren, inklusive der Beteiligten an der Jugendarbeit.
Also, man muss wirklich sagen: Es hat sich was getan, es ist etwas in Bewegung gekommen. Eine Gewaltproblematik braucht ja Zeit, bis sie sich so entwickelt, wie wir sie heute sehen, es wird auch Zeit brauchen, bis sich das wieder zurückentwickelt. Aber die Bürger hier vor Ort merken schon: Das Sicherheitsgefühl ist größer geworden, man hat auch Vertrauen in die politisch Verantwortlichen, weil sie sich der Sache annehmen - eigentlich eine sehr konstruktive Ausgangslage.
Der Prozess ist wichtig für die Bevölkerung
Brink: Nun beginnt heute der Prozess. Was hat er für eine Bedeutung für die Godesberger? Oder für Sie auch?
Picken: Ja, ich glaube, das hat große Bedeutung, weil in so einer Situation, wenn es darum geht, wie begegnet man Gewalt und was könnte präventiv sein, ist natürlich in unseren Köpfen auch immer, dass die Art und Weise, wie Recht gesprochen wird, welches Rechtsmaß wird ausgenommen, was ist eigentlich wirklich passiert und was ist die Reaktion einer Gesellschaft, eines Staates, einer Rechtsordnung darauf, spielt für die Bürger eine ganz große Rolle. Und ein halbes Jahr lang, ein Dreivierteljahr hat das so in der Luft gehangen, man hat irgendwie von dem einen oder anderen irgendwas über den Prozess gehört, in den Medien davon erfahren.
Aber niemand weiß so wirklich, was ist die Wahrheit dieser Nacht und was sind die Folgen eines Rechtsstaates, wie wird er dem begegnen? Und deshalb ist es, ich sage mal, in dem Weg, also, um in dem Schritt, in der Auseinandersetzung etwas nach vorne zu kommen, ganz wichtig für die Bevölkerung hier vor Ort, natürlich auch für die Angehörigen.
Brink: Vielen Dank, Wolfgang Picken, Pfarrer in Bad Godesberg. Danke für das Gespräch, Herr Picken!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.