Prozessphilosophie

Eine Abkehr vom "Ich"

09:26 Minuten
Verwischte Straßanaufnahme bei Nacht mit einem Spaziegänger, der sich mit einem Schirm vor dem Regen schützt.
"Für mich ist der Begriff 'ich' leer, solange wir ihn nicht mit einer Tätigkeit verknüpfen", sagt Markolf Niemz. © pexels / Zeeshaan Shabbir
Markolf Niemz im Gespräch mit Christopher Ricke |
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Nur im Handeln gibt es ein "Ich": Das ist der Denkansatz der Prozessphilosophie. Der Biophysiker Markolf Niemz nennt selbst Gott einen Vorgang und versucht so, die Frage zu beantworten: Warum lässt Gott so viel Leid und Elend zu?
Christopher Ricke: Corona, Gewaltverbrechen, Terrorismus, Krieg, Krebs. Jemand, der eher eine pessimistische Grundstimmung hat, hat es wirklich leicht, schwarz zu sehen. Auch gläubige Menschen haben es manchmal schwer, die fragen sich dann: Kann das alles Gottes Wille sein? Warum lässt er das zu, warum wird das nicht verhindert?
Da gibt es natürlich theologische Erklärungen, wir versuchen es aber mal naturwissenschaftlich und prozessphilosophisch mit dem Heidelberger Professor Markolf Niemz. Der hat ein neues Buch geschrieben, das uns vielleicht weiterhilft: "Wie geht Leben?"
Eine zentrale Frage ist da ja, lebe ich mein Leben, als aktive, selbstbestimmte Person, oder werde ich von irgendwas, meinetwegen vom Schicksal, gelebt?
Markolf Niemz: Das ist eine sehr spannende Frage. Auf den ersten Blick scheint es so, als könne jeder von uns sein Leben frei gestalten, aber wenn wir dann genauer hinschauen, erkennen wir, dass wir permanent mit unserem Umfeld wechselwirken und dass es uns als isolierte Individuen eigentlich gar nicht gibt. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass wir im Grunde keine eigene Identität haben, sondern dass wir uns mit jeder Erfahrung, die wir machen, verändern. Nicht ich führe jeden Tag irgendwelche Tätigkeiten aus, sondern alle diese Tätigkeiten machen mich zu dem, was ich bin.
Ricke: Können Sie mir das an einem Beispiel erklären?
Niemz: Nun, ich denke ja. Jede Zuhörerin und jeder Zuhörer kann ja selbst bestimmen, ob er oder sie jetzt das Radio einschaltet oder nicht. Wir können auch frei wählen, welches Radioprogramm wir hören. Aber da endet unsere Freiheit auch schon. Denn hätte niemand das Radio erfunden, dann könnten wir es auch nicht hören. Was ich sagen will: Unser Leben ist viel stärker von unserem Umfeld und vom Tun unserer Mitmenschen geprägt, als es uns bewusst ist.

Erst durchs Handeln entsteht ein "Ich"

Ricke: Was bedeutet denn das jetzt zum Beispiel für mich? Ich habe ja ein Bewusstsein, ich habe eine Erinnerung, ich habe Erfahrungen gemacht, ich habe gelesen, gehört, gelernt, geschmeckt, gefühlt. Wenn ich jetzt mein Leben als solchen Prozess betrachte, was bleibt dann für mich?
Niemz: Da müssen wir erst mal ein paar Begriffe klären, zunächst den Begriff "ich". Wer oder was ist eigentlich das Ich? Für mich ist der Begriff "ich" leer, solange wir ihn nicht mit einer Tätigkeit verknüpfen, ich bin immer das, was ich gerade tue. Wenn ich lese, dann bin ich lesend, wenn ich Radio höre, dann bin ich Radio hörend.
Sie haben auch vom Begriff Bewusstsein gesprochen: Was ist eigentlich Bewusstsein? In meinem Buch definiere ich Bewusstsein als die Fähigkeit, eine zunächst materiell erfolgte Wahrnehmung geistig zu verarbeiten und zu erkennen. Das Verarbeiten und Erkennen erfolgt im Gehirn, und da haben Sie recht, das Gehirn ist in der Lage zu speichern, was ich im Laufe meines Lebens erfahre, lese, höre oder schmecke, es dokumentiert all das. Aber ich bin nicht das, was ich erfahre, und ich bin auch nicht immer eine gleichbleibende Person, die mal dies und mal das erfährt, sondern ich bin das Erfahren selbst.
Ricke: Da verlassen wir natürlich alte Erklär- und Denkmuster. Es ist immer schwierig, wenn man aus dem eigenen Denkmuster aussteigen will, das wissen wir seit zweieinhalbtausend Jahren, seit Platons Höhlengleichnis. Hat Ihnen dabei jemand geholfen?
Niemz: Tatsächlich haben Platon und die alten Griechen damals mein Interesse an der Philosophie geweckt. Denn in der Schule hatte ich Altgriechisch als Leistungsfach, und da habe ich gelernt, wie Sokrates alte Denkmuster zu hinterfragen. Hinzu kam dann mein Studium der Physik, bei dem mich vor allem fasziniert hat, wie präzise und objektiv die Sprache der Natur ist, nämlich die Mathematik. Irgendwann bin ich dann auf den britischen Mathematiker und Philosophen Alfred North Whitehead und dessen Prozessphilosophie gestoßen. Wenn Sie mich fragen, ist kein Mensch der Wahrheit bisher näher gekommen als er.

Viren als höchste Kommunikationsform der Biologie

Ricke: Sie beschäftigen sich ja – und das passt in die aktuelle Zeit – auch mit Bakterien und Viren und nennen Virenmutationen eine Evolution und die Viren tatsächlich als Beispiel dafür, dass die ganze Welt auf Prozessen beruht. So freundlich habe ich noch nie auf Viren gesehen!
Niemz: Virolog*innen begreifen ja Viren als infektiöse organische Strukturen. Es handelt sich nicht um Lebewesen, weil Viren keinen eigenen Stoffwechsel haben und sich nur in Wirtszellen vermehren können. Aber wenn wir uns Viren mal etwas genauer anschauen, dann stellen wir fest, dass sie im Wesentlichen aus DNA bestehen. Das heißt, was ein Virus zu einem Virus macht, ist sein genetisches Programm, und dieses Programm lautet in unsere Sprache übersetzt: Informiere dein Umfeld. Für den amerikanischen Biologen Bruce Lipton sind Viren sogar die höchste Kommunikationsform in der Biologie. Ich gehe jetzt noch einen Schritt weiter und sage, ich ersetze das Substantiv Virus durch die Verbform virend, gleichbedeutend mit informierend.
Ricke: Wir beschäftigen uns ja in dieser Stunde mit Akzeptanz. Wir haben von Buddhisten gehört, über Dietrich Bonhoeffer informiert, nachher geht es noch um Palliativpatienten, die versuchen, leichten Herzens in den Tod zu gehen, wenn nämlich dieser große Prozess, der ja das Leben ist, wenn dieses irdische Leben endet. Jetzt haben es gläubige Menschen manchmal leichter, weil sie eine Perspektive haben. Wie würden Sie denn selbst mit einer Diagnose umgehen?
Niemz: Das ist eine tolle Frage, das hat so mich noch niemand gefragt, aber ich gebe Ihnen recht: Gläubige Menschen haben es sicher leichter zu sterben, weil sie an etwas glauben, was ihrem gelebten Leben einen Sinn gibt. Das Problem ist nur, was ist, wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllt? Ich will niemandem die Hoffnung nehmen, denn Akzeptanz bedeutet ja, das Weltbild von Andersdenkenden anzuerkennen.
Lassen Sie mich kurz nachdenken. Ich denke, wenn ich die Diagnose bekäme, dass mein Leben bald zu Ende geht, dann würde ich mir wohl als Erstes die Frage stellen, ob ich bereit bin zu gehen. Und ja, dann käme mir das in den Sinn, was ich auch bei meinen Lesungen immer wieder lehre: Das Einzige, was von uns bleibt, ist Licht. Weil wir permanent Licht abstrahlen, ist unser gesamtes Leben im Licht gespeichert. Also würde ich meine verbleibenden Tage und Stunden wohl damit verbringen, diesen Speicher weiterhin mit dem Wertvollsten zu füllen, zum Beispiel indem ich meine Liebsten in den Arm nehme und ihnen sage, wie sehr ich sie liebe.

Warum sollte nicht auch Gott fühlen und lernen dürfen?

Ricke: Wenn wir die ganze Welt so als Prozess betrachten und ich Ihrer Logik folge, dann müsste man ja auch Gott als Prozess betrachten. Jetzt nehme ich mal den christlichen, der wird als dreifaltiger Gott verstanden, als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Wie passt das, wenn einer gleich in drei Personen auftritt, zu diesem Prozessverständnis?
Niemz: Ich denke, er passt sehr, sehr gut, denn in meinem Buch präge ich ja erst mal dieses Wort "gottend". Auch Gott, denke ich, steht für eine Verbform, nämlich einmal für schöpfend, also für den Vater beziehungsweise den Schöpfer, dann aber auch für die Verbform "geschöpft", das heißt, für den Sohn Jesus Christus beziehungsweise die Schöpfung, und schließlich auch noch für die Verbform lebend, also für das, was uns Leben einhaucht beziehungsweise den Heiligen Geist.
Diese Auffassung von Gott ist nicht neu, wir finden sie in den mystischen Traditionen aller Weltreligionen. Warum sollte nicht auch Gott fühlen und lernen dürfen? Das Schöne an dieser Vorstellung ist, dass die Frage, warum Gott das alles zulässt, damit überflüssig wird. Denn diese Theodizee-Frage setzt ja voraus, dass Gott ein externer Schöpfer sei, der beliebig in seine Schöpfung eingreifen und das Böse verhindern könne. Wenn Gott aber zugleich die Schöpfung und damit auch alles Leben ist, dann kann dieser Gott ja gar nicht von außen eingreifen, eben weil er auch mitten drin ist. Er kann aber mitfühlen und er kann aus dem Bösen lernen. Diese Vorstellung macht ihn mir sehr sympathisch.

Glück kann man nicht haben

Ricke: Was macht diese Sichtweise mit einem Weltbild? Wenn ich mehr Akzeptanz von mir selber fordere, fordere ich dann automatisch auch mehr Dankbarkeit und komme zu mehr Glück?
Niemz: Ich denke ja. Wenn wir Menschen begreifen, dass wir keine Individuen sind, sondern Menschende, wie ich es nennen, dann wird dasjenige immer mehr verschwinden, was der Akzeptanz im Wege steht. Ich spreche vom Ich-Wahn. Fehlende Akzeptanz rührt doch immer daher, dass jemand sich selbst als wertvoller begreift als andere. Mein Wunsch wäre es, wenn wir alles Leben als wertvoll begreifen, indem wir uns einfach vorstellen, dass wir ein Mitwirken sind in diesem gigantischen Prozess, den wir Leben nennen. Wir würden dann auch erkennen, wie wertvoll das Leben ist, das uns geschenkt wurde. Das würde sicher zu mehr Dankbarkeit führen.
Und was das Glück betrifft, lassen Sie mich es so formulieren: Glücklich kann man ja nicht haben, sondern nur sein. Der Schlüssel zum Glücklichsein liegt also in dem, was ich bin, und nicht in dem, was ich habe. Und was bin ich? Nun, gemäß unserem heutigen Gespräch bin ich ein Prozess, ein Mitfühlend und Mitlernend in diesem Kosmos. Wir müssen also nur wertschätzen zu lieben und zu verstehen, und schon werden wir glücklich sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Markolf H. Niemz: "Wie geht leben? In Prozessen denken, verstehen und gesunden"
Allegria-Verlag 2021
192 Seiten, 20 Euro

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