Psychiater fürchtet mehr Rückfälle bei Depression
Der Leiter der Klinik für Psychiatrie an der Uni Leipzig, Ulrich Hegerl, fürchtet das öffentliche Echo auf eine Studie zur Wirksamkeit von Antidepressiva. Sollten die Studienergebnisse verzerrt dargestellt werden, könnte dies zu einer hohen Rückfallquote bei Depressionen und vermehrten Suiziden führen, fürchtet er. Dabei zeige diese Studie, dass die Medikamente bei der Rückfallverhütung äußerst wirksam seien.
Marie Sagenschneider: Hochgelobt, kostspielig, wirkungslos: Was eine britische Studie über Antidepressiva herausgefunden hat, bringt manchen ins Grübeln. Denn darin heißt es: Antidepressiva sind kaum wirksamer als ein Placebo. ( ... )
Wir sind nun verbunden mit Professor Ulrich Hegerl. Er ist Direktor der Klinik für Psychiatrie an der Universität Leipzig und auch Sprecher des bundesweiten Forschungsprojekts "Kompetenznetz Depression". Guten Morgen, Herr Hegerl!
Professor Ulrich Hegerl: Guten Morgen, Frau Sagenschneider!
Sagenschneider: Stimmt das, was wir gerade gehört haben, alles nur Placebo? Was ist von dieser Studie zu halten?
Hegerl: Ja, da muss man genau hingucken bei solchen Studien, denn das ist alles leider etwas kompliziert. Was die gefunden haben in dieser Studie, das ist zunächst mal, dass unter dem Antidepressivum die depressive Symptomatik deutlich besser geworden ist. Und die wurde auch signifikant besser als der Verlauf unter Placebo. Unter beiden hat es sich gebessert, aber signifikant deutlicher unter dem Antidepressivum. Aber die Differenz zwischen den beiden, die war nicht sehr groß. Und das ist sozusagen ihr Punkt. Bei beiden wird es besser, auch etwas mehr unter dem Antidepressivum, aber nicht viel mehr als unter Placebo. Das ist die korrekte Aussage. Und jetzt kann man sich fragen, warum das so ist.
Sagenschneider: Frage ich mal. Warum denn?
Hegerl: Da gibt es viele Gründe. Das eine ist, dass in diesen Studien ein immenser Aufwand gemacht wird. Das heißt, auch der, der ein Placebo bekommt, bekommt stundenlange Zuwendung. Der wird betreut, der bekommt Skalen vorgelegt, der wird beraten und aufgeklärt und aktiviert. Und das hat natürlich sehr viel Hoffnungsvermittelndes, und damit gibt es einen riesigen Placeboeffekt. Den hat man aber im täglichen Versorgungsgeschäft, beim Hausarzt oder so, natürlich nicht. Der hat vielleicht 20 Minuten, aber nicht zwei, drei Stunden und das jede Woche.
Sagenschneider: Aber dann könnte man ja sagen, geben wir den Leuten Placebo plus mehr Zuwendung, und dann hätten wir den gleichen Effekt und ersparen uns Nebenwirkungen, und was sonst noch Unschönes dabei ist.
Hegerl: Na, wenn Sie das Geld dafür haben, dass Sie bei einem Depressiven viele, viele Stunden ihn betreuen, das würde unser Gesundheitssystem zum Zusammenbruch bringen. Das können wir natürlich nicht leisten. Das ist ein Riesenaufwand, der da betrieben wird. Und das erklärt eben den großen Placeboeffekt.
Ein anderer Punkt ist, dass in diesen Studien Patienten eingeschlossen werden, die bereits mehrfach behandelt worden sind, und natürlich kommen nur die, die immer noch depressiv sind, das heißt nicht angesprochen haben auf das Medikament. Man hat in diesen Studien eine Auswahl der Patienten, die nicht gut ansprechen. Und deswegen sind die Ergebnisse manchmal auch nicht so, wie man es erwarten würde aufgrund der Erfahrung, die man im klinischen Alltag damit macht.
Ein anderer Punkt ist, dass diese Medikamente, was die Rückfallverhütung angeht, ihre Wirksamkeit sehr deutlich belegt haben. Da ist der Placebo-Verum-Unterschied sehr, sehr groß. Das Risiko, wenn man jetzt eine längerfristige Behandlung macht, wieder eine Depression zu kriegen, die kann man um 60, 70, 80 Prozent senken durch das Medikament gegenüber Placebo. Da ist der Effekt dann sehr, sehr stark.
Drum ist meine große Sorge bei dieser Studie, dass viele Patienten verunsichert werden, vielleicht auch Hausärzte, und die Medikamente dann nicht mehr eingenommen werden und abgesetzt werden und die Patienten wieder Depressionen kriegen und vielleicht auch wieder suizidal werden. Ich mach mir eine große Sorge über das öffentliche Echo auf diese Studie.
Sagenschneider: Welche Erklärung, Herr Hegerl, haben Sie denn dafür, dass die Studie ganz anders interpretiert wird, als Sie das gerade getan haben? Eine Interpretation, bei der am Ende ja übrig bleibt die Erkenntnis oder die Aussage, das bringt alles gar nicht so viel. Da fragt man sich ja, welches Interesse könnte dahinter stecken. Wäre es gerade umgekehrt, dann würde man sofort die Pharmaindustrie verdächtigen, aber so?
Hegerl: Ich möchte jetzt nicht hier dem Herrn Kirsch irgendwie unterstellen, weil er Psychologe ist, dass er die Medikamente schlecht reden will. Das sind im Grunde Details der Interpretation. Er hat ja auch nichts Falsches geschrieben. Das ist ja gar nicht der Punkt, sondern die Frage, was man draus macht. Man kann aus diesen Studien, in denen es um den Nachweis der Wirksamkeit geht, nicht rückschließen, wie groß ist der Nutzen im Versorgungsalltag. Das geht nicht, weil hier kommen noch andere Faktoren dazu. Wenn Sie beim Patienten, der zu mir kommt, wenn ich den behandele, dann gebe ich ein Antidepressivum. Und wenn ich nach zwei Wochen sehe, es wird nicht besser, was mache ich? Ich stelle um auf ein anderes. Und das ist in der Studie nämlich gar nicht berücksichtigt, dass man ja die Möglichkeit hat, wenn das eine nicht wirkt, ein anderen Wirkansatz zum Tragen zu bringen und damit erneut die Chance zu verbessern.
Insofern schaut der Versorgungsalltag ganz anders aus, als diese hochspezialisierten Studien, die nur die prinzipielle Wirksamkeit nachweisen wollen. Und die ist ja erbracht. Dem widerspricht ja auch der Herr Kirsch nicht, dass sie statistisch besser sind als Placebo, die Antidepressiva. Dem wird gar nicht widersprochen.
Sagenschneider: Und wie, Herr Hegerl, testet man überhaupt solche Medikamente und Stoffe? Wir reden ja hier von einem gigantischen Markt, und regelmäßig kommen neue Präparate hinzu. Wie finden Sie als Mediziner heraus, was wirkt und was für wen am besten ist?
Hegerl: Das ist die Aufgabe der Zulassungsbehörden. So ein Medikament wird ja nur zugelassen, wenn es Studien vorliegt, und dann müssen übrigens alle Studien vorgelegt werden. Da kann die Firma keine Studien zurückhalten, den Zulassungsbehörden müssen Sie alle vorlegen, auch die negativen. Und die schauen sich die Studien an, und wenn da die Hinweise sind, dass es Wirksambelege hat, das Medikament, und auch sonst Vorteile, dann wird es zugelassen. Sonst wird es ja gar nicht zugelassen.
Sagenschneider: Aber es muss ja dann auch zu dem entsprechenden Patienten passen?
Hegerl: Ganz genau. Bei der Auswahl, beim einzelnen Patienten, welches Antidepressivum ich nehme, das spielt viel eine Rolle, vor allem die Verträglichkeit. Es gibt Medikamente, die machen Mundtrockenheit, die anderen haben manchmal Nebenwirkungen auf den Kreislauf. Und da muss man bei jedem einzelnen Patienten schauen, was passt zu ihm am besten und wird am besten vertragen.
Sagenschneider: Gibt es auch Fälle, in denen Sie zu dem Schluss kommen, ohne Medikamente geht es auch und sogar besser, weil eben diese Präparate zum Teil ja massive Nebenwirkungen haben bis hin zu Seh- und Konzentrationsstörungen, auch Verwirrtheitszustände zum Beispiel?
Hegerl: Ich selber, wenn ich eine schwere Depression hätte, für mich wäre gar keine Frage, ich würde mich mit einem Antidepressivum behandeln, gar keine Frage. Und das würde ich auch bei meinen Familienangehörigen, das kann ich auch nur jedem raten, das sind wirksame Medikamente, die haben Probleme, zum Beispiel, dass sie nicht sofort wirken wie ein Schmerzmittel, ein Beruhigungsmittel, sondern es dauert eben ein, zwei, drei Wochen, bis die Wirkung richtig zum Tragen kommt. Sie haben auch Nebenwirkungen, obwohl man bei den meisten Patienten ein Medikament findet, das wirkt und gut vertragen wird. Denn da hat man inzwischen eine große Erfahrung. Ich kenne viele Patienten, die sagen, ich nehme das Mittel und merke eigentlich nichts Negatives, nur dass die Depression weg ist.
Sagenschneider: Was ist denn nun, wenn das eintritt, was Sie befürchten, dass Patienten so verunsichert sind, dass sie ihre Medikamente, wie eben Prozac oder irgendwas Vergleichbares, wenn sie die absetzen? Was würde dann passieren?
Hegerl: Meine Sorge, und ich bin davon überzeugt, dass das kommen wird, ist, dass wir mehr Rückfälle haben in die Depression und auch mehr Suizide. Da gibt es eine Studie, die dazu sehr wichtige Daten geliefert hat aus dem letzen Jahr, hochrangig publizierte Studie. Und zwar wurde da beobachtet, wie durch die Warnungen vor den Antidepressiva, die es letztes Jahr gegeben hat auch, es zu einem Rückgang kam der Verschreibungen, und zwar speziell bei Kinder und Jugendlichen in den USA. Da gab es einen 20-prozentigen Rückgang. Und erstmals sei Jahrzehnten gab es genau in dieser Altersgruppe wieder einen deutlichen Anstieg der Suizidraten.
Sagenschneider: Weil man es abgesetzt hat?
Hegerl: Weil es einfach nicht verschrieben worden ist, weil die Eltern verunsichert waren, die Hausärzte verunsichert waren. Und die Studie zeigt, dass es mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit kein Zufall ist, sondern damit zusammenhängt, das ist das gleiche Jahr, an dem der Rückgang war, und die Zahl ging nach oben in den Suizidraten, die ist sehr deutlich. Und nichts Vergleichbares war in den ganzen letzten Jahrzehnten zu sehen. Und das beunruhigt mich deswegen, weil ich weiß, wie die depressiven Menschen, die sowieso immer das Gefühl haben, nichts hilft, dann noch mehr verunsichert werden, das Medikament absetzen und dann wieder in die Depression rutschen.
Sagenschneider: Herr Hegerl, ich danke Ihnen!
Hegerl: Vielleicht, ich möchte noch dazu sagen, wenn man so strenge Kriterien anlegt, wie man es jetzt hier macht bei den Antidepressiva, dann hätten wir auch keine Belege für die Psychotherapie. Die hätte man ja auch nicht, weil man hier ja auch die Kontrolle, die Placebokontrolle ja in diesem Sinne nicht hat. Das möchte ich auch noch hinzufügen. Da ist man etwas überstreng hier zurzeit. Vielen Dank!
Sagenschneider: Okay. Ich danke Ihnen, und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Hegerl: Danke schön!
Sagenschneider: Professor Ulrich Hegerl war das. Er ist Direktor der Klinik für Psychiatrie an der Universität Leipzig.
Wir sind nun verbunden mit Professor Ulrich Hegerl. Er ist Direktor der Klinik für Psychiatrie an der Universität Leipzig und auch Sprecher des bundesweiten Forschungsprojekts "Kompetenznetz Depression". Guten Morgen, Herr Hegerl!
Professor Ulrich Hegerl: Guten Morgen, Frau Sagenschneider!
Sagenschneider: Stimmt das, was wir gerade gehört haben, alles nur Placebo? Was ist von dieser Studie zu halten?
Hegerl: Ja, da muss man genau hingucken bei solchen Studien, denn das ist alles leider etwas kompliziert. Was die gefunden haben in dieser Studie, das ist zunächst mal, dass unter dem Antidepressivum die depressive Symptomatik deutlich besser geworden ist. Und die wurde auch signifikant besser als der Verlauf unter Placebo. Unter beiden hat es sich gebessert, aber signifikant deutlicher unter dem Antidepressivum. Aber die Differenz zwischen den beiden, die war nicht sehr groß. Und das ist sozusagen ihr Punkt. Bei beiden wird es besser, auch etwas mehr unter dem Antidepressivum, aber nicht viel mehr als unter Placebo. Das ist die korrekte Aussage. Und jetzt kann man sich fragen, warum das so ist.
Sagenschneider: Frage ich mal. Warum denn?
Hegerl: Da gibt es viele Gründe. Das eine ist, dass in diesen Studien ein immenser Aufwand gemacht wird. Das heißt, auch der, der ein Placebo bekommt, bekommt stundenlange Zuwendung. Der wird betreut, der bekommt Skalen vorgelegt, der wird beraten und aufgeklärt und aktiviert. Und das hat natürlich sehr viel Hoffnungsvermittelndes, und damit gibt es einen riesigen Placeboeffekt. Den hat man aber im täglichen Versorgungsgeschäft, beim Hausarzt oder so, natürlich nicht. Der hat vielleicht 20 Minuten, aber nicht zwei, drei Stunden und das jede Woche.
Sagenschneider: Aber dann könnte man ja sagen, geben wir den Leuten Placebo plus mehr Zuwendung, und dann hätten wir den gleichen Effekt und ersparen uns Nebenwirkungen, und was sonst noch Unschönes dabei ist.
Hegerl: Na, wenn Sie das Geld dafür haben, dass Sie bei einem Depressiven viele, viele Stunden ihn betreuen, das würde unser Gesundheitssystem zum Zusammenbruch bringen. Das können wir natürlich nicht leisten. Das ist ein Riesenaufwand, der da betrieben wird. Und das erklärt eben den großen Placeboeffekt.
Ein anderer Punkt ist, dass in diesen Studien Patienten eingeschlossen werden, die bereits mehrfach behandelt worden sind, und natürlich kommen nur die, die immer noch depressiv sind, das heißt nicht angesprochen haben auf das Medikament. Man hat in diesen Studien eine Auswahl der Patienten, die nicht gut ansprechen. Und deswegen sind die Ergebnisse manchmal auch nicht so, wie man es erwarten würde aufgrund der Erfahrung, die man im klinischen Alltag damit macht.
Ein anderer Punkt ist, dass diese Medikamente, was die Rückfallverhütung angeht, ihre Wirksamkeit sehr deutlich belegt haben. Da ist der Placebo-Verum-Unterschied sehr, sehr groß. Das Risiko, wenn man jetzt eine längerfristige Behandlung macht, wieder eine Depression zu kriegen, die kann man um 60, 70, 80 Prozent senken durch das Medikament gegenüber Placebo. Da ist der Effekt dann sehr, sehr stark.
Drum ist meine große Sorge bei dieser Studie, dass viele Patienten verunsichert werden, vielleicht auch Hausärzte, und die Medikamente dann nicht mehr eingenommen werden und abgesetzt werden und die Patienten wieder Depressionen kriegen und vielleicht auch wieder suizidal werden. Ich mach mir eine große Sorge über das öffentliche Echo auf diese Studie.
Sagenschneider: Welche Erklärung, Herr Hegerl, haben Sie denn dafür, dass die Studie ganz anders interpretiert wird, als Sie das gerade getan haben? Eine Interpretation, bei der am Ende ja übrig bleibt die Erkenntnis oder die Aussage, das bringt alles gar nicht so viel. Da fragt man sich ja, welches Interesse könnte dahinter stecken. Wäre es gerade umgekehrt, dann würde man sofort die Pharmaindustrie verdächtigen, aber so?
Hegerl: Ich möchte jetzt nicht hier dem Herrn Kirsch irgendwie unterstellen, weil er Psychologe ist, dass er die Medikamente schlecht reden will. Das sind im Grunde Details der Interpretation. Er hat ja auch nichts Falsches geschrieben. Das ist ja gar nicht der Punkt, sondern die Frage, was man draus macht. Man kann aus diesen Studien, in denen es um den Nachweis der Wirksamkeit geht, nicht rückschließen, wie groß ist der Nutzen im Versorgungsalltag. Das geht nicht, weil hier kommen noch andere Faktoren dazu. Wenn Sie beim Patienten, der zu mir kommt, wenn ich den behandele, dann gebe ich ein Antidepressivum. Und wenn ich nach zwei Wochen sehe, es wird nicht besser, was mache ich? Ich stelle um auf ein anderes. Und das ist in der Studie nämlich gar nicht berücksichtigt, dass man ja die Möglichkeit hat, wenn das eine nicht wirkt, ein anderen Wirkansatz zum Tragen zu bringen und damit erneut die Chance zu verbessern.
Insofern schaut der Versorgungsalltag ganz anders aus, als diese hochspezialisierten Studien, die nur die prinzipielle Wirksamkeit nachweisen wollen. Und die ist ja erbracht. Dem widerspricht ja auch der Herr Kirsch nicht, dass sie statistisch besser sind als Placebo, die Antidepressiva. Dem wird gar nicht widersprochen.
Sagenschneider: Und wie, Herr Hegerl, testet man überhaupt solche Medikamente und Stoffe? Wir reden ja hier von einem gigantischen Markt, und regelmäßig kommen neue Präparate hinzu. Wie finden Sie als Mediziner heraus, was wirkt und was für wen am besten ist?
Hegerl: Das ist die Aufgabe der Zulassungsbehörden. So ein Medikament wird ja nur zugelassen, wenn es Studien vorliegt, und dann müssen übrigens alle Studien vorgelegt werden. Da kann die Firma keine Studien zurückhalten, den Zulassungsbehörden müssen Sie alle vorlegen, auch die negativen. Und die schauen sich die Studien an, und wenn da die Hinweise sind, dass es Wirksambelege hat, das Medikament, und auch sonst Vorteile, dann wird es zugelassen. Sonst wird es ja gar nicht zugelassen.
Sagenschneider: Aber es muss ja dann auch zu dem entsprechenden Patienten passen?
Hegerl: Ganz genau. Bei der Auswahl, beim einzelnen Patienten, welches Antidepressivum ich nehme, das spielt viel eine Rolle, vor allem die Verträglichkeit. Es gibt Medikamente, die machen Mundtrockenheit, die anderen haben manchmal Nebenwirkungen auf den Kreislauf. Und da muss man bei jedem einzelnen Patienten schauen, was passt zu ihm am besten und wird am besten vertragen.
Sagenschneider: Gibt es auch Fälle, in denen Sie zu dem Schluss kommen, ohne Medikamente geht es auch und sogar besser, weil eben diese Präparate zum Teil ja massive Nebenwirkungen haben bis hin zu Seh- und Konzentrationsstörungen, auch Verwirrtheitszustände zum Beispiel?
Hegerl: Ich selber, wenn ich eine schwere Depression hätte, für mich wäre gar keine Frage, ich würde mich mit einem Antidepressivum behandeln, gar keine Frage. Und das würde ich auch bei meinen Familienangehörigen, das kann ich auch nur jedem raten, das sind wirksame Medikamente, die haben Probleme, zum Beispiel, dass sie nicht sofort wirken wie ein Schmerzmittel, ein Beruhigungsmittel, sondern es dauert eben ein, zwei, drei Wochen, bis die Wirkung richtig zum Tragen kommt. Sie haben auch Nebenwirkungen, obwohl man bei den meisten Patienten ein Medikament findet, das wirkt und gut vertragen wird. Denn da hat man inzwischen eine große Erfahrung. Ich kenne viele Patienten, die sagen, ich nehme das Mittel und merke eigentlich nichts Negatives, nur dass die Depression weg ist.
Sagenschneider: Was ist denn nun, wenn das eintritt, was Sie befürchten, dass Patienten so verunsichert sind, dass sie ihre Medikamente, wie eben Prozac oder irgendwas Vergleichbares, wenn sie die absetzen? Was würde dann passieren?
Hegerl: Meine Sorge, und ich bin davon überzeugt, dass das kommen wird, ist, dass wir mehr Rückfälle haben in die Depression und auch mehr Suizide. Da gibt es eine Studie, die dazu sehr wichtige Daten geliefert hat aus dem letzen Jahr, hochrangig publizierte Studie. Und zwar wurde da beobachtet, wie durch die Warnungen vor den Antidepressiva, die es letztes Jahr gegeben hat auch, es zu einem Rückgang kam der Verschreibungen, und zwar speziell bei Kinder und Jugendlichen in den USA. Da gab es einen 20-prozentigen Rückgang. Und erstmals sei Jahrzehnten gab es genau in dieser Altersgruppe wieder einen deutlichen Anstieg der Suizidraten.
Sagenschneider: Weil man es abgesetzt hat?
Hegerl: Weil es einfach nicht verschrieben worden ist, weil die Eltern verunsichert waren, die Hausärzte verunsichert waren. Und die Studie zeigt, dass es mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit kein Zufall ist, sondern damit zusammenhängt, das ist das gleiche Jahr, an dem der Rückgang war, und die Zahl ging nach oben in den Suizidraten, die ist sehr deutlich. Und nichts Vergleichbares war in den ganzen letzten Jahrzehnten zu sehen. Und das beunruhigt mich deswegen, weil ich weiß, wie die depressiven Menschen, die sowieso immer das Gefühl haben, nichts hilft, dann noch mehr verunsichert werden, das Medikament absetzen und dann wieder in die Depression rutschen.
Sagenschneider: Herr Hegerl, ich danke Ihnen!
Hegerl: Vielleicht, ich möchte noch dazu sagen, wenn man so strenge Kriterien anlegt, wie man es jetzt hier macht bei den Antidepressiva, dann hätten wir auch keine Belege für die Psychotherapie. Die hätte man ja auch nicht, weil man hier ja auch die Kontrolle, die Placebokontrolle ja in diesem Sinne nicht hat. Das möchte ich auch noch hinzufügen. Da ist man etwas überstreng hier zurzeit. Vielen Dank!
Sagenschneider: Okay. Ich danke Ihnen, und ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Hegerl: Danke schön!
Sagenschneider: Professor Ulrich Hegerl war das. Er ist Direktor der Klinik für Psychiatrie an der Universität Leipzig.