Depressionen erklären weder Terror noch Amokläufe
Depressionen oder "erweiterter Selbstmord" als Erklärung für Amokläufe und Attentate? Diese These hält der Leiter der psychiatrischen Uniklinik in Leipzig, Ulrich Hegerl, für falsch: "Depressionen führen nicht dazu, dass man aggressiv gegen andere wird."
Nach Ansicht des Direktors der psychiatrischen Klinik am Uniklinikum Leipzig und Vorstandsvorsitzenden der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Ulrich Hegerl, sind weder der Anschlag von Ansbach noch der Amoklauf von München mit einer Depression der Täter zu erklären.
"Depressionen führen nicht dazu, dass man aggressiv gegen andere wird", betont Hegerl. Es sei ja gerade das Kennzeichen einer Depression, dass die Betroffenen unter Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen litten. "Die geben sich selbst die Schuld, nicht anderen." Damit jemand aggressiv gegen andere würde, müssten andere Erkrankungen hinzukommen. "Ein Persönlichkeitsstörung zum Beispiel kann eine Rolle spielen. Aber eine Depression erklärt so etwas nicht."
Anschläge sind auch kein "erweiterter Selbstmord"
Hegerl zufolge passen die Anschläge auch nicht ins Bild eines erweiterten Suizids. Ein erweiterter Suizid liege dann vor, wenn ein Mensch aus Fürsorge einen nahen Angehörigen, oft die Kinder, mit in den Tod nehme. Das sei mit dem, was in München oder Ansbach passiert sei, überhaupt nicht zu vergleichen: "In Ansbach ist es eine Terrortat, in München war es ein Amoklauf. Hier geht es primär darum, andere Menschen zu töten und nicht, wie beim erweiterten Suizid, eher aus altruistischen Motiven so eine schreckliche Tat zu tun."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Es ist nur wenige Tage her, seit erst in Würzburg, dann in München, dann in Ansbach Anschläge verübt worden sind mit Toten und Verletzten, und verletzt an der Seele sollen auch die Täter gewesen sein und unter Depressionen gelitten haben. Und wir erinnern uns zudem an den Piloten der Germanwings-Maschine, ebenfalls depressiv, der eine Maschine mit 130 Passagieren abstürzen ließ. Was hat eine seelische Krankheit, was haben Depressionen mit solchen Taten zu tun? Professor Ulrich Hegerl weiß das, er ist Direktor der Klinik für Psychiatrie der Universität Leipzig und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, und er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!
Ulrich Hegerl: Ja, guten Morgen!
Erweiterter Selbstmord geschieht aus Fürsorge
von Billerbeck: Ein 27-jähriger Syrer, wie vorgestern Abend in Ansbach, der am Eingang eines Musikfestes einen Sprengsatz mit Nägeln darin zündet, selbst dabei ums Leben kommt, 15 Menschen teils schwer verletzt, ist es das, was man bei der Polizei einen erweiterten Selbstmord nennt?
Hegerl: Nein, genau genommen – in der Medizin – spricht man von erweitertem Selbstmord, wenn was ganz anderes vorliegt. Das ist meistens etwas, wenn ein Mensch sich das Leben möchte aus Fürsorge – so komisch und so grauenhaft das klingt –, einen nahen Angehörigen, oft die Kinder mit in den Tod nimmt, um sie nicht in diesem Elend zurückzulassen. Das ist, was man im Rahmen der Depression als erweiterten Suizid versteht, was Gott sei Dank extrem selten vorkommt und eben Folge dieser völligen Realitätsverkennung im Rahmen einer schweren Depression ist.
Das gehört mit zu dem Tragischsten, was man erleben kann – wenn eine Mutter so was zum Beispiel tut, die ja ihre Kinder liebt. Das ist überhaupt nicht zu vergleichen mit dem, was hier in München passiert ist oder in Ansbach. In Ansbach ist es eine Terrortat, in München war es ein Amoklauf. Hier geht es primär darum, andere Menschen zu töten und nicht, wie beim erweiterten Suizid, eher aus altruistischen Motiven so eine schreckliche Tat zu tun.
Depressive sind nicht aggressiv gegen andere
von Billerbeck: Trotzdem, ich hab's erwähnt, der Pilot der Germanwings-Maschine beispielsweise, der war auch depressiv und hat die Maschine abstürzen lassen und hat 130 Menschen mit in den Tod gerissen. Wie schätzen Sie das ein, welche Rolle spielt da die Erkrankung?
Hegerl: Ich denke, die spielt da keine Rolle. Es kann sein, dass er Depressionen hatte im Vorfeld, aber Depressionen führen nicht dazu, dass man aggressiv gegen andere wird. Es ist ja ein Kennzeichen der Erkrankung Depression, dass die Menschen unter Schuldgefühlen leiden, das ist mit ein Diagnosemerkmal. Sie leiden unter Selbstvorwürfen, die geben sich selbst die Schuld, nicht anderen.
Und deswegen hat auch diese Germanwings-Katastrophe mit einer Depression direkt, unmittelbar nichts zu tun. Das ist damals schon kritisiert worden, und da muss was anderes dazukommen, andere Störungen, andere Erkrankungen – eine Persönlichkeitsstörung zum Beispiel kann eine Rolle spielen, aber eine Depression erklärt so was nicht.
von Billerbeck: Gibt es denn Anzeichen, die Sie und Ihre Kollegen konstatieren können, die auf Gewalt gegen sich und auch auf andere hindeuten?
Hegerl: Erkrankungen meinen Sie?
von Billerbeck: Anzeichen dieser Erkrankung, dass man also irgendeine Art von …
Hegerl: Bei Depressionen kommt sie nicht vor, dass man aggressiv gegen andere wird, das können in keiner Weise Depressionen … das habe ich schon erklärt …
von Billerbeck: Ist klar.
Möglicherweise spielten Drogenprobleme eine Rolle
Hegerl: In Ansbach ist ja auch die Diagnose Depression, soweit ich weiß, nicht ins Spiel gebracht worden. Es gibt ja viele, viele andere psychische Erkrankungen. Es gibt Essstörungen, es gibt schizophrene Erkrankungen, es gibt Drogenabhängigkeit, es gibt Angststörungen, es gibt viele verschiedene Diagnosen in der Psychiatrie, und das alles ist nicht ein großer Topf, wo alles mehr oder weniger gleich ist, es sind völlig unterschiedliche Erkrankungen.
In Verbindung zum Beispiel mit Drogenmissbrauch ist es nicht selten, dass es zu einer grotesken Realitätsverkennung kommt und in diesem Rahmen dann auch Aggressionen gegen Dritte gestartet werden. Das ist so ein Beispiel, was eine Rolle gespielt haben könnte, zum Beispiel in Ansbach, ich weiß es nicht, aber man konnte in den Zeitungen, dass hier auch Drogenprobleme bestanden haben.
von Billerbeck: Sie haben die Zeitungen erwähnt und die Medien auch in so einem Ton, dass da immer das Wort Depression auftaucht und die Berichterstattung da einfach eine Menge Unsinn offenbar liefert der Öffentlichkeit. Welche Rolle spielt sie denn auch für junge Menschen, die zu Nachahmern werden könnten?
Hegerl: Aus dem Bereich Selbsttötungen und der Suizide kennt man den sogenannten "Werther-Effekt". Damit meint man, dass Menschen, wenn eine berühmte Person oder auch eine Romanfigur wie im Fall des Romans von Goethe, "Das Leiden des jungen Werther", wenn der sich das Leben nimmt in einer bestimmten Weise und sie sich damit identifizieren, dass das das Risiko von Nachahmungstaten erhöht. Das ist damals passiert, und junge Männer haben sich wie die Romanfigur – in dem Roman von Goethe – dann auch mit einer Pistole damals erschossen. Da wurde dann dieser Begriff später gebildet der Werther-Effekt. Auch nach dem Suizid von Robert Enke, der Eisenbahnsuizid, gab es eine Zunahme von Eisenbahnsuiziden...
von Billerbeck: ... der Fußballer...
Hegerl: Genau, das war der Nationalfußballtorwart in Deutschland. Und das zeigt, dass es durchaus Nachahmungsrisiko gibt, vor allem was Suizide angeht. Das mag es auch bei Amokläufen geben. Ob es das bei Terroranschlägen gibt, das vermag ich nicht zu beurteilen.
von Billerbeck: Bei Amokläufen aber ja.
Hegerl: Bei Amokläufen kann es durchaus sein, dass Menschen, die kurz davorstehen, dann diesen letzten schrecklichen Schritt tun.
Das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit wächst
von Billerbeck: Nun erleben wir ja alle so ein Gefühl der Bedrohung in der Zeit, wenn solche Anschläge, Attentate, wie sie jetzt passiert sind, so gehäuft in so kurzer Zeit passieren. Wie kann man denn damit umgehen? Genügt es, wenn man die Fakten kennt und mit Wahrscheinlichkeiten argumentiert und sagt, die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert, ist so gering – kann man damit der Angst entgegenwirken?
Hegerl: Ich denke, da sind die Menschen unterschiedlich. Also ich selber kann das schon. Wenn ich weiß, das Risiko, vom Auto überfahren zu werden, ist ungleich größer als durch einen Terroranschlag hier in Deutschland ums Leben zu kommen, hilft mir das schon, und ich gehe dann einfach mit der üblichen Hoffnung, mit der wir jeden Morgen aufstehen und dann in den Lift steigen und dann ins Auto steigen, gehe ich weiter meinen Weg. Also mich beeinträchtigt das persönlich jetzt nicht.
Vielleicht ist man mal etwas vorsichtiger, wenn man in eine Situation kommt – ein Mitarbeiter hat vor Kurzem berichtet, dass er im Zug saß, und da war ein ausländisch aussehender Mitreisender, der hatte eine Tasche, ging dann auf die Toilette, und da kam ihm auch der Gedanke, ja, da könnte vielleicht eine Bombe drin sein, und da ging dann, glaube ich, auch noch ein Handy los in der Tasche. Solche Momente mag es geben, wo man vorsichtiger ist, vielleicht auch unsicherer und wo auch manchmal etwas Angst hochkommt, aber meine Hoffnung ist, dass die Menschen, die ja die Gabe zu Hoffnung haben, wieder in ihr normales Leben zurückfinden.
Es ist ja auch so, wenn man mit dem Tod, auch mit dem völlig unerwarteten Tod konfrontiert wird, dann bringt es einen ja zur Erkenntnis, dass wir ja letztendlich alle sterben werden – das werden wir. Und manche Menschen können daraus auch Kräfte schöpfen: Sie sind dankbarer für das, was sie haben, manche leben bewusster, und es gibt Menschen, die ganz bewusst jeden Tag sich klarmachen, dass sie eigentlich nur Gast hier auf der Erde sind, und erleben das als eine Intensivierung ihres eigenen Lebens. Das ist jetzt eine philosophische Haltung, aber ich kenne Menschen, die so leben und so denken.
von Billerbeck: Professor Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Uni Leipzig und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Mit derlei philosophischen Worten beenden wir diese Stunde hier gern. Danke, Herr Hegerl!
Hegerl: Ja, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.